Im Fadenkreuz (Viertes Kapitel)

IM FADENKREUZ

Viertes Kapitel


Die Laube lag im Dunkel der Nacht und schien völlig verlassen. Armin Lechner prüfte die Luft. Von Gärten zu sprechen, wäre bei der verkommenen Anlage wohl verfehlt gewesen. Aber so mancher Anachronismus hatte sich in der Sprache erhalten, und alles, was nicht betoniert und planiert war, galt schon als Grünanlage. Armin zog ein Brecheisen unter der Jacke hervor und hebelte die Fensterläden aus den Angeln. Es ging so leicht, dass er sich wunderte, keine misstrauischen Blicke auf sich zu ziehen. Er zerschlug die Fensterscheibe und öffnete das Fenster von innen. Im Licht der Taschenlampe erblickte er eine sauber aufgeräumte Hütte, Bett, Tisch und Anrichte. Offensichtlich hatte hier jemand mit dem Gedanken gespielt, sich dauerhaft einzurichten. Die Gärten standen seit Jahren leer, da der Bau einer vierspurigen Schnellstraße geplant war und alle Pachtverträge gekündigt waren. Dennoch hielt anscheinend jemand Ordnung in der Hütte. Armin kletterte durch das Fenster, entkorkte eine Flasche Wein und zündete eine blaue Kerze an, die er aus seinem Rucksack kramte. Dann warf er einen Blick auf die Wanzen. Er schaltete den Laptop an und programmierte die Geräte auf ihre Zielkoordinaten. Die Wanzen setzten sich in Bewegung und krabbelten durch das Gebüsch auf das besetzte Haus zu. Sie würden sich irgendeine stille Ecke suchen, und Armin hätte eine gute Möglichkeit, alle Gespräche auf Band mitzuschneiden. Er zündete sich eine Zigarette an und trank einen Schluck Wein. Es war merkwürdig still in der Hütte, und die Luft schien seltsam zu flimmern, als ob eine unsichtbare Spannung über dem Grundstück läge. Armin war von Natur aus nicht feige, aber der Ort behagte ihm nicht. Es war totenstill, nur die Mäuse raschelten draußen im Gebüsch. Armin stieg noch einmal aus dem Fenster und stopfte einen Blechsplitter in das Türschloss, damit ihn niemand im Schlaf überraschen konnte. Die Wanzen waren jetzt in Position, doch auch in dem Haus gegenüber sprach niemand ein Wort. Es war gespenstisch. Manchmal hörte er ein leises Füßescharren über den Kopfhörer. Verflucht, dachte Armin, wo bin ich hier gelandet? Es war die perfekte Falle. Der Ort lag außerhalb des Zuständigkeitsbereiches der Polizei, und auch die Raver feierten woanders. Ob die Hütte schon einmal Schauplatz eines Mordes gewesen war? Armin zog die Gaspistole hervor, legte die Patronen ins Magazin und schob die Waffe unter das Kopfkissen. Dann versuchte er zu schlafen. Es war vergeblich. Die Stunden vergingen, und nur einmal kletterte Armin nach draußen, um an einem Strauch auszutreten. Schließlich gab er es auf. Er sah auf seine Digitaluhr: Seit sechs Stunden kämpfte er mit dem Schlaf, schreckte jedes Mal hoch, wenn er ein Geräusch von draußen hörte. Er war sich ziemlich sicher, dass jemand in der Dunkelheit um die Hütte herumschlich. Er vermutete, dass die Autonomen die Wanzen entdeckt und unschädlich gemacht hatten. Es blieb ihm noch das Richtmikrofon, doch es war anzunehmen, dass er damit nur Informationen in Erfahrung bringen konnte, die eigens für ihn bestimmt waren. Er entschloss sich, die direkte Konfrontation zu suchen. Lässig steckte er die Pistole in den Hosenbund, kletterte über den Zaun und nahm das Haus noch einmal genauer in Augenschein. Es schien ein ganz normales Mietshaus zu sein, lediglich Graffiti und Plakate wiesen darauf hin, dass sich hier die Nachfahren der legendären Edelweißpiraten eingerichtet hatten. Eine Wandzeitung war an die Fassade geklebt, und neben dem Eingang befand sich eine weitere Tür. „Info-Laden“. Er drückte die Klinke herunter: Die Tür war geschlossen. Später, dachte Armin, ich werde es später noch einmal probieren. Er bog um die Ecke, ging an dem Fenster im Erdgeschoss vorbei, in dem die weißen Gardinen hingen. Immer noch herrschte Stille, aber er war sich ziemlich sicher, dass eine Stimme hinter den Fenstern flüsterte, „ich will ihn“. Armins Herz schlug höher. Hier galten nicht die strengen Gesetze der Megalopolis, und es gab ihn noch, den ungezügelten Sex, trotz AAIC, Denunziation und Ränkespielen. Im Westtunnel war alles still, die Stricher hatten das Feld geräumt, nur kurz hinter der Eisenbahnunterführung begegnete ihm ein langmähniger Freak. Der Langhaarige ballerte mit einer scharfen Pistole auf das Pflaster, als ob es selbstverständlich sei. Im Dunkel der Unterführung wirkte die Stichflamme an der Mündung gespenstisch, und Armin fasste es als ernstgemeinte Warnung auf. Er drückte sich durch den Kontrollpunkt und verschwand dann in einer düsteren Kneipe, die direkt ums Eck lag. Zermürbt und müde schlürfte er eine Cola, dann machte er sich auf den Weg nach Hause. Die kleine Amsel saß wieder vor seinem Fenster und flötete ein trauriges Liedchen. „Nur Mut, kleine Amsel“, murmelte Armin, „vielleicht sehen wir uns zum letzten Mal.“
Seine Wohnung war noch in Ordnung, aber die Uhr tickte. In zwei Tagen würde er das Gebäude für immer verlassen. Es war sinnlos, die Koffer zu packen, wo sollte er seine Habseligkeiten auch unterstellen? Auf einmal sehnte er sich nach ein paar mitfühlenden Worten, und er gab seinem Herz einen Stoß und fuhr weiter zur forensischen Anstalt, wo sein Freund Kalle die Haft absaß. Kalle war ebenfalls übernächtigt, er lächelte müde, als Armin hinter der Sicherheitsschleuse auftauchte und sich in den Besuchsraum begab. Natürlich hatten sie Armin gefilzt, und er war heilfroh, dass er die Gaskanone zu Hause gelassen hatte, denn es war nicht einfach, sich von heute auf morgen eine neue Waffe zu besorgen. Er versuchte einen Scherz, doch Kalle reagierte nicht, starrte nur stumpf auf den Tisch und gab zu Protokoll, man habe ihn letzte Nacht genötigt und mit Zigarettenstummeln gequält. „Warum wehrst du dich nicht“, fragte Armin ungläubig, doch Kalle wehrte gereizt ab, er hätte ohnehin keine Chance, da sie ihn vorher noch betäubt hätten. „Sie haben mir ein Mittel ins Essen gemischt.“
Armin schluckte, gab zu bedenken, „vielleicht bildest du dir alles nur ein?“
„Natürlich, Professor Neunmalklug. Ich gebe zu bedenken, dass mein Hinterteil fürchterlich schmerzt, meine Lippen geschwollen sind und ich jede Menge Brandblasen an Armen und Beinen habe. Wenn das eine Einbildung ist, dann ist sie verdammt unangenehm.“
„Mein Beileid. Wie lange musst du noch einsitzen?“
„Anderthalb Jahre. Aber das Schlimmste ist mein Zellennachbar, der Bibelforscher.“
„Ein Bibelforscher?“
„So ist es. Er bildet sich ein, besessen zu sein, und nun will er die bösen Geister austreiben und bleibt stundenlang reglos auf einem Fleck stehen, weiß der Himmel, was das für eine verrückte Methode ist.“
„Und was macht er noch so?“
„Er pinkelt jeden Morgen ins Waschbecken. Und außerdem ist er steinreich, hat eine ganze Million Euros geerbt.“
„Eine Million?“
„Exakt.“
„Heiliger Bimbam.“
„So spektakulär ist es auch wieder nicht. Die Hälfte des Geldes ist er schon wieder los.“
„Hat man die Erbschaft versteuert?“
„Das auch, aber die Gemeinde hat den größten Teil für sich in Anspruch genommen. Nun können sie beseligt Gebete sprechen, und der Bibelforscher kann guten Gewissens weiter die heiligen Schriften studieren.“
„Was es nicht alles gibt.“
Kalle drückte seine Kippe aus, verschwand dann in Richtung Dusche, „ich muss mir erst mal den Schmutz abwaschen.“
Armin wurde von einem Sicherheitsbeamten nach draußen geleitet, konnte seine Papiere wieder in Empfang nehmen und stand dann alleine auf der Straße. Lastwagen brummten an ihm vorbei. Er ging zu Fuß in die Nordstadt, überall gab es Straßensperren, Beamte kontrollierten den Verkehr. Der Tag des Gipfeltreffens rückte näher, und die Polizei war bemüht, schon Monate vorher die wichtigsten Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Armin drückte sich an einem Pulk von Bundesgrenzschützern vorbei und stolperte dabei fast über einen besoffenen Penner, der in der Gosse seinen Rausch ausschlief. Die Grenzschützer beachteten den Mann nicht, offensichtlich hatten sie wichtigere Sorgen. Armin fuhr zwei Stationen mit dem Bus, stand dann vor dem Haus seiner Mietskasernenbraut. Sie verleugnete ihn. Er klingelte Sturm, grinste in die Videokamera, aber die Haustür blieb verschlossen, kein Mucks klang aus der Gegensprechanlage. Armin war sich sicher, sie musste zu Hause sein. Seufzend machte er kehrt: Die heimliche Liebschaft schien ihrem Ende entgegenzugehen. Seine Schritte lenkten ihn automatisch zu dem vergammelten türkischen Cafe in der Nordstadt, in dem er seinen Kontaktmann Sesai Karabulut zu treffen pflegte. Der Kellner runzelte die Stirn, als er eintrat, denn eigentlich war dies ein geschlossener Club. Armin drückte sich durch das verqualmte Cafe bis in das Hinterzimmer, wo Sesai über einem Billardtisch hing, Kippe im Mundwinkel, Queue in der Hand. Er erblickte Armin und stieß die Kugel ins Loch. „Hallo Kollege, das ist ein glücklicher Zufall. Gerade habe ich wichtige Neuigkeiten erfahren.“
Armin drückte ihm die Hand. „Setzen wir uns.“
Sesai bestellte zwei Gläser Tee und stieß Armin dann in die Rippen. „Im Ernst, Armin, dieser Bulle, mit dem du zusammenarbeitest...“
„Ja?“
„Lass ihn links liegen. Er schadet dir nur.“
„Immerhin ist er mein Kontaktmann.“
„Vergiss ihn. Der steht kurz vor dem Suizid.“
„Tatsächlich?“
„Glaub mir, er ist es nicht wert. Aber die Operation, die sich ankündigt: Sie wird den Staat in seinen Grundfugen erschüttern.“
„Was soll geschehen?“
Sesai blickte sich kurz um, senkte die Stimme. „Der Marschall. Der Marschall soll dran glauben.“
Armin lachte auf. „Unmöglich. Er ist perfekt abgeschirmt. An den kommt keiner dran.“
„Vielleicht doch. Ich brauche deine Hilfe.“
„Was soll ich tun?“
„Der Computervirus von Timo. Er muss unverzüglich aktiviert werden.“
„Ist das alles?“
„Mehr erwarte ich nicht von dir. Du sollst den Virus direkt auf den Rechner der Elektrizitätswerke aufspielen. Zugang bekommst du über das Hypernet. Das Passwort, das du benutzt, heißt ‚Scorpio‘“.
Armin schluckte. „Ich stehe schon jetzt auf der Straße. Wenn ich in Verdacht gerate, werden sie mich auf kleiner Flamme grillen.“
„Klar, sie werden dich braten und in Haldol servieren. Aber im Ernst, glaubst du nicht, dass der Sektor reif ist für ein Attentat? Das Leben in der Megalopolis ist eine einzige Qual geworden, und jeden Tag wird es schlimmer.“
„Also gut. Ich werde kooperieren.“
„Ich wusste, dass man sich auf dich verlassen kann.“
Sesai sah sich um, bestellte noch zwei Gläser Tee. Der Kellner kam hüfteschwenkend an den Tisch, stellte mit betonter Affektiertheit die Gläser auf das Tischtuch. Sesai seufzte. „Diese Schwulen – wenn es nach mir ginge, würde man sie alle strangulieren.“
Armin grinste. „Du solltest deine Gedanken besser für dich behalten. Immerhin ist Megalopolis K eine Hochburg der Homosexuellen.“
„Leider. Übrigens darf ich dich einem Genossen vorstellen.“
Er winkte den Kellner herbei, flüsterte ihm etwas zu, und bald darauf kam ein stattlicher Hüne die Treppe herunter, schüttelte Armin die Hand. Sesai lachte. „Darf ich euch miteinander bekannt machen: Armin, das ist Reto.“
„Angenehm.“
„Ganz meinerseits.“
Es entstand ein peinliches Schweigen, und Armin dachte schon daran, sich einfach zu verabschieden, da verkündete der Hüne in breitem Schweizer Akzent: „Ich kannte Timo.“
„Tatsächlich?“
Wieder Schweigen. Dann versuchte Sesai zu vermitteln: „Reto kümmert sich um die Finanzierung unserer kleinen Organisation. Er fädelt die Drogentransporte ein und wäscht das Geld mit Hilfe einiger Strohmänner. So werden Waffen und Fluchtfahrzeuge bezahlt und konspirative Wohnungen angemietet. Du erkennst die Dringlichkeit der Operation daran, dass er den Schutz des marokkanischen Exils verlassen hat und sich in die Megalopolis begeben hat, um die notwendigen Schritte höchstpersönlich einzuleiten. Du weißt nun, worum es geht.“
„Der Marschall.“
„Ja, der Marschall. Reto meint es ernst.“
„Wie wollt ihr ihn denn erledigen?“
„Nicht wir. Zappa wird es tun. Und du sollst ihm den Weg ebnen.“
„Glaubt ihr wirklich, ihr könnt das System schwächen, wenn ihr einen einzigen Mann dem Tod auf die Lunte bindet?“
Reto mischte sich ein. „Ich glaube, du hast es noch nicht ganz verstanden. Der Marschall ist nur eine Marionette.“
„Eine Marionette?“
„Exakt. Wir müssen die Systematik des Staatsterrors durchbrechen und lernen, unser Schicksal wieder in die eigenen Hände zu nehmen. Schließlich ist dies unser Planet, und wir sind seine Bewohner.“
„Jetzt mach mal einen Punkt. Du willst mir doch nicht das Märchen von den kleinen grünen Männchen auftischen?“
Reto legte die Stirn in Falten. „Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe zehn Jahre in der algerischen Sahara verbracht, in unmittelbarer Nachbarschaft eines gigantischen Stützpunktes, in dem jeden Tag Raketen starten und landen. Der Planet wird kolonisiert, seit über hundert Jahren schon. Und das bedeutet, dass die Menschen, sofernt sie nicht der neuen Gesellschaft von Nutzen sind, in den Untergrund verdrängt werden, nützliche Arbeitstiere, die in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden. Und das Kuriose ist, dass die Leute dermaßen von staatlicher Propaganda überschwemmt werden, dass sie sich über ihre tatsächliche Situation schon lange nicht mehr im Klaren sind.“
Armin schüttelte den Kopf und grinste. „So einen Unsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört. Aber meinetwegen – ich habe nichts zu verlieren. Also werde ich mitspielen.“
„Wir werden dich angemessen entlohnen.“
„Gut. Aber wie sehen die konkreten Schritte auf dem Weg zu der neuen Gesellschaft aus?“
„Erst das Attentat. Dann die Seuche. Anschließend die Offensive.“
„Die Seuche?“
Retos Gesicht verhärtete sich. „Wir werden den Außerirdischen die Wasserzufuhr abschneiden. Alle Brunnen werden verseucht, und zwar mit dem Erreger der Pest.“
Armin blickte ihn erschrocken an. „Ist das kein Pyrrhussieg? Was hilft ein Anschlag, wenn wir uns dann selbst alle infizieren? Es gibt doch wahrlich schon genug Krankheiten.“
„Neunzig Prozent der Europäer sind gegen die Pest immun. Aber unter den Eindringlingen wird sie blutige Opfer fordern.“
Armins Gesicht nahm einen verschlossenen Ausdruck an. „Ich glaube, ihr behaltet eure Pläne lieber für euch. Ich bin dazu bereit, den Virus im Rennen zu halten, aber alles, was darüber hinausgeht, soll mir egal sein. Meinetwegen könnt ihr am Schwarzen Tod sterben, wenn ihr es partout so wollt. Aber haltet bitte meinen guten Namen aus dem Spiel.“
Reto lachte bitter. „Malaria. Ich habe nur Malaria. Vor der Pest habe ich keine Angst. Im Übrigen wissen alle längst, dass du den Bullen Informationen zuspielst. Ich möchte dir nicht drohen, denn uns geht es nur darum, unsere Pläne in die Tat umzusetzen. Aber vor dem Geheimdienst solltest du Respekt haben, denn vielleicht wirst du ihnen eines Tages unbequem, und du vollführst ihre Pläne nicht mehr zu ihrer Zufriedenheit. Dann werden sie dir den Schierlingsbecher reichen, und das solltest du wissen.“
Armin nickte. „Dann sind wir uns ja einig.“
Er trank sein Glas leer und stand abrupt auf. Ohne sich zu verabschieden, verschwand er aus dem Cafe. Sesai blickte ihm stirnrunzelnd nach, rief ihn jedoch nicht zurück. Armin hatte nur noch einen Wunsch, er wollte sich einen ansaufen und dann in aller Ruhe seinen Rausch ausschlafen. Er ging noch einmal zu seiner gekündigten Wohnung, doch das ganze Viertel war von der Polizei abgesperrt, keine Chance, das Gebäude noch einmal zu betreten. Dann sah er die kleine Amsel, an die er sich so gewöhnt hatte. Sie war völlig aus dem Häuschen, und bald bemerkte Armin den Grund. Ihre Brutgefährtin hatte das Zeitliche gesegnet. Die Amsel war klein und schwarz und fegte aufgeregt über den Asphalt, wo sich das Weibchen zum Sterben hingelegt hatte. Alle Belebungsversuche blieben umsonst, und Armin schüttelte mitleidig den Kopf. Zwei Tiere konnten sich wärmen, doch als Einzelner hatte man keine Chance. Bei den Menschen war es nicht anders. Er drückte sich um ein paar Ecken, um der Kontrolle zu entgehen, und stand dann wieder am Eingang zum Alten Revier. Niemand kümmerte sich um ihn, doch als er die Laube klammheimlich wieder betreten wollte, erlebte er eine Überraschung. Er hatte Besuch. Ein hagerer Fixer kam ihm aus dem Gebüsch hinter der Hütte entgegengetorkelt und herrschte ihn böse an. „Verpiss dich, Bullenspitzel. Diese Hütte gehört mir.“
Armin war überrascht, wusste nicht, was er entgegnen sollte, und nun fiel ihm wieder ein, wie aufgeräumt die Hütte war, er hatte sich gleich gedacht, dass dort jemand Ordnung hielt. Er war dem Fixer sicherlich überlegen, doch der Mann strahlte eine derartige Aggression und Wut aus, dass er keinen Wert darauf legte, in eine körperliche Auseinandersetzung gezogen zu werden. Der Fixer sah das anscheinend anders, jagte ihn kurzerhand durch den Vorgarten, und erst als sie auf der Straße standen, erinnerte sich Armin an seine Überlegenheit und zog das Klappmesser aus der Tasche. Er fuchtelte seinem Gegner damit vor der Nase herum, und der Anblick des blitzenden Messers brachte den Angreifer anscheinend wieder zur Räson. Der Fixer schnaubte noch einmal wütend und verschwand dann in Richtung der Zeltstadt. Armin atmete erleichtert auf und entschloss sich, erst noch einmal bei der türkischen Bäckerei vorbeizuschauen, denn er hatte großen Hunger. Er kaufte ein paar Sesamkringel und legte einen davon ins Gebüsch, damit der Stafford auch etwas zu essen hatte, falls er wieder seine Runde zog. Die Verkäuferin in dem Geschäft starrte Armin wütend an, und nun war er wirklich so weit, dass ihm sein Ärger über den Kopf stieg. Er ging kurzerhand auf das besetzte Haus zu, pfefferte seine Wohnungsschlüssel durch das geöffnete Fenster im Erdgeschoss und verkündete fröhlich, „viel Spaß bei der nächsten Hausbesetzung.“ Dann zog er sich in die Gartenlaube zurück – der Fixer hatte das Weite gesucht – und verbarrikadierte sich hinter geschlossenen Fenstern beim traurigen Licht einer Kerze in der Bierflasche. Er versuchte zu schlafen, doch immer wieder schreckte er aus dem kurzen Schlummer hoch, da es dauernd raschelte in dem Gebüsch vor dem Haus. Sicher, die Gasknarre lag unter dem Kopfkissen, doch es war ein merkwürdiges Gefühl, mit einer Waffe in Griffweite zu schlafen, die Knarre war entsichert und lag schwer in der Hand, möglicherweise wäre sie bei einer unbedachten Bewegung losgegangen. Armin entschied sich schließlich, die Waffe auszuprobieren, und feuerte eine Platzpatrone ab. Der Schuss zerteilte die nächtliche Stille und betäubte seine Ohren. Er hoffte bloß, dass es jeder gehört hatte und er ein für allemal klargestellt hatte, dass er seinen Pennplatz verteidigen würde. Schließlich fiel er in traumlosen Schlaf und erwachte erst wieder, als sein Laptop durch eindringliches Piepen darauf aufmerksam machte, dass er neue Post empfangen hatte. Die E-Mail kam von Müller. Er stellte klar, dass er dringend Informationen über die Aktivitäten Zappas benötigte und fügte verschämt hinzu, er habe den Programmcode seiner neuralen Schaltkreise disassembliert und füge ihn dem Brief bei, damit Armin einmal einen Blick darauf werfen könne. „Schließlich sollen Sie auch etwas tun für Ihr Geld. Ich möchte wissen, welches Ziel die Gedankenpolizei verfolgte, als die Spezialisten mir den Chip in den Kopf pflanzten.“
Armin stöhnte, druckte dann aber das Listing aus – es waren insgesamt etwa 500 Seiten – und legte den Papierstapel in eine Ecke, um ihn später zu studieren. Dann aß er den letzten Sesamkringel und entschloss sich, noch einmal bei den Autonomen vorbeizuschauen. Es war schon früher Vormittag, doch das Gebäude war verriegelt wie eine Festung, und wenngleich er sich sicher war, dass ihn kritische Augen hinter den Fenstern neugierig musterten, sprach niemand ein Wort. Auch der Info-Laden blieb geschlossen, und Armin wunderte sich, warum die Hausbesetzer von einem Laden sprachen, wenn es dort offensichtlich nichts zu kaufen gab. Er hätte viel gegeben für eine Tafel Schokolade oder eine große Flasche Mineralwasser, denn in der Laube gab es keinen Wasseranschluss, und er hatte großen Durst. Aber sicher war die Örtlichkeit nur für Insider gedacht, und wenn die Edelweißpiraten ihn sowieso schon als Polizeispitzel entlarvt hatten, musste er sich nicht die Mühe machen, sich als Kämpfer für die Gerechtigkeit einzuschleimen. Es war verflixt still am Alten Westbahnhof, die Fronten hatten sich geklärt: Auf der einen Seite die Polizei, der Geheimdienst und die verdeckten Ermittler, auf der anderen Seite die Aufständischen, die Obdachlosen und die Freaks, die alles sabotieren wollten, was nur im Entferntesten nach staatlicher Ordnung roch. Es war ein zähes und gespenstisches Ringen; die Karten lagen nun offen auf dem Tisch, und jeder versuchte im Stillen seine Fäden zu ziehen. Armin drückte sich an dem Haus vorbei, es fiel noch immer kein Wort, obwohl eine spürbare Spannung in der Luft lag. In der Nacht waren die Jugendlichen der Megalopolis wieder aktiv gewesen und hatten sämtliche Gebäude der Umgebung mit Farbschmierereien verziert. Armin lachte, er mochte die Graffiti, wenngleich die öffentliche Meinung besagte, dass die Sprayer ihre Sprüche mit giftigen Lösungsmitteln und einer Zahnbürste wieder von den Wänden entfernen sollten. Blitzblank und ordentlich, dachte Armin, so wollt ihr eure Häuser sehen, als nähme die gesellschaftliche Neurose dann ein Ende. Er ging wieder auf den Kontrollpunkt zu, auf der Suche nach einem Schluck Wasser, als ihm plötzlich ein heftiger Brandgeruch in die Nase stieg. Und dann traute er seinen Augen nicht, denn aus einem der alten Häuser am Bahndamm schlugen die Flammen auf die Straße; die Bewohner kletterten übernächtigt aus den Fenstern, und dann sah er Zappa, wie er gut gelaunt auf die Straße turnte und übermütig verkündigte: „Hurra, endlich passiert hier etwas! Der Keller brennt, und bald werden die Flammen übergreifen auf die gesamte Megalopolis. Hüte dich, Armin Lechner, denn du spielst wohl die kleinste Rolle von allen.“


© 2001 by Marcel Sommerick
 



 
Oben Unten