Ideale/Liebe/Medizin

Sektion
"Gibt es ihn, den wahren Arzt im Lande?"

Epidemien I

Ich erdenke eine Figur. Augenaufschlag. Desorientierung. Ein Mann: Der Nacken schmerzt ihm, er spürt ein leichtes Stechen am Hinterkopf. Der Schlaf der letzten Nacht war zermürbend, Alpdruck laß nach. Nebulöse Gestalten schwanken durchs Gedächtnis, Bedrohlichkeiten. Langsames Fußfassen in einer fremden Umgebung, in der man sich erst binnen Minuten wieder zurechtfindet. "Es war ja nur ein Traum", sagt er sich, nichts weiter. Dann der Blick nach links. Der Digitalwecker zeigt 5.11.1993, achtzehn Uhr fünfzehn.
Draußen ist es kalt. Ein feiner Regen hängt in der Luft, dem meine Figur nahezu hilflos ausgeliefert ist. Beim Gehen schleicht sich die Feuchtigkeit unter dem Regenschirm hindurch und bildet auf der Haut einen fettigen, schmierigen Film. Die Brille, mit feinen Wassertröpfchen überzogen, zerreißt die Umgebung des Mannes in bunte Schlieren. Es ist schon relativ dunkel, aber die vielen Autos und leuchtenden Werbeschilder bewirken ein buntes, sich drehendes Feuerwerk vor seinen Augen. Diese Optik wie durch ein Kaleidoskop schürt die Nervosität und Mißstimmung des Mannes. Die unwirtliche Umgebung fördert sein Unbehagen, war er doch an die schwüle und warme Luft tropischer Wälder gewöhnt. Wütend blickt er gegen den wolkigen Horizont. "Dieses verdammte Regenloch", hört man ihn fluchen. Unsanft reißt er sich die Brille vom Haupt, will sie putzen. Mit einem Ärmel seines Pullovers reibt er das rechte Brillenglas. Der ölig-feuchte Film ist hartnäckig. Knack. Die Brille bricht in der Mitte durch. Wütend steckt er die zwei Hälften der Brille in seine Manteltasche und stapft in den nächsten Schreibwarenladen. "Eine Tageszeitung und eine Packung 'Tesa-Film' bitte".

Mit seiner zusammengeklebten Brille kommt er sich etwas dämlich vor, doch er schert sich schon lange nicht mehr um das Gerede seiner Umwelt. Zuviele Häßlichkeiten, hatte er erlebt, wobei sich angesichts allen Elends seine Eitelkeit relativierte. Hauptsache die Brille funktioniert. Er blättert, während er seinen Schritt verlangsamt, in seiner Zeitung und durchsucht sie nach Stellenanzeigen. "Hilfskraft in einer Fleischwarenfachabteilung" findet er dort eine Anzeige, das hatte er mal als Jugendlicher gemacht. In der Metzgerei trug der hier eingeführte Mann, heute ist er Arzt, seinen ersten weißen Kittel, damals war das Weiß beschmiert mit Fett und Schinkensäften. Der Arzt braucht dringend eine Arbeit. Seit unser Protagonist sich in Deutschland aufhält, seit nunmehr einem Jahr, fliest kein Geld mehr auf sein Konto. Er zehrt von seinen Ersparnissen, hatte er doch während seines Aufenthaltes in Lateinamerika wenig Geld ausgegeben. Die vorgestellte Person hat die letzten zwanzig Jahre in Bolivien praktiziert, gelebt und geliebt. Jetzt ist der Mann wieder in seiner Heimat, möchte sich neu orientieren, wieder an Boden gewinnen auf dem ihm fremd gewordenen europäischen Kontinent. Lange war er mit dem Gedanken schwanger gegangen nach Deutschland zurückzukehren, oft hatte er der Versuchung wiederstanden alles hinzuwerfen, doch hatte ihn irgendeine Macht immer wieder im Lande Bolivars zurückgehalten. Mehrere Male stand der Arzt mit gepackten Koffern am Flughafen von La Paz, hatte sich jedoch immer gegen eine endgültige Ausreise entschieden. Vor ungefähr einem Jahr reiste er dann doch. Endgültig. Eines ließ er zurück in Bolivien: seine Träume und Visionen. Das Flugzeug startete am 7.08.1992. Der Heimkehrer blickte hinab auf das regenverhangene Bolivien. Endlich hatte er sich diesem Land entziehen können, hatte sich zum zweiten Mal in seinem Leben emanzipiert. Schon begann sein Haar zu ergrauen. Gelangweilt laß er die Sicherheitsinstruktionen. Er fragte sich, ob er, falls er jetzt durch einen Absturz stürbe, zufrieden mit seinem Leben sein könne. Vielleicht. Gab es noch Aufgaben für ihn? Wer weis? Im Flugzeug hatte damals neben ihm eine junge Dame Platz genommen. Sie lächelten sich an. Ihr interessantes, etwas maskulines Gesicht barg zwei große, braune Augen, die schmalen Lippen wirkten wie aufeinandergeklebt. Die Haare zu einem Kurzhaarschnitt frisiert, sah die gescheitelte Frau durchaus ansprechend aus.

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