Im Altenheim

Im Altenheim

„Morgen!“, tönt es in die Stille. Wie ein Peitschenhieb bricht grelles Licht in das Dunkel.
„Muß ich aufsteh´n?“ fragt Frau K. blinzelnd.
„Ja.“, antwortet die Schwester und platziert den Rollstuhl vor das Bett. Sie schlägt die Bettdecke zurück.
„Mir is´ kalt.“
Sie dreht sie schwungvoll auf die Bettkante.
„Oh weh, mir is´ schwindelig.“
Sie greift ihr unter die Arme und hebt sie hoch.
„Oh weh, ich falle!“
„Sie fallen nicht!“, brummt die Schwester und setzt sie in den Rollstuhl. Sie schiebt Frau K. ins Bad.
„Mir is´ kalt!“
Vor der Toilette zieht sie die Bremsen fest.
„Was muß ich? – Muß ich aufsteh´n?“
„Ja!“, erwidert die Schwester und hilft ihr, sich aufzurichten.
„Oh weh, ich falle!“
Während sich Frau K. am Rollstuhl und dem Toilettengriff festhält, zieht die Schwester ihr das Nachthemd hoch und die Netzhose runter.
„Oh weh, ich falle!“
Die triefendnasse Einlage wandert in den Mülleimer. „Sie können sich setzen!“, sagt die Schwester, auf die Toilette weisend. Sie läßt heißes Wasser mit etwas Flüssigseife in das Waschbecken.
„Mir is´ kalt.“
Die Schwester atmet einmal tief durch und wendet sich der Frau K. zu. Sie versucht, ihr das Nachthemd auszuziehen.
„Oh nee, muß das sein? Mir is´ kalt.“, ruft Frau K. entsetzt. Tatterig klammern sich ihre Finger ans Nachthemd, um es am welken Leib zu halten.
„Jeden Morgen das gleiche Theater!“, schimpft die Schwester genervt. Sie ist stärker.
„Bestie!“, zischt Frau K. ihr ins Ohr.
Scheinbar unbeeindruckt landet das Nachthemd auf einem Bügel.
„Zieh´n Sie mir doch was an, Schwester!“
Ein Lappen voll heißem Wasser legt sich auf die Brust von Frau K.
„Das is´ kalt! Ich bin doch nich´ schmutzig!“, wehrt sie ab. Sie drückt ihre knochigen Ärmchen an den Körper.
Die Schwester zuckt mit den Schultern und der heiße Lappen landet auf dem Rücken.
„Oh nee! Lassen Sie doch!“, schreit Frau K. Sie lehnt ihren altersgebeugten Körper nach hinten. Vergeblich - der Rücken wird mühelos von der Schwester gewaschen und abgetrocknet. „Bestie!“
Die Schwester beginnt sie anzukleiden: Unterhemd,
- „Oh je, ich mache Pipi.“ - Pullover, - „Ich mache
Pipi, Schwester!“ - Perücke, - „Ich hab´ Pipi gemacht, Schwester!“
„Wahnsinnig interessant, Frau K.!“
Eine neue Netzhose, Schlüpfer, Hose, Strümpfe und Schuhe werden angelegt.
„Aufstehen!“
„Was muß ich?“
„Aufstehen!“ Die Schwester hilft ihr.
„Oh weh, ich falle.“ Während Frau K. steht, legt sie ihr eine trockene Einlage um und richtet die Sachen.
„Setzen Sie sich in den Rollstuhl!“ Die Zahnprothese wird eingesetzt und der Mund gespült. Aufatmend rollt die Schwester Frau K. in den Gemeinschaftsraum.
„Is´ ja noch keiner da!“, stellt Frau K. enttäuscht fest. „Bin ich allein?! – Mir is´ kalt.“
Kälte – nichts zum Heizen – Einsamkeit – die Zeit
hat sich tief in ihr Gesicht gekerbt. Die Geschichte
hat sie gezeichnet, die Weltgeschichte ist verknüpft mit ihrem Schicksal. Frau K. wurde 1907 geboren und katholisch erzogen. Sie hat zwei Weltkriege mit- und überlebt, sich verliebt und geheiratet. Bei der Geburt des Sohnes wäre sie fast gestorben. Sie haben gekämpft und verloren: der Vater, gefallen im 1. Krieg – die Mutter und der Ehemann, umgekommen im 2. Krieg. Sie selbst entkam nur knapp dem KZ, weil sie sich weigerte, in der Waffenfabrik zu arbeiten. Ausgebombt und ausgezehrt irrte sie mit zwei Kindern am Rockzipfel herum. Sie hat gekämpft und verloren - immer im Gebet: „Mutter Gottes hilf, ich weiß nicht, was kommt!“
Eine gekrümmte Gestalt in einem Rollstuhl mit
traurig-verlorenem Blick sitzt im Gemeinschaftsraum und ruft den ganzen Tag: „Mein Bett ist naß!“ – „Schwester, ich hab in die Hose gemacht!“ – „Mein Bett ist naß, Schwester!“ – vor, während und nach den Mahlzeiten.
Sie wird als erste abends ins Bett gebracht. Auch hier wehrt sie sich, als die Schwester sie ausziehen will.
„Sie Schwein!“, beschimpft Frau K. diese.
Die Einlage ist voll dünnem Kot. Frau K. bekommt sie zu fassen und schlägt damit nach der Schwester. Halb nackend sitzt Frau K. schließlich da. Ein stinkender verschrumpelter Körper.
„Tun Sie mir doch was an, Schwester!“
‚Würd´ ich liebend gern‘, denkt diese.
 



 
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