Im Fadenkreuz (Prolog)

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Im Fadenkreuz

Prolog



Es war ein vergeblicher Versuch. Er lag im Sichtschutz der kahlen Betonwand und zählte die Sekunden. Durch das Visier des Lasergewehrs zeichnete sich die Silhouette des Diktators überdeutlich gegen die Flutlichter vom Ende des Tunnels ab und schien die Grenzen von Zeit und Raum zu sprengen wie ein längst vergessenes Déjà-vu. Sein Atem ging schwer, und der Zeigefinger krampfte sich um den Abzug. Gerne hätte er sofort abgedrückt, aber immer störte ein winziges Detail. Die Sicherheitsleute mit ihren kugelsicheren Westen tauchten immer wieder in die Schusslinie, die jubelnden Passanten verdeckten die Sicht, und der Marschall selbst schien die Gefahr zu spüren, die von dem abrissreifen Gebäude am Ende der unterirdischen Passage ausging. Zappa schwitzte. Eigentlich sollte der Bau schon seit Wochen gesprengt werden, um einem großen Einkaufszentrum Platz zu machen. Jedesmal war die Angst da, wenn er das Gebäude betrat. Die Sprengladungen waren installiert, und der Sprengmeister musste nur auf den Knopf drücken in der Kommandozentrale, um den ganzen Komplex in Schutt und Asche zu legen. Sicher wusste Zappa, dass an dem Paradetag keine Sprengung vorgesehen war. Sicher brauchte er auch das komplizierte Überwachungssystem nicht zu fürchten, denn seine Komplizen hatten jahrelang an den Vorkehrungen für die Operation gearbeitet. Aber die Angst war da, lähmte den Verstand und blockierte die Gedanken. Ein kleines Husten hätte genügt, um den Anschlag zu vereiteln.
Unten in der Passage spulte sich das Programm ab, als wäre alles nur ein schlecht geratener Film. Begrüßung durch den Bürgermeister, Lächeln für die Fernsehkameras, Blumensträuße, die von unwissenden Schulkindern überreicht wurden. Zappa sah auf die Uhr. Noch drei Minuten bis zum Schuss. In seiner Phantasie vermischte sich die unwirkliche Szenerie des Nationalfeiertags mit verschwommenen Kindheitsbildern und Stationen aus seinem Leben, die er lange verdrängt hatte. Er tastete in der Jackentasche nach dem Messer. Die Worte seines Vaters klangen in seinen Ohren, der ihm eines Tages ein kleines Terrarium gezeigt hatte. Ein Grille, ein Schälchen mit Wasser, und, unter einem grauen Stein lauernd, ein schwarzer Skorpion. Das Gift aus seinem Stachel hätte genügt, um einen ausgewachsenen Rappen ins Jenseits zu befördern. Vater zeigte bemerkenswerte Gemütsruhe und wedelte mit dem Benzinfeuerzeug, um seine Worte zu untermalen. „Skorpione zücken ihren Stachel nur, wenn sie angegriffen werden. Aber sehen sie keinen Ausweg mehr, zum Beispiel so“ – er zeichnete mit der Hand einen imaginären Flammenring um das reglose Spinnentier – „dann richten sie ihren Stachel gegen sich selbst.“ Zappa war von Sternzeichen Skorpion, und das Messer in seiner Jackentasche war scharf geschliffen.
Noch zwei Minuten. Es musste eine Höllenarbeit gewesen sein, sich in den Zentralrechner einzuloggen, um die elektronische Schutzglocke außer Gefecht zu setzen. Er zündete sich eine Zigarette an. Man mochte von seinem verstorbenen Kampfgefährten Timo Lechner halten, was man wollte, aber diese Aufgabe hatte er fachmännisch erledigt. Begonnen hatte alles mit einem einfachen Computervirus, der aktiv wurde, als Lechner das Zeitliche segnete. Seitdem lief der Zentralrechner nicht mehr so, wie er sollte, und die Spezialisten hatten alle Hände voll zu tun, um den Virus – der sich ständig modifizierte und dazu alte Dateien aus dem Hypernet herunterlud – in Schach zu halten. Ja, Lechner hatte das Zeitliche gesegnet. Zappa zog noch einmal an seiner Zigarette und warf sie dann in eine verölte Pfütze am Fuße der Brüstung. Seiner Meinung nach war er nur eine Schachfigur im Spiel, die unwissentlich für die Pläne der Aufständischen gearbeitet hatte. Er hatte den Schneid, öffentlich abzutreten, aber niemand würde ihm auch nur eine Träne widmen, denn sein Cousin Armin weinte nicht, und seine Eltern waren längst verblichen.
Zappa zündete eine weitere Zigarette an und sah noch einmal auf die Uhr. Noch eine Minute. Wenn das Programm zielsicher arbeitete, musste gleich die Bahn frei sein. Seine Gedanken drehten sich im Karussell. Es war so schwierig, jetzt, da sich die Situation zuspitzte, die Nerven zu behalten. Mehr als einmal hatte er das Gewehr in Anschlag gehabt, und jedesmal erschien ihm der Moment vor dem Schuss erregender als jeder Orgasmus, den er in seinem kurzen Leben genossen hatte. Zappa war ein Killer.
Unten in der Passage sprangen die riesigen Ventilatoren zu beiden Seiten des Schachtes an, um frische Luft in die Menge zu pressen. Eine junge Frau sank ohnmächtig zusammen und wurde von den Ordnungskräften zum Sanitätszelt getragen. Die Schreie wurden frenetischer, die Menge jubelte und rief im Chor den Namen des großen Diktators. Feuerwerk wurde gezündet, und Zappa registrierte erleichtert, dass der Schuss im allgemeinen Getöse nicht weiter auffallen würde. Selbst wenn er das Ziel verfehlte, bliebe ihm vielleicht noch die Möglichkeit zur Flucht. Der Marschall hob grüßend die Hand, trat an das Rednerpult und wartete geduldig darauf, dass der Beifall verebbte. Die Spannung knisterte in der Luft, jeder der Zuhörer konnte sie spüren. Was würde der große Tribun diesmal verkünden? Würde er die Löhne und Gehälter für das kommende Jahr anheben? Sollte die Schulpflicht verkürzt werden oder der Einstieg in das Rentenalter herabgesetzt werden? „Nur die Leistung zählt“, lautete die Parole für das vergangene Jahr, doch in welchem Zeichen würde das kommende Jahr stehen? Der Diktator holte tief Luft, setzte zum Sprechen an, und in diesem Moment ereignete sich dreierlei. Die Stromversorgung brach zusammen, ein peitschender Schuss zerteilte die Stille, und auf dem Gebäude gegenüber griff eine kleine Gestalt zum Messer, die Chancen abwägend zwischen zwischen dem Möglichkeit zur Flucht und dem Wunsch, das eigene Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Die große Gelegenheit war vorüber, und niemand konnte wissen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen würden und ob das, wofür Zappa kämpfte, eines Tages den Menschen in Megalopolis K ein friedvolleres Leben ermöglichen würde. Denn das Attentat war von langer Hand vorbereitet, aber die Dynamik des Staatsterrors war schwer einzuschätzen. Und während unten auf der Straße die erwartete Panik ausbrach, sah Zappa sein Leben wie einen Film vor dem inneren Auge ablaufen, sah die Höhen und Tiefen der vergangenen Monate, dachte daran, wie alles begonnen hatte...


© 2000 by Marcel Sommerick
 
K

kristal

Gast
Megalopolis

Hallo, Marcel!
Ich habe dich auf deiner homepage besucht und lese dein Buch Megalopolis. Es ist spannend, aber streckenweise zum Fürchten. Du mußt Horror hinter dir haben, sonst könntest du manches so nicht schreiben. Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Also wird Timo sterben! Wer wird seine Ideen weiterführen?
Kann man dein Buch schon kaufen? Schreib bald weiter.
 
K

kristal

Gast
Buchkauf "Megalopolis"

Hallo, Marcel! Danke für deine mail. Ich war bei contensis:
Dein Buch kann man nicht kaufen, nur downloaden, das habe ich schon gemacht. Ich habe jetzt auch meinen ersten Versuch gewagt, unter Poesie. Kommentar erwünscht. kristal
 
Megalopolis

Hallo Kristal,

es soll ja hier nicht den Anschein erwecken, als würde ich meine Post nicht beantworten. Allerdings möchte ich mich nicht unbedingt als Psychiatrie-Erfahrener outen. Nur so viel sei gesagt, ich habe ganz schön einstecken müssen, vielleicht ist "Megalopolis" deshalb etwas düster ausgefallen. Auch muss man ja unterscheiden zwischen den eigenen Erlebnissen und denen des Erzählers. Zum Beispiel war ich im "Musee des Egouts" in Paris, um die Szene in der Kanalisation möglichst exakt zu schildern. Wie schon gesagt, der Text liegt bei Contensis vor, und ich hoffe, die Fortsetzung noch in diesem Jahr zu Ende zu schreiben. Ich freue mich darauf, wieder etwas von dir zu lesen, hoffentlich!

Gruß Marcel
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Toll, ein ziemlich gut gemachter Einstieg – lockt wirklich "rein".

Aber: Was war ein vergeblicher Versuch?
 



 
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