Ich werde Dir nie mehr wehtun

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Flitzi

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Ich werde Dir nie mehr wehtun

Im Sommer zogen Jan und seine Eltern in ihr neues Haus am Rande der Stadt. Das Haus war groß und gemütlich. Außerdem gab es einen riesigen Garten in dessen Mitte ein kleiner Apfelbaum stand.
Den ganzen Sommer über war tolles Wetter. Die Sonne schien, es war heiß und Jan konnte jeden Tag in dem neuen Garten verbringen.
Am liebsten nahm er sein Dreirad und fuhr kreuz und quer über den Rasen. Seine Mutter sah ihm immer zu und sagte: „Pass auf, dass Du nicht vor den Baum fährst!“.
Jan trat in seine Pedalen und sauste weiter im Garten umher. Wenn er eine Pause machte, setzte er sich jedes Mal unter den kleinen grünen Apfelbaum, der ihm mit seinen Blättern viel Schatten spendete.
Selbst zum Mittagszeit, wenn die Sonne glühendheiß auf den Rasen schien, war es unter dem Baum angenehm kühl. So wurde dieser Ort schnell Jans Lieblingsplatz im Garten.
Eines Tages langweilte sich Jan fürchterlich. Seine Eltern hatten zu tun und alle seine Freunde waren in den Urlaub gefahren.
„Könnt Ihr nicht mit mir spielen?“, fragte er seine Eltern. Diese schüttelten jedoch nur beschäftigt den Kopf.
Jan nahm sein Dreirad und fuhr wieder umher. An diesem Tag machte es ihm aber keinen Spaß. Seine Mutter blickte kurz von ihrer Arbeit auf und rief ihm wieder zu, er solle auf den Baum aufpassen. Da kam ihm eine Idee.
Er drehte den Lenker und steuerte Richtung Apfelbaum. Zuerst fuhr er einige große Kreise um den grünen Baum, dann ein paar kleinere und anschließend steuerte er auf das Ende der Wiese zu. Dort verweilte er einen kleinen Augenblick, holte tief Luft und trat dann so fest wie nie zuvor in die Pedalen seines Dreirades. Er bewegte sich direkt auf den Apfelbaum zu. Diesmal wich er jedoch nicht im letzten Moment aus. Diesmal fuhr er und fuhr bis es knallte.

Jans Mutter sprang vom Tisch auf und schrie: „Jan! Ist Dir was passiert?“ Sie eilte herbei und hob Jan, der neben seinem Dreirad im Rasen lag, auf.
„Ist nicht so schlimm!“, antwortete Jan, grinste und fragte sie anschließend: „Spielen wir jetzt was zusammen?“.
Seine Mutter überlegte kurz und wurde dann ganz ernst.
„Jan! Du darfst nicht aus Spaß gegen den Baum fahren. Du könntest Dich verletzen und außerdem tust Du dem Apfelbaum weh. Der Baum ist genau wie Du ein Lebewesen!“
Anschließend nahm sie sich Zeit, um mit ihrem Sohn zu spielen.
Diesen Abend konnte Jan schlecht einschlafen. Er dachte über die Worte seiner Mutter nach. Hatte er dem Baum wirklich wehgetan? Er war sehr schnell und kräftig gegen den Stamm gesaust. Bestimmt hatte er ihn verletzt. Jan beschloss, gleich am nächsten Morgen nachzusehen, wie es dem Apfelbaum ging und schlief ein.
Am nächsten Morgen regnete es jedoch so stark, dass Jan nicht in den Garten gehen konnte. Auch die darauf folgenden Tage war das Wetter schlecht. Es regnete, stürmte und es wurde kälter.
Wegen dem ganzen Matsch und Dreck durfte Jan nicht auf dem Rasen spielen und so vergaß er den Baum bis zu dem Tag, als er aus dem Wohnzimmerfenster guckte.
Jan erschrak als er den Apfelbaum sah. Die meisten Früchte, die er zuvor so fröhlich getragen hatte, waren in die Wiese gefallen und auch einige seiner Blätter lagen im Gras verstreut. Jan fiel auf, dass die Blätter nicht mehr so frisch und grün wie im Sommer aussahen. Sie hatten ihre frische Farbe in ein mattes Rot, Gelb, oder sogar Braun verwandelt. Es gab keinen Zweifel für Jan: irgendetwas stimmte mit dem Apfelbaum nicht.
Die darauf folgenden Tage beobachtete er den Baum weiterhin durch das Wohnzimmerfenster. Mit Schrecken sah Jan, dass immer mehr Blätter zu Boden segelten. Von der Stärke, mit der der Baum im Sommer seine grünen Blätter gegen den Wind verteidigt und festgehalten hatte, war nichts mehr zu spüren. Er war so schwach geworden, dass bei der kleinsten Sturmböe haufenweise Blätter von den Ästen flogen.
Einige Tage später konnte Jan bereits kahle Stellen in der Baumkrone entdecken. Erst ein paar, dann mehrere und dann waren es nur noch ein paar Blätter, die vereinzelt an den Ästen wippten und auf den nächsten Windstoß warteten.
Jan wurde traurig. Für ihn war es ganz klar: der Baum war krank. Und er war schuld daran.
Jan überlegte was er tun konnte.
Zwischenzeitlich wurde es kälter. Der Apfelbaum stand nackt und krank im Garten herum und Jan machte sich Sorgen, dass auch bald der Stamm und die Äste in sich zusammensacken könnten. Er musste etwas unternehmen. Da er schuld daran war, dass der Baum krank geworden war, musste er ihm auch helfen, wieder gesund zu werden.
Zum Arzt konnte er den Baum nicht bringen. Dafür war er zu groß und schwer und er hätte kaum in das Auto seiner Eltern gepasst.
Also dachte Jan nach, was seine Mutter machen würde, wenn er krank wäre.
Da es mittlerweile angefangen hatte zu schneien, kam Jan eine Idee. Der Baum frierte bestimmt, da er ganz ohne seine schützenden Blätter im Schneesturm stand. Jan ging hinaus in den Garten, nahm seinen Lieblingsschal und wickelte ihn um den kleinen Baumstamm. Dann steckte er seine Handschuhe und seine Mütze in ein paar tief hängende Äste und sagte dem Baum: „Die Sachen sollen Dich wärmen, damit es Dir bald besser geht.“
Am nächsten Morgen sah er, dass der Baum die Kleidungsstücke abgeschüttelt hatte und dachte sich: „Vielleicht hat ihn die Wolle gejuckt.“ Er sammelte den Schal, die Handschuhe und die Mütze ein und brachte ihm stattdessen eine warme Wärmflasche.
Am nächsten Tag brachte er ihm eine Tasse heißen Tee, danach eine Wolldecke, dann eine Wärmelampe, dann seinen Kuschelbären. Den ganzen Winter über brachte er dem Apfelbaum jeden Tag etwas anderes nach draußen, damit es ihm besser ging. Aber nichts passierte.
Traurig ging Jan zu seiner Mutter und fragte sie um Hilfe:
„Mama, was kann man tun, wenn man jemandem weh getan hat?“
Seine Mutter überlegte kurz und sagte dann: „Als erstes sollte man sich entschuldigen!“
Sofort lief Jan nach draußen in den Garten, ging zu dem Apfelbaum und flüsterte Richtung Stamm: „Tut mir leid, dass ich Dir weh getan habe!“. Dann umarmte er ihn und ging wieder ins Haus.
Die nächsten Tage wartete Jan ab, ob es dem Baum durch die Entschuldigung besser ging.
Er wartete und wartete. Jeden Morgen lief er nach dem Aufstehen zum Wohnzimmerfenster und schaute hinaus und jeden Morgen sah er den Baum kahl und verschneit im Garten stehen.
Doch eines Tages blinzelte die Sonne durch die Wolken. Langsam wurde es wärmer und der Schnee schmolz dahin.
Als Jan wieder aus dem Fenster sah, glaubte er etwas entdeckt zu haben. Er war sich nicht sicher und so stürmte er in den Garten um genauer nachzusehen.
Und tatsächlich: an den kleinen braunen Ästen waren winzige Knospen gewachsen. Jan freute sich und gab dem Baum einen Kuss.
Die nächsten Tage entdeckte er immer mehr Knospen, die immer größer und größer wurden und aus denen anschließend neue Blätter hervorkamen.
Jan jubelte und war überglücklich, als er sah, dass der Baum wieder gesund wurde. Er erzählte ihm, wie viel Spaß sie im Frühling und im Sommer haben würden. Dann schmiegte er sich ganz dicht an den Stamm und schwor ihm: „…Und ich werde Dir nie mehr wehtun. Versprochen!“
 

anemone

Mitglied
Hallo Flitzi,

eine sehr nette kleine Geschichte.
Irgendwo steht frierte, statt fror.
Es hat mir Spaß gemacht sie zu lesen.

liebe Grüße
anemone
 



 
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