Ich werde Genosse

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Da ist ein Brief gekommen – von der Genossenschaft! Damit habe ich nicht mehr gerechnet. Ich eile treppauf in meine derzeitige Klause und öffne hastig, schneller atmend den Umschlag mit dem Obstmesser. Sich nur nicht schneiden jetzt … Also? Hurra, sie können sich vorstellen, mich als Mitglied aufzunehmen! Die erste Hürde genommen, das spezielle Objekt meines Verlangens rückt auf einmal aus großer, vager Distanz in erreichbare Nähe.

Zuvor soll ich einige Unterlagen beibringen. Aber gern, ich sitze schon am Schreibtisch, kopiere wie am Fließband eilig aus meinen Papieren, was sonst nur Steuerberater und Finanzamt sehen dürfen. Dann alles in einen Umschlag gesteckt und zum Postamt an der nächsten Ecke – das aber für heute schon geschlossen ist. Also fahre ich mit der U-Bahn zur Genossenschaft, werfe meine allergeheimsten Daten, frisch und sauber ausgedruckt, in den Hausbriefkasten. Morgen sollen sie auf dem für mich entscheidenden Schreibtisch liegen.

Und so hurtig geht es weiter. Schon einen Tag später signalisiert mir eine E-Mail, die Genossenschaft will mich persönlich sprechen. Wir vereinbaren telefonisch einen Termin … Dazu kleide ich mich eine Spur weniger nachlässig als üblich. An der guten Hose, die ich sonst angezogen hätte, ist leider die Naht ein kleines Stück aufgerissen – geht nicht. Ich entscheide mich für ein neues Beinkleid, das ich erstmals trage. Betrachte mich im Spiegel – ich wirke ein bisschen jägermäßig. Halali, bin ja auch auf einer Jagd … Den Hut lasse ich heute lieber weg.

Ich warte in einem stillen Vorraum. Gediegene Atmosphäre, doch nicht zu gediegen, hier ist man ja unter Genossen. Dann begrüßt mich eine Sachbearbeiterin, halb so alt wie ich, zurückhaltend freundlich. Bewundernswert, wie sie das ausbalanciert. Sie komplimentiert mich in ihr Zimmer, lässt mich vorangehen, zeigt auf den Besucherstuhl. Ich erwarte, noch bevor ich mich setze, dass ich zum Ablegen aufgefordert werde. Stattdessen ein bestürzter Ausruf: „Was ist denn mit ihrer Jacke geschehen?!“ Ich blicke an mir herunter. „Nein, hinten!“ Also sehe ich mir die Rückseite selbst mal an - vielleicht zum ersten Mal seit Jahren?

Ich versuche den Schaden zu bagatellisieren und murmele etwas wie Muss-eben-in-der U-Bahn-passiert-sein … Das ist wenig glaubwürdig. Das Gewebe da unten ist großflächig zerrissen, als ob einer vor langer Zeit mal durchs Unterholz geflüchtet oder an einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben wäre. Schuld war wohl der Rucksack, der dort auf so vielen Gängen den Stoff durchgescheuert hat.

Die Jacke spielt weiter keine Rolle. Die Verhandlungen kommen gut voran. Dann eine kleine Klippe, die wir beide wiederum in guter Haltung meistern. Sie will meine Unterlagen noch einmal kopieren und mir die übersandten Seiten zurückgeben? „Sie haben Schmierpapier benutzt …“ sagt sie sanft. Nachher frage ich mich, ob sie all das auf den Rückseiten gelesen hat, den ausgedruckten E-Mail-Verkehr eines Winters, die Mängelrügen, den Knatsch mit Nachbarn, die Ratschläge meines Anwalts … Das war alles abgehakt und das Papier Rohstoff, um darauf neue Texte Schöner Literatur aufzunehmen. Schöne Bescherung …

So trottelig einer wie ich sich auch anstellt, er kann immer noch Mitglied einer Genossenschaft werden: Trost meiner alten Tage.
 



 
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