Im Kinderknast

Die Ärzte fanden Klein-Arno etwas schwächlich. Die AOK bewilligte eine Kur. Am Reisetag brachten ihn seine Eltern mit dem Auto in die nahe Großstadt. Auf dem Busparkplatz waren viele fremde Kinder. Arno war etwas bänglich zumute, es war seine erste Reise überhaupt.

Das Sanatorium lag im Hochschwarzwald. Die Fahrt dauerte viele Stunden. Die Kinder langweilten sich. Einigen wurde vom Busfahren schlecht. Hinter Freiburg ging es ins Gebirge. - "Da schaut einmal, der Hirschsprung!" sagte die Betreuerin. Alle reckten den Hals, um das Denkmal des Hirschs zu bewundern. Die unter Übelkeit Leidenden vertrugen die ruckartige Bewegung nicht: Jetzt kotzten sie wie auf Kommando.

Das Heim lag in einem engen Waldtal. Der Weiler bestand nur aus vier Häusern. Im Nachbarort (sieben Häuser) gab es einen Laden, in dem man Süßwaren kaufen konnte; falls man Geld hatte. Das Essen im Heim war weder besonders schmackhaft noch geradezu üppig. Eine Hauptrolle spielte der Haferbrei, der jeden Morgen anders gefärbt auf den Tisch kam: rosa oder gelb oder grün. Die Kinder ließen sich nicht täuschen: Der Brei schmeckte immer eklig.

Eine Nahrungsergänzung waren die Bucheckern, die sie im Wald auflasen. Das brachte etwas Abwechslung in die langweiligen Spaziergänge. Die ältere Tante, die die Kinder herumführte, sang mit brüchiger Stimme: "Wenn alle Brünnlein fließen, ja, flie - hie - ßen ..." Klein-Arno erzählte den anderen, er wolle später Filmstar werden und nur in Kriegs- und Liebesfilmen mitspielen.

Ab und zu durften die Kinder Briefe nach Hause schreiben. Die fertigen mussten zur Kontrolle vorgelegt werden. Sie wurden zensiert, d.h. jede Kritik wurde unterbunden. Da war schon einmal eine ganze Seite neu zu schreiben. Ein Kind berichtete: "Gestern aß ich keinen Pudding." Es musste geändert werden: "Gestern aß ich einen Teller Pudding."

Um die erwünschte Gewichtszunahme zu erreichen, ließ man die Kinder den halben Nachmittag in Liegestühlen Ruhe halten. Die Stühle standen in einem langweiligen Wintergarten. Auch hier wurde gesungen: "Wenn alle Brünnlein flie - hie - ßen ..." Oder, noch aufregender: "C - A - F - F - E - E ... schwächt die Nerven, macht dich bla - ass u - hund krank..." Und dabei gab es im Heim nie Kaffee zu trinken.

Es herrschte immer Mangel an Liegestühlen. Stets mussten sich einige zu zweit in einen Liegestuhl quetschen. Sie quengelten und ruckelten, bis wieder eine Stoffbahn riss und auch dieser Stuhl ausrangiert werden musste. Ersatzstühle gab es nicht.

Allmählich bahnte sich etwas an - eine Kinderrevolte. Sollte man einfach weglaufen? Einige schrieben Briefe nach Hause, über die wahren Zustände im Heim, und baten: Holt uns hier raus! Die Leitung bekam Wind davon, bevor die Briefe im Kasten lagen. Es folgten eine Durchsuchung der Zimmer und Stubenarrest am nächsten Tag.

Endlich waren die sechs Wochen um. Als letztes Frühstück gab es noch einmal diesen Brei. Höchste Zeit, dass sie wieder etwas Festes zu beißen bekamen, alles rutschte bei ihnen nur noch durch.

"Da, schaut noch einmal, der Hirschsprung!" Klein-Arno verdrehte den Hals und jetzt kotzte auch er.

Seine Eltern nahmen ihn auf dem Parkplatz in Empfang. "Na, gut erholt?" Die Zweifel waren berechtigt. Zwei Tage später mussten sie ihn zum Arzt bringen. Er hatte eine Gelbsucht mitgebracht und konnte noch wochenlang nicht zur Schule gehen.
 
G

Grendel

Gast
Hallo Arno,

den Text habe ich jetzt zum dritten Mal gelesen. Ich habe gezögert, etwas dazu zu schreiben, weil ich den Eindruck hatte, dass die Geschichte vielleicht einen persönlichen Hintergrund hat. Der Inhalt berührt mich, auch wenn mir die Form nicht zusagt. Wie soll die Geschichte ein Kind ansprechen?
Ich erinnere mich an Bücher wie Oliver Twist, Heidi, Huckleberry Finn oder moderner auch Harry Potter, in denen Leid von Kindern so dargestellt wurde, dass es auch bei Kindern Interesse weckt. Dazu gehörte ein kindlicher Protagonist, der Sympathie weckte, mit dem man mitfiebern konnte. In Deiner Geschichte bleibt der leider zu flach, man erkennt ihn kaum, sieht die Ungerechtigkeiten wie in einem Bericht. Mehr Kinderperspektive, Dialoge, vielleicht auch kleine Siege der Kinder, mehr Tiefe und Zeit in den einzelnen Szenen würde ich mir als Leser wünschen.
Auch sprachlich fehlt mir in dem Text Lebendigkeit. Die Sätze sind häufig sehr ähnlich aufgebaut, was zu einer gewissen Monotonie beim Lesen führt.
Dennoch denke ich, dass der Text es auf jeden Fall wert ist, nochmal überarbeitet zu werden, weil da eine Geschichte ist, die erzählt werden will.

Gruß
Grendel
 
Danke, Grendel, für die aufgewendete Mühe. Allerdings bringen mich deine Anregungen nicht weiter. Ich halte es schon nicht für sinnvoll, an einen kurzen Internettext von heute Maßstäbe anzulegen, die auf große Epiker des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Und wenn der Name Harry Potter fällt, fällt bei mir auch etwas, nämlich die Klappe ...

Was du im Einzelnen stilistisch vorschlägst, zeigt mir, dass unsere Erwartungen an gute Literatur diametral entgegengesetzt sind. Gerade das Lakonische ist mein Hauptziel. Bleibt die Frage, ob der vorliegende Text Kinder erreichen kann. Ich weiß es nicht ... Jedenfalls würde ich dafür nicht derart ausgelatschte Pfade gehen wollen.

Arno Abendschön
 
G

Grendel

Gast
Kein Problem, es ist Deine Geschichte. Wenn Du wissen willst, wie sie ankommt, lässt Du sie ohnehin besser von Kindern lesen.

Gruß
Grendel
 



 
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