Im Dunkeln

Julien

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Unerwartet und ziemlich abrupt bremste der Fahrstuhl bis zum Stillstand ab; nur mit Mühe gelang es Armin, sein Gleichgewicht zu behalten. Die Tür öffnete sich mit einem leisem metallischem Knarren und gab den Blick auf einen längeren Flur frei, dessen hinterer Teil völlig im Dunklen lag. Armin knotete den Gürtel seines Bademantels fester, verließ die Aufzugskabine und steuerte direkt auf den nächsten Lichtschalter zu.
Mehrfach drückte er auf den Knopf, hart und länger anhaltend, jedoch ohne Erfolg. Das Licht funktionierte nicht. Mit neuerlichem Knarren schloss sich die Fahrstuhltür hinter ihm, verriegelte die einzige Lichtquelle, fuhr mit ihr davon und ließ ihn in plötzlicher Dunkelheit stehen. Eine Verwünschung vor sich hin murmelnd, wartete Armin einige Sekunden in der Hoffnung, dass sich seine Augen der Situation anpassen würden. Doch er konnte so gut wie nichts wahrnehmen; der teppichbedeckte Boden vor ihm hob sich nur ganz diffus und grob schemenhaft von den Seitenwänden des Ganges ab. Langsam und die ausgestreckten Arme vor sich haltend, tastete er sich einige Meter weiter, fand die richtige Richtung und gelangte zu der Überzeugung, dass es möglich sein sollte, so bis zur letzten Tür auf der linken Seite dieses Hotelflurs zu gelangen.

Dunkler konnte es wirklich kaum werden hier. Mit einer Hand zögernd an der Wand entlang gleitend gelangte Armin allmählich weiter vorwärts. Holzdielen knarrten unter dem Flurteppich. Erneut ärgerte er sich über Gretas Angewohnheit, ihre gemeinsamen Reiseunterkünfte nur aus den Billig-Angeboten der Touristenbüros auszuwählen. Finanziell hätten sie ja wirklich die Möglichkeit gehabt, ein komfortableres Hotel zu buchen; zumindest eines, auf dessen Elektrizität noch Verlass war. Zum Glück gab es hier im Kellergeschoss wenigstens noch ein bescheidenes altes, jedoch recht sauberes Schwimmbecken, in dem er bis eben entspannt und ungestört seine Runden - wenn auch in sehr beschränktem Ausmaß - hatte ziehen können. Und als er vor knapp einer Stunde in entgegengesetzter Richtung diesen Flur entlang gegangen war, hatte das Licht hier noch gebrannt.
Unversehens stieß Armin mit seinem Oberschenkel hart an eine Kante, die Ecke eines kleinen Tisches, den er im Dunkeln hier übersehen hatte. Ein unangenehmer Schmerz durchzog sein Bein. Wofür zum Teufel stehen Tische nachts uf einem Flur herum; auf dem Hinweg war ihm der nicht einmal aufgefallen.

Die zweite Hand, in der er auch sein Handtuch und die darin eingewickelte Badehose hielt, streckte er in der Befürchtung weiterer Hindernisse der Dunkelheit entgegen, stieß nach einiger Zeit tastenden Weitergehens jedoch genau im erwarteten Moment gegen die Wand am Ende des Ganges. Er lächelte versöhnt, weil es ihm gelungen war, die Entfernung so gut einzuschätzen. Immer noch waren um ihn herum lediglich schattenhaft spärliche Konturen wahrzunehmen. Armin wandte sich nach links und schob seine Hand an der Wand entlang, bis er unverkennbar den Türrahmen und dann die Klinke unter seinen Fingern erkannte. Sie ließ sich leicht bewegen; er öffnete die Tür vorsichtig, um Greta nicht zu wecken, die nach so langen Reisetagen immer schon früh ins Bett ging und auf Störungen empfindlich reagierte. Ihm kam das Besichtigungsprogramm der nächsten Tage wieder in den Sinn. Einmal mehr Galerien und Museen, mit deren Darbietungen und Exponaten er eher wenig anfangen konnte. Seit nun schon fast 30 Jahren war es ausschließlich Greta, an deren Kunstsinn sich diese Exkursionen ausrichteten.

Mit einem unterdrückten Seufzer trat er - den Atem anhaltend - leise in das Zimmer, einen Fuß behutsam vor den anderen setzend. Ein wenig Helligkeit drang von der Straßenseite her durch die zugezogenen Vorhänge des Fensters und warf verschwommene Schatten im Raum; doch auch hier war kaum die eigene Hand vor den Augen zu erkennen. Um nicht gegen Hindernisse zu stoßen, tastete sich Armin mit Füßen und Händen nur langsam weiter vor, während er sich an die Einzelheiten des Zimmers zu erinnern versuchte. Linkerhand musste der Schrank stehen; etwas helleres dagegen schien von da vorne rechts zu schimmern, das konnte nur die aufgeworfene Decke auf seiner Seite des Doppelbetts sein. Wiederum knarrten Dielen unter seinen vorsichtigen Schritten, als er die Richtung dorthin einschlug. Er hielt inne; Gretas gleichmäßige Atemzüge waren deutlich vernehmbar.
Ein Stuhl stand nun unmittelbar neben ihm. Armin ahnte ihn mehr als dass er ihn sah. Jegliches Geräusch vermeidend streifte er den Bademantel ab, legte ihn zusammen mit Handtuch und der noch feuchten Badehose dorthin, wo er die die Sitzfläche des Stuhls vermutete, tastete sich zum Bett und es kam ihm mit Erleichterung zu Bewusstsein, dass er sich in seiner Orientierung nicht geirrt hatte.

Im Zeitlupentempo legte er sich - nur mit seinem Slip bekleidet - in Rückenposition, zog die kühle Decke bis über seine Brust und streckte entspannt die Beine aus. Die Federung war angenehm, das Kopfkissen groß genug; einem wohligen Einschlafen stand nichts im Wege. Greta neben ihm hatte sich ganz zusammengekrümmt unter ihre Decke gekuschelt. Das war auch so eine Eigenart von ihr. Es hatte Zeiten gegeben, da waren sie miteinander unter einer einzigen Decke eingeschlafen... Heute war es eher bequemer für beide, wenn sie in ihren Hotels und Pensionen unterwegs kein französisches Bett vorfanden.
Armin legte einen Arm über ihren weich umwickelten Körper. Ihr Atem ging weiterhin gleichmäßig; er streichelte über ihre Decke und spürte, wie sie mit kleinen Bewegungen im Schlaf darauf reagierte. Nein, er wollte sie keinesfalls wecken, nur ein bisschen Nähe beim Einschlafen spüren. Er drehte sich auf die Seite, legte nun seinen Arm um das Deckenknäuel so weit er konnte und schob seinen Körper ganz nah an sie heran....
Hatte er sie gestört? Er spürte, dass sie den Druck seines Ankuschelns intensiv erwiderte; ein schönes Gefühl.
Zwei, drei Minuten vergingen. Armin genoss dieses nahe Miteinander. Zu gern hätte er jetzt mit seiner Hand über ihren Kopf, durch ihre dunklen Locken gestreichelt, die sie von Zeit zu Zeit immer wieder nachtönte. Sollte er? Wie würde sie es aufnehmen?
Irgendwas ungewöhnliches schien jedoch in der Luft zu liegen... irgendwas war anders an diesem Abend hier und heute in diesem dunklen Zimmer. Er dachte nach; sein Puls ging schneller als üblich. Er hatte es doch nicht übertrieben mit seinen Schwimmrunden eben. War es die stundenlange Fahrt heute, die ihn jetzt noch so aufputschte? Sein Kopf schien nicht bereit zum Schlafen, obwohl es doch spät sein musste, kurz vor Mitternacht mindestens. Er richtete sich auf. Gewohnheitsmäßig stellte Greta den Wecker auf den kleinen Nachttisch. Armin starrte über sie hinweg in die Dunkelheit, konnte jedoch die vertraute rot leuchtende Digitalanzeige nicht erkennen. Sie hatte wohl vergessen, ihn auszupacken. Oder war da überhaupt ein Tisch am Bett neben ihrem Kopfende gewesen?

Armin wurde wieder wach, richtig wach. Es war stickig in dem Zimmer. Ein Anflug von Zigarettenqualm stieg in seine Nase. Das Flurlicht defekt und die Zimmer nicht gelüftet; das gab in seinen Augen ein passendes Bild von dem Standard dieses Hauses.
Er stand auf, ohne auf den leicht quietschenden Bettrahmen zu achten. Das etwas hellere Rechteck an der Wand gegenüber konnte nur das vorhangverhängte Fenster sein. Mit dem Fuß stieß er gegen einen Gegenstand. Warum hatte Greta denn den Koffer nicht zur Seite geräumt? Auf knarrenden Dielen gelangte Armin jetzt ohne weiteres Hindernis zum Fenster, zog vorsichtig den Vorhang zurück und legte die Hand an den Kipphebel des geschlossenen Fensters. Beim Öffnen spürte er sofort die kühlere Luft leicht über seinen nackten Körper wehen. Von draußen fiel das Licht der Straßenbeleuchtung und der Reklameschriften ins Zimmer und verbreitete dort eine milchig-matte Helligkeit. Ihm fiel die Apotheke gegenüber ein, über deren Eingang sich so eine Uhr mit einem selten gewordenen großen römischen Ziffernblatt befand. Heute Nachmittag, als er vom Fenster das Geschehen auf der Straße beobachtete, hatte er Mühe gehabt, oben vom dritten Stock aus ohne seine Brille die Zeit genau abzulesen, vielleicht gelang es jetzt.

Es gelang ihm sogar überraschend schnell. Armin benötigte nur Bruchteile von Sekunden, um zu realisieren, dass sich die Uhr gar nicht mehr unterhalb des Fensters sondern fast in gleicher Augenhöhe direkt gegenüber befand. Er stutzte. Hinter ihm raschelte es plötzlich und er fuhr erschrocken herum. Greta hatte sich aufgerichtet. Nein, das war sie doch nicht. Vom Fenster her fiel dämmriges Licht auf das verschlafene Gesicht einer sehr jungen Frau. Und sie war eindeutig blond. „Was machst du da eigentlich?” hörte er eine unbekannte weibliche Stimme leise und etwas ungeduldig fragen. Ihr Blick schien seine dunkle Silhouette vor dem Fenster verwundert anzublinzeln. “Ich seh dich kaum, Bärchen. Wolltest du nicht die Taschenlampe aus dem Auto holen?” Armins Herz schlug in heller Aufregung; er rührte sich nicht von der Stelle. „Egal“ fuhr die weibliche Stimme fort „komm her und kuschel dich wieder an mich! So
wie eben!” . Stille; lähmende sekundenlange Stille. Draußen auf dem Flur näherten sich langsam Schritte; Armin konnte ganz deutlich die Dielen knarren hören.

(überarbeitet am 2.11.2001)
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
zu

erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. deine geschichte gefällt, aber man ahnt schon lange im voraus, daß der mann das falsche zimmer betritt. die pointe dürfte knalliger sein. vielleicht bekommst du das noch hin. ganz lieb grüßt
 

Julien

Mitglied
Vielen Dank für die freundliche Begrüßung! Und ebenfalls Dank für das Lob und Deine konstruktive Meinung zu der Geschichte. Mir fällt inzwischen auch auf, daß der Anlauf wohl etwas lang geraten ist (mindestens so lang wie der dunkle Flur!!). Allerdings bin ich etwas ratlos, wie man die Pointe denn knalliger gestalten könnte.... Ich denk weiter drüber nach!
Bis demnächst + gleichfalls liebe Grüße
J.
 

gladiator

Mitglied
Tja, wie geht es denn nun weiter?

Hallo Julien,

nette Geschichte, hier meine Anmerkungen:

Unerwartet und ziemlich abrupt bremste der Fahrstuhl bis zum Stillstand ab; nur mit Mühe gelang es Armin, sein Gleichgewicht zu behalten.

In der Regel kann man sehen, in welchem Stock sich der Fahrstuhl befindet. Wie kann er dann unerwartet halten? Außerdem würde Armin dann sehen, in welchem Stock er landet. Also kann er nicht sehen, wo er landet und deshalb unerwartet? Auf jeden Fall Klärungsbedarf, weil ich es merkwürdig finde, daß ein Fahrstuhl abrupt hält.

Mehrfach drückte er auf den Knopf, hart und länger anhaltend, jedoch ohne Erfolg.

Macht wenig Sinn, anhaltend auf einen Knopf zu drücken. Du meinst vermutlich "immer wieder" oder so etwas ähnliches.

Eine Verwünschung vor sich hin murmelnd, wartete Armin einige Sekunden in der Hoffnung, dass sich seine Augen der Situation anpassen würden.

Du neigst - wie ich finde - manchmal zu komplizierten Satzkonstruktionen. Warum nicht einfach "Fluchend" statt eines ganzen Nebensatzes? Das gilt übrigens auch für viele andere Sätze.

Doch er konnte so gut wie nichts wahrnehmen;

In den meisten Fällen ist "können" überflüssig, entweder er sieht was oder nicht.

Finanziell hätten sie ja wirklich die Möglichkeit gehabt, ein komfortableres Hotel zu buchen; zumindest eines, auf dessen Elektrizität noch Verlass war.

Auch hier: Warum nicht einfach: "Sie hätten sich ohne weiteres ein besseres..."

Die zweite Hand, in der er auch sein Handtuch und die darin eingewickelte Badehose hielt, streckte er in der Befürchtung weiterer Hindernisse der Dunkelheit entgegen,

Du neigst zu Substantivierungen, die leicht steif wirken und deshalb den Lesefluss stören. Ist mir öfter aufgefallen.

Er lächelte versöhnt, weil es ihm gelungen war, die Entfernung so gut einzuschätzen.

Wie lächelt man "versöhnt"? Mit wem versöhnt? mit der Dunkelheit, mit dem Tisch? Fragen über Fragen.

Ihm kam das Besichtigungsprogramm der nächsten Tage wieder in den Sinn. Einmal mehr Galerien und Museen, mit deren Darbietungen und Exponaten er eher wenig anfangen konnte. Seit nun schon fast 30 Jahren war es ausschließlich Greta, an deren Kunstsinn sich diese Exkursionen ausrichteten.

Die Stelle fällt raus, weil sie mit der Geschichte nichts so recht zu tun hat. Was bringt es dem Leser, wenn er das weiß?

Ein wenig Helligkeit drang von der Straßenseite her durch die zugezogenen Vorhänge des Fensters und warf verschwommene Schatten im Raum;

"...in den Raum;"

Die Stelle, wie er sich ankuschelt, finde ich sehr schön. Das Ende wiederum kann tatsächlicher knalliger gestaltet werden. Nachdem Armin entdeckt hat, dass in im falschen Zimmer gelandet ist, würde ich einfach nur eine fremde Frauenstimmt fragen und dann gleich die Schritte auf dem Gang ertönen lassen.

Gruß
Gladiator
 



 
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