Ich war ein Berliner

Das Bürgeramt hatte ich mir aufgrund von Horrorberichten ganz anders vorgestellt: lange Flure unter Neonlicht, gereizte Menschenmassen, endloses Warten, Scherereien … Ich betrat das Hochhaus und war schon mitten im Wartesaal, er war rundum verglast: so viel Transparenz, und da saßen sie nun oder standen oder tigerten herum. Ihre Blicke gingen zu zwei großen Tafeln, auf denen in rascher Folge Nummern aufleuchteten, und dann verschwanden die Bürger, die anderswo jetzt Kunden heißen, in den zwei Sälen dahinter, kamen wieder heraus, Papiere in den Händen – eine gut geölte bürokratische Fabrik.

Ich hatte mir via Internet einen Termin für neun Uhr dreißig besorgt. Um neun Uhr vierunddreißig wurde meine Nummer angezeigt - ich eilte mit meinen Dokumenten zu dem bezeichneten Platz. Eine reizende, muntere, um mich besorgt scheinende junge Angestellte empfing mich, hinter ihrem Schreibtisch aufgeräumt lächelnd und wusste schon Bescheid über mein Begehren: Sie wollen sich also in Berlin anmelden?

Anfangs ging es rasch voran. Aber dann schien es ein Problem zu geben: Sagen Sie, haben Sie hier noch eine Wohnung? Vielleicht in der Kantstraße? – Durchaus nicht … - Nun, Zufälle gibt’s: Da ist ein Abendschön, ein Arno, mit dem gleichen Geburtstag wie Sie …

Es stellte sich heraus, mein Doppelgänger war auch noch wie ich in N. geboren. Solche Zufälle gibt es aber nicht! Es war übrigens nicht die Kantstraße, es war die K….straße, ich hatte mich verhört. Jetzt war die Sache klar: Da hatte ich tatsächlich mal gewohnt, vier Jahre lang, mit Nebenwohnsitz gemeldet, um den bundesdeutschen Pass behalten zu können. Jahrzehnte war das her. - Sie sind noch immer da angemeldet. Gut, dass Sie mal vorbeischauen, sagte die junge Frau lächelnd.

Seit wann ich da nicht mehr lebte? – Seit März achtundsiebzig. – Ach Gott, da war ich noch nicht mal auf der Welt. – Wir sahen uns an, sie die sympathische Junge, ich der … na ja, man sieht mir nicht so genau an, wie alt ich wirklich bin. Da hatte ich mich vierunddreißig Jahre lang ordnungsgemäß abgemeldet geglaubt, war es aber infolge irgendeiner Nachlässigkeit, eines Amtes oder meiner Person, nicht gewesen. Keinen Koffer mehr in der Stadt, dafür einen Eintrag im Melderegister - unsichtbare, mir unbewusste Fäden verbanden mich weiterhin. Und jetzt war ich wieder da und erhielt in derselben Minute Abmeldung damals und Wiederanmeldung heute schriftlich bestätigt. So wie es in schlechten Romanen am Schluss heißt: In der gleichen Stunde, als Graf Robert im Kampf fiel, gebar ihm Berta einen kräftigen Knaben …

Ich war mal Westberliner, jetzt bin ich Nordberliner, wenn auch vorerst wieder nur Nebenbeiberliner.
 



 
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