Im Kreuzgang

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sihl

Mitglied
Liebe LupenhalterInnen

Ich gebe meinen Einstand mit einem Fragment, das evtl. Teil einer längeren Erzählung wird und bin gespannt auf eure Meinung.
Der Text entstand in einer Schreibwerkstatt, und zwar ausgehend vom einem Foto der Protagonistin. Eine Methode, die ich empfehlen kann :).

Schöne Grüsse

-sihl-




Im Kreuzgang


Ich ertrage das nicht, denkt sie, ich ertrage es einfach nicht. Sie steht auf, geht mit schnellen Schritten zur Tür. Vorbei am Halbrund der einander zugewandten Stühle. Vorbei an den erstaunten Gesichtern und dem Flipchart. Fünf Schritte bis zur Tür. Diese fünf Schritte machen, einen nach dem anderen. Die Türfalle ergreifen. Sie sorgfältig niederdrücken, in Erwartung eines Knarrens, eines Quietschens wie aus einem Hitchcock-Film.

Sie steht auf der Schwelle und spürt die Blicke. Noch kann sie ein Wort retten, das Wort Toilette oder Kopfschmerzen. Sie denkt an die CD, die sie im Auto gehört hat. Blues. John Lee Hooker. Don\'t look back, sang er.

Die Eichentür fällt hinter ihr zu.

Eine Runde im Kreuzgang. Noch eine. Und noch eine, nochmals eine. Und nochmals eine. Bis die Beine müde sind, bis der Drang zu schreien, nachgelassen hat. Bis sie klar sieht.

Sie steht im Kreuzgang des Seminarklosters. Die Zeit des heiligen Benedikts ist vorbei. Seit fünf Jahren werden diffuse Gottheiten angerufen, wird die Selbstfindung verwöhnter Menschen betrieben. Zum Beispiel ihre eigene. Unter der Tünche von Burnout-Prävention und Sabbaticals wird ein Tanz um das eigene Ego veranstaltet, zu unverschämten Preisen.

Sie wird das Lehrgeld bezahlen.

Ora et labora, so viel weiss sie noch. Glauben und Arbeit. Sie hat mehr Arbeit, als sie je wollte, dafür keinen Glauben mehr. Schon lange nicht mehr.

Anfang April, und immer noch so kühl. Das gleichförmige Rauschen des Regens wird reflektiert, hohle Regengeräusche scheinen sie überall zu umgeben. Die Tür ist dick genug, kein Gemurmel dringt nach aussen, nur das metallische Scharren, wenn der Flipchart verschoben wird, wenn unbehaglich auf Stühlen gezappelt wird. Sie tritt näher an die Säulen, trotz der Kühle. Die Welt ist nass. Der Geruch von Regen in der kühlen Luft, von Regen auf durchweichter Erde. Der Geruch von Regen, der über nassen Stein läuft. Die Pflanzen, die in glänzender Nässe dastehen. Forsythien. Farne. Eine Weide, deren Triebe fremd wirken, grüne Anomalien auf braunem, fast schwarzem Holz.


Vielleicht war es der Blick in den Spiegel, der sie hierher gebracht hat. Ein Blick, ein Zweifel zu viel.

Sie hat sich im Spiegel betrachtet. Ihre glatten, nach hinten gebundenen Haare, ihre zu kleinen Ohren, die für Perlenstecker, nicht aber schöne Gehänge geeignet sind. Ihr Gesicht, das nicht hübsch ist und nicht hässlich, nur gewöhnlich, mit Augenbrauen, die ein wenig zu schmal sind, mit passablen, hohen Backenknochen. Mit einem Mund, der ohne Schminke zu schmal aussieht, schutzlos. Mit einem Kinn, das niedlich genannt worden ist, süss, aber nicht hübsch. Wie auch sie niedlich genannt worden ist, süss oder toll.

Aber nicht hübsch. Niemals.

Sie erinnert sich kaum mehr an das, was sie über Klöster weiss. An Schweigegebote und erdrückende Arbeit.

Sie steht im Kreuzgang, in Kampfmontur. Sie steht in hohen, aber flachen Stiefeln, die ihr Halt geben sollen und ihr doch nichts nützen, genau so wenig wie Turnschuhe. Sie steht im Kreuzgang, rauchend, ohne Halt, in einer engen Reithose, die sie aus dem Schrank gezerrt hat, weil sie ihre Kostüme satt hat und auch die Jeans.

Regen.

Sie erinnert sich an an den gelben, steifen, imprägnierten Stoff des Regenschutzes. Radfahrten im Regen, zwei Kilometer bis zur Schule, zwei zurück. Zu Hause die Mutter, die Anweisungen in den Gang rief, kein Betreten der Wohnung mit nassen Regensachen, kein Abstellen des feuchten Tornisters auf dem Teppich. Wie sie sich schliesslich doch zu Tisch setzen durfte, während der gelbe Stoff über der Badewanne tropfte, der Tornister nebenan langsam trocknete. Wie sie mit der Gabel immer neue Portionen von Teigwaren und Sauce in sich hineinhob, stumm, nahe am Weinen, ohne zu wissen weshalb. Die Traurigkeit, die sich über die Mutter und sie legte. Die Unmöglichkeit zu sprechen.

Die Zweige dürfen nicht verschwimmen.

Labora et labora.

Hört es denn nie auf?

Sie geht durch diesen Kreuzgang, der nur zu ertragen ist, wenn man den Blick auf den Boden richtet. Sie geht auf ihr Zimmer, holt ihre Tasche, umklammert schon die Autoschlüssel. Kies knirscht unter ihren Sohlen.

Den Ordner über den Platz schleudern, die Tränen abwischen.

Die Tür aufschliessen. Die Stiefel ausziehen, die Tasche hinwerfen, aufs Lenkrad hämmern.

Den Zündschlüssel drehen. Die Scheibenwischer einschalten, das Licht. Den Gang einlegen.

Don\'t look back.
 
B

Bluomo

Gast
Hallo sihl,

also erst einmal ein großes Kompliment. Ein richtig guter Text, der fast sogar noch besser ist als ich das sage. Ich bin beeindruckt. Ich habe sogar überlegt dir eine 10 zu geben, aber ich kann aus Prinzip nicht. Nie eine 10, weil es Perfektion nicht gibt, nicht geben darf.

Aber genauer:
Die Sprache ist klasse, die Details sind richtig gut, bildlich, die Handlung klar strukturiert mit Hintergrund und Gedanken verbunden.
Besonders gefällt mir der Klang deiner Geschichte, sie hat einen ganz eigenen Stil, und sie singt. Hört sich vielleich komisch an, aber hier kommt der Blues als Ergänzung dazu.

Das einzige, was vielleicht noch zu machen wäre, wäre die Personenbeschreibung etwas individueller zu beschreiben. Also nicht nur Wangenknochen, Kinn usw., sondern zu zeigen, was individuell ist, vielleicht Sommersproßen, Narben, irgend etwas.
Und vielleicht das mit dem Hitchcockfilm ändern, das einzige Detail, das ein wenig gegen die anderen starken Details abfällt.

Wenn du die Szene ausbauen willst, und ich bin mir nicht sicher, ob du sie nicht genau so lassen solltest- und mal an Magazine einschicken-, dann solltest du noch eine Moment vor der Szene dazu schreiben, aber nicht viel. Sondern das Sabbatical und den Hintergrund beschreiben.

Gruss

Bluomo
 

Warne Marsh

Mitglied
Dem schliesse ich mich an. Ja, die Türe kann sicher noch "besser" knarren und: "das metallische Scharren, wenn der Flipchart verschoben wird, wenn unbehaglich auf Stühlen gezappelt wird." Frage, nur ne Frage, ob wirklich beides gleich scharrt? Flipchart und unbehagliches Stühlezappeln? Wobei das fast schon kleinlich ist...

Warne-Gruss
 

sihl

Mitglied
Vielen Dank für eure Rückmeldungen und für die Blumen. Ich werde eure präzisen (und in meinen Augen überhaupt nicht kleinlichen) Hinweise aufgreifen und die entsprechenden Stellen noch bereinigen. Danach versuche ichs mal bei ein paar Zeitschriften - vielleicht wird ja was draus.

Schön, hier zu sein! :)

sihl
 



 
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