Im Fahrstuhl (Variante 2)

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Anonym

Gast
Im Fahrstuhl

Null.
Die Frau betritt mit hastigen Schritten den Fahrstuhl. Kerzengerade stellt sie sich mit vor dem Körper verkreuzten Armen in die linke hintere Ecke. Der Mann hebt kurz seinen müden Blick. Er hat einen Aktenkoffer in der linken Hand.

Eins.
Die Frau lehnt sich seufzend an die blecherne Wand. Sie schiebt ihre rechte Hand in die Jackentasche und streicht mit der linken den grobkarierten Rock glatt. Ihre Augen wandern an den Schaltern und Knöpfen entlang und verharren für einen Moment an dem riesigen roten Hebel, auf dem das Wort „Nothalt“ aufgedruckt ist. Ihre Lippen kräuseln sich für einen kurzen Moment. Der Mann fährt sich mit der rechten Hand durchs wilde, grau durchzogene Haar, dabei legt er den Kopf schräg und stößt ein leises Schnauben aus.

Zwei.
Die Frau kramt mit der rechten Hand in der Jackentasche und bekommt den Schlüsselbund zu fassen. Sie dreht ihn unschlüssig in den Fingern. Der Mann kann sich nicht entscheiden, auf welchen Fuß er den Schwerpunkt setzen soll, bei jeder Bewegung gibt sein Jackett ein belegtes Rauschen von sich. Eine Andeutung von Wellen schleicht für Sekunden über seine hohe Stirn. Mit einer plötzlichen Bewegung hebt er den Arm und legt eine chromblitzende Uhr frei. Er schaut flüchtig auf ihren grobkarierten Rock. Es ist viertel vor sieben.

Drei.
Der Mann streicht sich erneut durch das Haar. Er senkt den Arm, nachdem er den Krawattenknoten korrigiert hat. Seine Lippen presst er zu einem undeutlichen Kräuseln zusammen, während er sich räuspert. Die Frau lässt den Schlüsselbund los und schiebt sich wieder in eine gerade Position. Sie reckt das Kinn und verschränkt die Hände hinter dem Rücken.

Vier.
Mit einem polternden Ruck kommt der Fahrstuhl zum Stehen. Die Frau blickt auf die beleuchtete Vier, dann auf die leicht verbeulten Türen, die sich scheppernd auseinander schieben. Der Mann schaut erneut auf die Uhr und dann zwischen den geöffneten Türen hindurch. Dort ist ein Flur mit ehemals weißem Linoleumfußboden und gegenüber eine Metalltür mit einem Schild. Der Mann hebt die Hand und drückt mehrmals einen der oberen Knöpfe, die Frau schaut der Bewegung hinterher und streift mit ihrem Blick sein leicht errötetes Ohr. Sie macht einen halben Schritt zurück und lehnt sich wieder mit der Schulter an die Wand. Die Türen bewegen sich zögernd und rumpelnd aufeinander zu. Mit einem polternden Ruck gerät der Fahrstuhl wieder in Bewegung.

Fünf.
Der Mann stellt den Aktenkoffer auf dem Boden ab und lockert mit beiden Händen den Krawattenknoten. Dabei zieht er sein markantes Kinn und gleichzeitig die Augenbrauen nach oben. Dann zupft er seine Ärmel zurecht. Die Frau seufzt unhörbar und dreht mit dem Daumen ihren Ring am schlanken Mittelfinger. Sie hat hell und sauber lackierte Fingernägel.

Sechs.
Der Mann verschränkt die Hände hinter seinem Rücken. Dabei beugt er sich etwas nach vorne und schickt einen huschenden Blick zu den braunen Haaren um das stimmige Profil. Die Frau reagiert mit einer unbehaglichen Bewegung und fängt an, das Gewicht zu verlagern. Sie kramt nach dem Schlüsselbund, bekommt aber das Feuerzeug zu fassen. Sie seufzt hörbar.

Sieben.
Der Mann starrt mit gerunzelter Stirn auf die Ziffernreihe und holt tief Luft. Die Frau sieht auf den schmutzigen Boden und hält die Luft an.

Acht.
Der Fahrstuhl kommt ruckelnd zum Stehen und erneut geben die Türen den Blick auf einen unbelebten Flur frei. Die Frau räuspert sich. Der Mann schickt ihr einen langen, unerwiderten Blick hinüber, bis sich die Türen langsam schließen.

Neun.
Die Frau holt den Schlüsselbund aus der Tasche und fängt an, ihn in ihren Fingern hin- und herzuwenden. Der Mann runzelt die Stirn und zieht die Augenbrauen zusammen. Er fühlt eine Ungeduld in sich aufsteigen. Er holt tief Luft und schnaubt.

Zehn.
Der Mann schließt die Augen und kratzt sich unsicher am Kopf. Er reibt die Nase und macht einen Schritt nach hinten. Sein Blick ist geradeaus gerichtet und sein Mund presst sich fest zusammen. Die Frau blickt auf die abgenutzten Türen, auf dem jemand verewigen wollte: Leo liebt Susi. Sie rasselt erneut mit den Schlüsseln.

Elf.
Er nimmt den Aktenkoffer in die linke Hand und rückt an der Krawatte seine Gedanken zurecht. Die Frau blickt seufzend auf den Boden.

Zwölf.
Der Fahrstuhl spuckt den schnell voran schreitenden Mann aus. Die Frau geht langsam einige Schritte hinter ihm. Er sieht sich nicht nach den schließenden Türen um, hört nur das Scheppern des alten Metalls. Als das Geräusch verklungen ist, bleibt er kurz stehen und dreht sich zu ihr um. „Wann müssen wir nachher los?“, fragt er nüchtern. Sie zuckt leicht mit den Schultern und antwortet: „Um halb acht. Wir sollen pünktlich sein, Anne will etwas kochen.“ Der Fahrstuhl setzt sich wieder in Bewegung und nimmt eine Vergangenheit mit, von der niemand etwas wissen will.
 



 
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