Silbenstaub
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Die feuersichere Eisentür krachte an die Wand in dem fensterlosen Magazinraum im Keller des „Museums für Information“ in Paderborn. Zwei kräftige Männer mit hochgekrempelten Ärmeln karierter Hemden schleppten vier Stapel mit zusammengebundenen Zeitschriften herein. Sie grinsten mich an. In der Mitte des Depots saß ich auf einem alten Drehstuhl an einem winzigen Schreibtisch, auf dem eine Lampe stand, die den Tisch zwar ausreichend erhellte, den restlichen Raum aber nur spärlich. Schatten tanzten an den Wänden.
„Da haben Sie aber zu tun“, sagte der Mann mit der Schiebermütze.
Ich seufzte, „Ja, ja, kommt noch viel?“
„Der LKW ist erst halb leer!“
„Bringen Sie alles her und suchen Sie einen freien Platz für das Material.“
Mit einem dumpfen Plumps fielen die Papierpakete auf den grauen Steinboden. Die Männer gingen hinaus. Ich schaute auf die Uhr, mein Blick wanderte an den Blättertürmen entlang, die sich an den Wänden stapelten. Meine Lesebrille mit hoher Dioptrienzahl schob ich auf die Nasenwurzel, die widerspenstige braune Locke, die mir immer ins Gesicht fiel, zog ich energisch hinter das Ohr. Ich rollte mit einem Kugelschreiber fahrig über das Holz. Draußen war Sommer. Dort unten gab es keine Jahreszeiten und keine Zeit. Eine Fliege hatte sich verirrt und flatterte nervös in der stickigen Luft. Sie setzte sich auf die Lampe und beobachtete mich.
Vor mir lag ein Stapel „Bravo“. Kustodin war ich und gestaltete eine Ausstellung zur Pressegeschichte. Ich sichtete historische Zeitschriften, die ich von einem Sammler angekauft hatte, zweitausend Stück. Tagein tagaus hockte ich im Keller. Mein schwarzes T-Shirt war staubig geworden von den abgegriffenen und ausgelesenen Journalen. An jenem Tag wurde der Rest Magazine angeliefert. „Kristall“, „Constanze“, „Hören und Sehen“, „Quick“, „Revue“, es nahm kein Ende.
Aber es lenkte mich ab von meinem Plan, den ich seit dem Vortag verfolgte.
Am Morgen vor der Arbeit war ich erst orientierungslos durch die Gassen und Passagen der Altstadt geirrt, hatte in jeden Winkel geschaut. Dann sah ich den unscheinbaren Laden am Ende der Straße, ein Spezialgeschäft für hochwertige Kücheneinrichtungen. Ein Santokumesser lag im Schaufenster. Genau das wollte ich haben. Die Verkäuferin zählte alle Vorzüge des Messers auf und pries den harten Stahl. Sie sprach von Fleisch und Fisch und, dass auch die härteste Wurst wie weiche Butter geschnitten werden kann. Ich hatte eine Gänsehaut, ich dachte auch an Fleisch, an weißes fettes Fleisch.
Später im Kellerraum versteckte ich das Messer unter einem Stapel „Kristall“, es sollte mich begleiten am Abend. Ich wollte in den Zug steigen und nach Hagen fahren, wo ich geboren wurde.
In einem zweistöckigen Haus an einer Eisenbahnlinie wuchs ich auf. Mehrere Güterzüge pro Stunde ratterten direkt neben dem Esstisch vorbei. Dann klirrten die Kaffeetassen und das Frühstücksei hüpfte. Große Behälter mit der Aufschrift „Brandt-Zwieback“ hasteten über die Schienen. Unter dem Badezimmerfenster hatte der Vermieter einen Komposthaufen angelegt. Der belohnte uns im Sommer mit unzähligen krabbelnden Besuchern in der Dusche und im Waschbecken.
Meine Eltern hatten keine Freudensprünge gemacht, als sie ein Mädchen bekamen.
Ich verbrachte viel Zeit im Hof. Schmutzige Mülleimer standen herum. An der Rückseite eines Ladens befand sich eine schmale Rampe zur Anlieferung von Waren. Dort saß ich oft. Es roch nach Backwaren. Fast war es so, als ob ich die Baiserhaube eines Stück Stachelbeerkuchens mit der Zunge gestreichelt hätte. Im Hof herrschte der bissige Hund des Vermieters. Ich entwickelte im Laufe der Zeit verschiedene Tricks, um unbeschadet am Tier vorbei zu kommen. Nur einmal schnappte es zu und rammte die spitzen Fangzähne in meinen Oberschenkel. Die anderen Kinder in der Nachbarschaft hatten Rollschuhe im Sommer und Schlitten im Winter. Ich stand ohne etwas daneben. Oft schlich ich mich in den Keller. Dort war ich in meinem Element. In meiner Welt, für mich allein. Eine Kellerassel lächelte mich an. Ich plauderte mit ihr. Durch die Brettertüren spähte ich in die Kellerverschläge und entdeckte heimliche Kostbarkeiten: ausrangierte Weihnachtsmannkostüme, Weckgläser mit graubraunen klumpigen Innereien, Fahrradskelette, durchgebissene Puppenköpfe.
Nur wenn Karl sich anschlich und mich beobachtete, dann wurde mir kalt. Ich machte mir in die Hose. Er sah es und grinste anzüglich. Je älter ich wurde, desto aufdringlicher verfolgte er mich. Er versuchte immer wieder, meinen Po und meine Brust anzufassen. Ich ekelte mich vor seiner Quallen-Hand, die wie aus dem Nichts auftauchte. So schnell ich konnte, lief ich weg.
Manchmal gab er mir Schokolade. Dann ertrug ich seine glibberige Hand.
Einmal schenkte er mir eine Puppe mit einem rosa Kleid. Ich strahlte über das ganze Gesicht, und er lachte laut. Es war wie Weihnachten. Oder wie Weihnachten sein sollte. Mit Geschenken. Nur gab es keinen Tannen- und Lebkuchenduft. Keine flackernden Kerzen. Der Geruch von Karl durchdrang die kühle abgestandene Kellerluft.
Ich kam immer wieder nach unten bis ich achtzehn wurde.
Die schwere Tür des Magazins öffnete sich erneut und weitere Bündel wurden angeliefert und aufgestapelt. Die Männer stöhnten und wischten sich den Schweiß von der Stirn.
„Auf zur nächsten Fuhre“, sagte der eine und schlug seinem Kollegen leicht auf die Schulter.
„Die Türklinke ist ganz lose, und überhaupt ist die Tür ganz verklemmt“, bemerkte er noch, als sie den Raum verließen.
Bald komme ich gar nicht mehr zur Tür, fantasierte ich. Wie in einem Papiergrab. Kein Laut von draußen drang in diese Gruft. Die Fliege drehte wieder ihre Runden. Ich zog das Messer aus seinem Versteck. Die scharfe Klinge lachte mich an. Ich sah schon den dicken Leib aufspringen, wenn ich das Messer in ihn hineinstoße. Und in das Herz.
Seit zwei Jahren fuhr ich fast jeden Abend nach der Arbeit nach Hagen bei Wind und Wetter und legte mich auf die Lauer und wartete. Vor einem Jahr sah ich Karls Freundin weinend aus dem Haus stürmen. Sie humpelte leicht, die Augenbraue war ein roter Strich. Blutstropfen durchnässten ihren Mantelkragen. Karl saß mit einer Flasche Bier am Küchentisch und starrte die Wand an. Die Freundin kam nie wieder. Er gehörte wieder mir allein.
Auch am vorangegangenen Abend hatte ich ihn beobachtet. Ich stand gegenüber seiner Erdgeschosswohnung im Schatten eines Baumes in der unscheinbaren Seitenstraße mit grobem Kopfsteinpflaster und dem Geruch von Einsamkeit. Nieselregen benetzte mein Gesicht.
Doch alles war anders als sonst. Ich sah ihn Koffer packen. Er zerrte Pullover und Hosen aus dem Schrank und stopfte sie ins Reisegepäck. Ich sah seinen Bauch auf und ab hüpfen, wenn er von einem Zimmer ins nächste lief. In der Nachbarschaft erfuhr ich, dass er nach Australien auswandern wollte.
Ich lief zum Bahnhof, erreichte gerade noch einen Zug. Schnell nach Hause. Nachdenken. Er will weg. Die ganze Nacht lief ich im Zimmer auf und ab, umkreiste den Couchtisch. Wanderte in die Küche und wieder zurück. Dann fand ich eine Lösung.
Die Tür zum Museumsmagazin wurde mit einem quietschenden Laut aufgestoßen, schnell versteckte ich das Messer in der Schreibtischschublade. Ich schielte auf die Uhr, bald konnte ich gehen.
Er wird nicht fortgehen. Er wird bleiben. Für immer. Bei mir.
Ein Schwung neuen Materials landete in der Ecke.
„So, das ist für heute der letzte Stapel. Wir machen morgen weiter.“
Die Männer winkten mir zu und eilten aus dem Raum. Die Tür fiel laut ins Schloss. Ich hörte die Männer gedämpft sprechen und leise lachen, Schritte entfernten sich, dann war Ruhe. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, sorgfältig schob ich das Messer in seine Schutzhülle.
Ich stand auf und ging zur Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. Ich rüttelte an der Klinke. Mit einem lauten Knacks brach sie ab und lag in meiner Hand.
Ich schrie, so laut ich konnte: „Kommen Sie zurück. Ich bin eingesperrt. Ich muss raus. Sonst fährt er weg.“
Stille. Nur ganz leises Knistern. Wahrscheinlich eine Maus zwischen dem Papier.
„Bitte, kommen Sie zurück. Ich muss es heute machen. Es geht nur heute.“
Ich hämmerte auf die Tür ein. Meine Faust blutete. Ich trat auf den Ausgang ein. Nichts rührte sich. Tränen liefen über mein Gesicht.
Ich fiel in die Papierstapel, es raschelte, ich war im Keller, allein, in meiner Welt.
Ich sah die Puppe vor mir. Sie verwandelte sich in ein kahlköpfiges Monster. Karls Mund erschien an der Wand und lachte lauthals. Er verhöhnte mich.
Ich kreischte: „Lass mich endlich in Ruhe!“
Langsam stand ich auf und tastete mich zum Wandtelefon. Ich rief den Hausmeister an.
„Ja, Meier hier.“
„Hallo“, schrie ich, „Herr Meier, hören Sie mich?“
„Ja, was ist los?“
„Ich bin eingeschlossen im Zeitschriftenmagazin. Die Türklinke ist abgebrochen. Und ich hab´s eilig.“
„Ja, ich komme gleich zu Ihnen“, stöhnte er.
Ich hörte noch, wie er zum Kollegen sagte, „ich befreie mal die Brillenschlange, die ist gefangen.“ Kichern drang in mein Ohr.
Zehn Minuten später wurde die Tür mit einem widerspenstigen Knarren geöffnet.
„So, nun können Sie Feierabend machen. Haben Sie noch was Nettes vor?“
Er schmatzte und leckte sich die Lippen. Ich nickte.
Er schob einen Keil unter die Tür und schlurfte aus dem Raum.
Die Tür war offen.
Ein kalter Wind wehte vom schwarzen Flurschlauch herein.
Ich sah in die Dunkelheit und in mein Leben.
Ich griff nach meiner Tasche. Es war schon 19 Uhr. In einer halben Stunde würde der Zug fahren. Den hatte ich schon oft genommen.
Ob er schon weg ist. Was mache ich, wenn er weg ist. Was mache, wenn er da ist. Wenn ich vor ihm stehe mit dem Messer in der Hand. Dann ist da nur noch Leere. Dann wird mir das Messer aus der Hand fallen.
Soll er doch fahren, sauste es durch meinen Kopf, der dröhnte und pochte wie eine offene Wunde.
Ich setzte mich auf den Stuhl. Die Tasche sank zu Boden. Ich zog das Messer heraus und prüfte mit dem Zeigefinger die Klinge. Ganz leicht glitt die scharfe Kante ins Fleisch. Ohne Widerstand. Aus dem Spalt rann zögerlich ein Blutstropfen am Finger hinab. Ich zog das Messer über die Innenfläche des Handgelenks. Als ob es dahin gehörte. Kein Schmerz. Der lief aus mir hinaus. Der tropfte auf den Boden und klebte dort fest. Ich fiel vom Stuhl. Weißen Dunst sah ich vom Boden aufsteigen, wie ein Gespinst, das sich in einer Hecke verfangen hatte. An einem lauen Spätsommermorgen. Ich streckte mich aus und legte mich auf die Seite. Das Papier der Zeitschriften färbte sich rot. Von Ferne hörte ich die hohen, dumpfen, hellen, harten Klänge der zahlreichen Kirchen Paderborns bei ihrem Abendlied.
Guten Flug, Onkel Karl.
„Mach mal das Radio lauter!“ Hausmeister Meier blickte seinen Kollegen an.
„In den Abendstunden ereignete sich in Hagen ein Gewaltverbrechen. Ein Mann, circa Mitte Fünfzig, wurde auf offener Straße erschossen. Er hatte gerade die Haustür mit zwei Rollkoffern verlassen und wollte zum Taxi gehen, das auf der Straßenseite gegenüber auf ihn wartete. Der Täter konnte entkommen. Näheres zum Tathergang ist noch nicht bekannt. Der Taxifahrer steht unter Schock. Anwohner werden zur Zeit befragt. Wir melden uns wieder in einer halben Stunde. Nun erst mal Musik.“
„Was wieder so alles passiert ist in der Welt, Mord und Totschlag.“
Der Hausmeister schüttelte den Kopf, wippte auf seinem Stuhl hin und her und legte die Zeitung beiseite.
„Ich geh mal schauen, ob die Brillenschlange nun endlich weg ist.“
„Ja, mach das.“
„Da haben Sie aber zu tun“, sagte der Mann mit der Schiebermütze.
Ich seufzte, „Ja, ja, kommt noch viel?“
„Der LKW ist erst halb leer!“
„Bringen Sie alles her und suchen Sie einen freien Platz für das Material.“
Mit einem dumpfen Plumps fielen die Papierpakete auf den grauen Steinboden. Die Männer gingen hinaus. Ich schaute auf die Uhr, mein Blick wanderte an den Blättertürmen entlang, die sich an den Wänden stapelten. Meine Lesebrille mit hoher Dioptrienzahl schob ich auf die Nasenwurzel, die widerspenstige braune Locke, die mir immer ins Gesicht fiel, zog ich energisch hinter das Ohr. Ich rollte mit einem Kugelschreiber fahrig über das Holz. Draußen war Sommer. Dort unten gab es keine Jahreszeiten und keine Zeit. Eine Fliege hatte sich verirrt und flatterte nervös in der stickigen Luft. Sie setzte sich auf die Lampe und beobachtete mich.
Vor mir lag ein Stapel „Bravo“. Kustodin war ich und gestaltete eine Ausstellung zur Pressegeschichte. Ich sichtete historische Zeitschriften, die ich von einem Sammler angekauft hatte, zweitausend Stück. Tagein tagaus hockte ich im Keller. Mein schwarzes T-Shirt war staubig geworden von den abgegriffenen und ausgelesenen Journalen. An jenem Tag wurde der Rest Magazine angeliefert. „Kristall“, „Constanze“, „Hören und Sehen“, „Quick“, „Revue“, es nahm kein Ende.
Aber es lenkte mich ab von meinem Plan, den ich seit dem Vortag verfolgte.
Am Morgen vor der Arbeit war ich erst orientierungslos durch die Gassen und Passagen der Altstadt geirrt, hatte in jeden Winkel geschaut. Dann sah ich den unscheinbaren Laden am Ende der Straße, ein Spezialgeschäft für hochwertige Kücheneinrichtungen. Ein Santokumesser lag im Schaufenster. Genau das wollte ich haben. Die Verkäuferin zählte alle Vorzüge des Messers auf und pries den harten Stahl. Sie sprach von Fleisch und Fisch und, dass auch die härteste Wurst wie weiche Butter geschnitten werden kann. Ich hatte eine Gänsehaut, ich dachte auch an Fleisch, an weißes fettes Fleisch.
Später im Kellerraum versteckte ich das Messer unter einem Stapel „Kristall“, es sollte mich begleiten am Abend. Ich wollte in den Zug steigen und nach Hagen fahren, wo ich geboren wurde.
In einem zweistöckigen Haus an einer Eisenbahnlinie wuchs ich auf. Mehrere Güterzüge pro Stunde ratterten direkt neben dem Esstisch vorbei. Dann klirrten die Kaffeetassen und das Frühstücksei hüpfte. Große Behälter mit der Aufschrift „Brandt-Zwieback“ hasteten über die Schienen. Unter dem Badezimmerfenster hatte der Vermieter einen Komposthaufen angelegt. Der belohnte uns im Sommer mit unzähligen krabbelnden Besuchern in der Dusche und im Waschbecken.
Meine Eltern hatten keine Freudensprünge gemacht, als sie ein Mädchen bekamen.
Ich verbrachte viel Zeit im Hof. Schmutzige Mülleimer standen herum. An der Rückseite eines Ladens befand sich eine schmale Rampe zur Anlieferung von Waren. Dort saß ich oft. Es roch nach Backwaren. Fast war es so, als ob ich die Baiserhaube eines Stück Stachelbeerkuchens mit der Zunge gestreichelt hätte. Im Hof herrschte der bissige Hund des Vermieters. Ich entwickelte im Laufe der Zeit verschiedene Tricks, um unbeschadet am Tier vorbei zu kommen. Nur einmal schnappte es zu und rammte die spitzen Fangzähne in meinen Oberschenkel. Die anderen Kinder in der Nachbarschaft hatten Rollschuhe im Sommer und Schlitten im Winter. Ich stand ohne etwas daneben. Oft schlich ich mich in den Keller. Dort war ich in meinem Element. In meiner Welt, für mich allein. Eine Kellerassel lächelte mich an. Ich plauderte mit ihr. Durch die Brettertüren spähte ich in die Kellerverschläge und entdeckte heimliche Kostbarkeiten: ausrangierte Weihnachtsmannkostüme, Weckgläser mit graubraunen klumpigen Innereien, Fahrradskelette, durchgebissene Puppenköpfe.
Nur wenn Karl sich anschlich und mich beobachtete, dann wurde mir kalt. Ich machte mir in die Hose. Er sah es und grinste anzüglich. Je älter ich wurde, desto aufdringlicher verfolgte er mich. Er versuchte immer wieder, meinen Po und meine Brust anzufassen. Ich ekelte mich vor seiner Quallen-Hand, die wie aus dem Nichts auftauchte. So schnell ich konnte, lief ich weg.
Manchmal gab er mir Schokolade. Dann ertrug ich seine glibberige Hand.
Einmal schenkte er mir eine Puppe mit einem rosa Kleid. Ich strahlte über das ganze Gesicht, und er lachte laut. Es war wie Weihnachten. Oder wie Weihnachten sein sollte. Mit Geschenken. Nur gab es keinen Tannen- und Lebkuchenduft. Keine flackernden Kerzen. Der Geruch von Karl durchdrang die kühle abgestandene Kellerluft.
Ich kam immer wieder nach unten bis ich achtzehn wurde.
Die schwere Tür des Magazins öffnete sich erneut und weitere Bündel wurden angeliefert und aufgestapelt. Die Männer stöhnten und wischten sich den Schweiß von der Stirn.
„Auf zur nächsten Fuhre“, sagte der eine und schlug seinem Kollegen leicht auf die Schulter.
„Die Türklinke ist ganz lose, und überhaupt ist die Tür ganz verklemmt“, bemerkte er noch, als sie den Raum verließen.
Bald komme ich gar nicht mehr zur Tür, fantasierte ich. Wie in einem Papiergrab. Kein Laut von draußen drang in diese Gruft. Die Fliege drehte wieder ihre Runden. Ich zog das Messer aus seinem Versteck. Die scharfe Klinge lachte mich an. Ich sah schon den dicken Leib aufspringen, wenn ich das Messer in ihn hineinstoße. Und in das Herz.
Seit zwei Jahren fuhr ich fast jeden Abend nach der Arbeit nach Hagen bei Wind und Wetter und legte mich auf die Lauer und wartete. Vor einem Jahr sah ich Karls Freundin weinend aus dem Haus stürmen. Sie humpelte leicht, die Augenbraue war ein roter Strich. Blutstropfen durchnässten ihren Mantelkragen. Karl saß mit einer Flasche Bier am Küchentisch und starrte die Wand an. Die Freundin kam nie wieder. Er gehörte wieder mir allein.
Auch am vorangegangenen Abend hatte ich ihn beobachtet. Ich stand gegenüber seiner Erdgeschosswohnung im Schatten eines Baumes in der unscheinbaren Seitenstraße mit grobem Kopfsteinpflaster und dem Geruch von Einsamkeit. Nieselregen benetzte mein Gesicht.
Doch alles war anders als sonst. Ich sah ihn Koffer packen. Er zerrte Pullover und Hosen aus dem Schrank und stopfte sie ins Reisegepäck. Ich sah seinen Bauch auf und ab hüpfen, wenn er von einem Zimmer ins nächste lief. In der Nachbarschaft erfuhr ich, dass er nach Australien auswandern wollte.
Ich lief zum Bahnhof, erreichte gerade noch einen Zug. Schnell nach Hause. Nachdenken. Er will weg. Die ganze Nacht lief ich im Zimmer auf und ab, umkreiste den Couchtisch. Wanderte in die Küche und wieder zurück. Dann fand ich eine Lösung.
Die Tür zum Museumsmagazin wurde mit einem quietschenden Laut aufgestoßen, schnell versteckte ich das Messer in der Schreibtischschublade. Ich schielte auf die Uhr, bald konnte ich gehen.
Er wird nicht fortgehen. Er wird bleiben. Für immer. Bei mir.
Ein Schwung neuen Materials landete in der Ecke.
„So, das ist für heute der letzte Stapel. Wir machen morgen weiter.“
Die Männer winkten mir zu und eilten aus dem Raum. Die Tür fiel laut ins Schloss. Ich hörte die Männer gedämpft sprechen und leise lachen, Schritte entfernten sich, dann war Ruhe. Schnell packte ich meine Sachen zusammen, sorgfältig schob ich das Messer in seine Schutzhülle.
Ich stand auf und ging zur Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. Ich rüttelte an der Klinke. Mit einem lauten Knacks brach sie ab und lag in meiner Hand.
Ich schrie, so laut ich konnte: „Kommen Sie zurück. Ich bin eingesperrt. Ich muss raus. Sonst fährt er weg.“
Stille. Nur ganz leises Knistern. Wahrscheinlich eine Maus zwischen dem Papier.
„Bitte, kommen Sie zurück. Ich muss es heute machen. Es geht nur heute.“
Ich hämmerte auf die Tür ein. Meine Faust blutete. Ich trat auf den Ausgang ein. Nichts rührte sich. Tränen liefen über mein Gesicht.
Ich fiel in die Papierstapel, es raschelte, ich war im Keller, allein, in meiner Welt.
Ich sah die Puppe vor mir. Sie verwandelte sich in ein kahlköpfiges Monster. Karls Mund erschien an der Wand und lachte lauthals. Er verhöhnte mich.
Ich kreischte: „Lass mich endlich in Ruhe!“
Langsam stand ich auf und tastete mich zum Wandtelefon. Ich rief den Hausmeister an.
„Ja, Meier hier.“
„Hallo“, schrie ich, „Herr Meier, hören Sie mich?“
„Ja, was ist los?“
„Ich bin eingeschlossen im Zeitschriftenmagazin. Die Türklinke ist abgebrochen. Und ich hab´s eilig.“
„Ja, ich komme gleich zu Ihnen“, stöhnte er.
Ich hörte noch, wie er zum Kollegen sagte, „ich befreie mal die Brillenschlange, die ist gefangen.“ Kichern drang in mein Ohr.
Zehn Minuten später wurde die Tür mit einem widerspenstigen Knarren geöffnet.
„So, nun können Sie Feierabend machen. Haben Sie noch was Nettes vor?“
Er schmatzte und leckte sich die Lippen. Ich nickte.
Er schob einen Keil unter die Tür und schlurfte aus dem Raum.
Die Tür war offen.
Ein kalter Wind wehte vom schwarzen Flurschlauch herein.
Ich sah in die Dunkelheit und in mein Leben.
Ich griff nach meiner Tasche. Es war schon 19 Uhr. In einer halben Stunde würde der Zug fahren. Den hatte ich schon oft genommen.
Ob er schon weg ist. Was mache ich, wenn er weg ist. Was mache, wenn er da ist. Wenn ich vor ihm stehe mit dem Messer in der Hand. Dann ist da nur noch Leere. Dann wird mir das Messer aus der Hand fallen.
Soll er doch fahren, sauste es durch meinen Kopf, der dröhnte und pochte wie eine offene Wunde.
Ich setzte mich auf den Stuhl. Die Tasche sank zu Boden. Ich zog das Messer heraus und prüfte mit dem Zeigefinger die Klinge. Ganz leicht glitt die scharfe Kante ins Fleisch. Ohne Widerstand. Aus dem Spalt rann zögerlich ein Blutstropfen am Finger hinab. Ich zog das Messer über die Innenfläche des Handgelenks. Als ob es dahin gehörte. Kein Schmerz. Der lief aus mir hinaus. Der tropfte auf den Boden und klebte dort fest. Ich fiel vom Stuhl. Weißen Dunst sah ich vom Boden aufsteigen, wie ein Gespinst, das sich in einer Hecke verfangen hatte. An einem lauen Spätsommermorgen. Ich streckte mich aus und legte mich auf die Seite. Das Papier der Zeitschriften färbte sich rot. Von Ferne hörte ich die hohen, dumpfen, hellen, harten Klänge der zahlreichen Kirchen Paderborns bei ihrem Abendlied.
Guten Flug, Onkel Karl.
„Mach mal das Radio lauter!“ Hausmeister Meier blickte seinen Kollegen an.
„In den Abendstunden ereignete sich in Hagen ein Gewaltverbrechen. Ein Mann, circa Mitte Fünfzig, wurde auf offener Straße erschossen. Er hatte gerade die Haustür mit zwei Rollkoffern verlassen und wollte zum Taxi gehen, das auf der Straßenseite gegenüber auf ihn wartete. Der Täter konnte entkommen. Näheres zum Tathergang ist noch nicht bekannt. Der Taxifahrer steht unter Schock. Anwohner werden zur Zeit befragt. Wir melden uns wieder in einer halben Stunde. Nun erst mal Musik.“
„Was wieder so alles passiert ist in der Welt, Mord und Totschlag.“
Der Hausmeister schüttelte den Kopf, wippte auf seinem Stuhl hin und her und legte die Zeitung beiseite.
„Ich geh mal schauen, ob die Brillenschlange nun endlich weg ist.“
„Ja, mach das.“