Im Fahrstuhl (Ein Versuch/Variante 1)

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Anonym

Gast
Null.
Der Mann steht gerade, den Blick nach vorn wie auf ein Lineal gelegt. Die linke Hand umfasst den abgenutzten Henkel des Aktenkoffers, während die rechte unnötigerweise und zum wiederholten Male die Krawatte zurecht rückt. Die Frau kann sich links von ihm nicht entscheiden, auf welchen Fuß sie den Schwerpunkt setzen soll, bei jeder Bewegung gibt der Rock ein belegtes Rauschen von sich. Sie hat eine große, schwarze Mappe unter den linken Arm geklemmt, die rechte Hand sucht etwas in der Jackentasche. Ihre Augen wandern fliehend auf der Suche nach einer Stelle, auf der sie sich ausruhen können.

Eins.
Der Mann hebt kurz den Kopf, als die Null erlischt und die Eins aufleuchtet. Obwohl sein Blick nach oben gerichtet war, hat er mehr die langen, dunklen Haare im Augenwinkel wahrgenommen als die verschmierten Ziffern. Eine Andeutung von Wellen schleicht für Sekunden über seine hohe Stirn. Die Frau betrachtet die Spitze ihres rechten Schuhs und dreht ihre Schultern um einen winzigen Winkel. Die rechte Hand hat ein Feuerzeug gefunden und hält es vorsichtshalber fest.

Zwei.
Sie lässt das Feuerzeug los, um sich eine Haarsträhne aus dem blassen Gesicht zu streichen. Sie verlagert das Gewicht auf das rechte Bein und entdeckt an der linken Schuhspitze einen dunklen Kratzer. Die Mappe rutscht zentimeterweit nach vorn. Sie schiebt sie mit einem sicheren Handgriff wieder zurück. Er schwingt den Aktenkoffer hinüber auf die andere Seite, um den linken Arm anzuwinkeln und eine chromblitzende Uhr freizulegen. Er schaut flüchtig auf ihren grobkarierten Rock. Es ist viertel vor neun.

Drei.
Er senkt den Arm, nachdem er erneut den Krawattenknoten korrigiert hat. Seine Lippen presst er zu einem undeutlichen Kräuseln zusammen, während er sich räuspert. Ihre Augen wandern an den Schaltern und Knöpfen entlang und verharren für einen Moment an dem riesigen roten Hebel, auf dem das Wort „Nothalt“ aufgedruckt ist. Ihre Mundwinkel wandern sekundenlang nach oben.

Vier.
Mit einem polternden Ruck kommt der Fahrstuhl zum Stehen. Die Frau blickt auf die beleuchtete Vier, dann auf die leicht verbeulten Türen, die sich scheppernd auseinander schieben. Der Mann schaut erneut auf die Uhr und dann zwischen den geöffneten Türen hindurch. Dort ist ein Flur mit ehemals weißem Linoleumfußboden und gegenüber eine Metalltür mit einem Schild. Der Mann hebt die Hand und drückt mehrmals einen der oberen Knöpfe, die Frau schaut der Bewegung hinterher und streift mit ihrem Blick sein leicht errötetes Ohr. Sie macht einen halben Schritt zurück und lehnt sich mit der Schulter an die Wand. Die Türen bewegen sich zögernd und rumpelnd aufeinander zu. Mit einem polternden Ruck gerät der Fahrstuhl wieder in Bewegung.

Fünf.
Der Mann stellt den Aktenkoffer auf dem Boden ab und lockert mit beiden Händen den Krawattenknoten. Dabei zieht er sein markantes Kinn und gleichzeitig die Augenbrauen nach oben. Dann zupft er seine Ärmel zurecht. Die Frau seufzt unhörbar und dreht mit dem Daumen ihren Ring am schlanken Mittelfinger. Sie hat hell und sauber lackierte Fingernägel.

Sechs.
Der Mann verschränkt die Hände hinter seinem Rücken. Dabei beugt er sich etwas nach vorne und schickt einen huschenden Blick zu den braunen Haaren um das geschwungene Profil. Die Frau reagiert mit einer unbehaglichen Bewegung von der Wand weg und fängt wieder an, das Gewicht zu verlagern. Sie kramt nach dem Feuerzeug, bekommt aber den Schlüsselbund zu fassen. Sie seufzt hörbar.

Sieben.
Der Mann starrt mit gerunzelter Stirn auf die Ziffernreihe und holt tief Luft. Die Frau sieht auf den schmutzigen Boden und hält die Luft an.

Acht.
Der Fahrstuhl kommt ruckelnd zum Stehen und erneut geben die Türen den Blick auf einen unbelebten Flur frei. Die Frau räuspert sich und geht mit wackligen Schritten geradeaus, wo sie sich geduckt umschaut. Der Mann schickt ihr einen langen Blick hinterher, bis sich die Türen langsam schließen.

Die Frau dreht sich um und sucht vergeblich auf den geschlossenen Fahrstuhltüren nach einer Antwort.

Neun.
Der Mann stellt sich vor, wie er sie angesprochen und wie ihre Stimme geklungen hätte. Er runzelt die Stirn und zieht die Augenbrauen zusammen. Er fühlt eine Ungeduld in sich aufsteigen. Er holt tief Luft und schnaubt.

Zehn.
Der Mann schließt die Augen und kratzt sich unsicher am Kopf. Er reibt die Nase und macht einen Schritt nach hinten. Sein Blick ist wieder geradeaus gerichtet und sein Mund presst sich fest zusammen.

Elf.
Er nimmt den Aktenkoffer in die linke Hand und rückt an der Krawatte seine Gedanken zurecht.

Zwölf.
Der Fahrstuhl spuckt den schnell voran schreitenden Mann aus. Er sieht sich nicht nach den schließenden Türen um, hört nur das Scheppern des alten Metalls. Als das Geräusch verklungen ist, bleibt er kurz stehen. Der Fahrstuhl setzt sich wieder in Bewegung und nimmt eine der vielen Abzweigungen einer möglichen Zukunft mit, die niemals stattfinden wird.
 
...eine schöne Erzählung, die mir gut gefällt: Die Idee anhand reiner Äußerlichkeiten eine nicht stattgefundene Bekanntschaft zu beschreiben - die reine Begegnung ohne die innere Beteiligung, die aber leicht nachlesbar an den Bewegungen und Körperhaltungen wird... wie oft passiert so etwas im Alltag!
Als ob menschliche Kommunikation so schwer wäre! Und immer bleiben nur die geschlossenen Türen.
Einziger (aber sehr nebensächlicher)Störfaktor: aus der Aktentasche wird ein Aktenkoffer. Ist mir deshalb aufgefallen, weil der Mann plötzlich beide Hände frei hat.
 

Anonym

Gast
Hallo sonnenstäubchen.
Vielen Dank fürs Kommentieren und den Hinweis. Habe nun einheitlich einen Aktenkoffer draus gemacht, das war mir glatt entgangen. Bei so einem eher statischen, nüchternen Text fällt mir das Redigieren sehr schwer, beim dritten Durchlesen sehe ich nur noch Buchstabensuppe...

Lieben Gruß
A.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Bei fünf und sechs wiederholt sich markant – störenderweise, weil es einmal für ihn und einmal für sie gilt. (Ich würde es bei der Frau ersetzen – markant klingt immer irgendwie nach "männlich").

Müssen es wirklich 12 Stockwerke sein? Er könnte ohne große Erzählverluste in der 10. Etage schon aussteigen, oder?

Ansonsten: Spannend und ziemlich gut gemacht. (Erinnert mich an Kästners "sehr moralische Droschke". )
 

Anonym

Gast
Hallo jon.
Vielen Dank für den Hinweis, das zweite "markant" habe ich ersetzt. Und auch vielen Dank fürs Lob. Leider kenne ich die "Sehr moralische Droschke" nicht, werde mal neugierigerweise stöbern, ob ich das irgendwo finde.

Mit den Stockwerken habe ich gehadert. In der Tat waren es zunächst 10. Dann wollte ich ein Dutzend voll machen. Und dann dachte ich auch daran, das Zögern und Wiedereinrenken des Mannes zu illustrieren. Wenn ich es jetzt so lese und nach der 10 enden lasse, fehlt mir etwas. Aber ich werde nochmal drüber nachdenken.

Lieben Gruß
A.
 



 
Oben Unten