Im Meer (immer) denken oder Eva oder einfach nur notgeil

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kaufman

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die neue version... der anfang ist der selbe, ansonsten das meiste gleich ganz neu geschrieben - war mir einfach zu wenig "leicht"...

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Eva. Die Finger seiner linken Hand spielten gedankenverloren und ziemlich unelegant mit dem blauen Umschlag. Eva. Eva. Wer verdammt war Eva? Vielleicht ein entfernter Verwandter, eine Tante um Ecken und Winkel, die langsam verendend Frieden mit der Welt schliessen wollte und in dem Rahmen eben auch mit ihm. Eva, die weit entfernte Tante – möglich – doch so weit entfernt, dass er schwören könnte, noch nie von einer Eva in seiner Familie gehört zu haben? Auch das wäre möglich. Aber, nee, eine weitere lästige Familienkanalle musste er irgendwie nicht haben. Viel eher käme ihm ein sexuelles Abenteuer entgegen. Eva, die vergessene Ex. Von Sehnsucht und Verlangen zu ihm zurückgeführt, von der Leidenschaft getrieben in seine offenen, starken oder zumindest stark behaarten Arme. Kam schon viel besser als die Tante - aber wie er einsehen musste, gab es da draussen zu wenige der Ex’en, als dass er sich nicht an jede einzelne davon hätte erinnern können. Und an ihre Haarfarbe, Lieblingsparfüm, Körbchengrösse – alles noch da oben – die Namen ohnehin. Eva, die notgeile Ex, die sich erst unlängst auf Eva hatte umtaufen lassen? Eher unwahrscheinlich. Eva, die notgeile Unbekannte, Eva, das notgeile Flittchen, das ihrer Nymphomanie Ausdruck verlieh, in dem sie wahllos an Männer aus dem Telefonbuch Einladungen zum unverbindlichen Geschlechtverkehr versandte? Oder immerhin, Eva, immerhin ein kleines bisschen notgeil? Bitte, bitte, ein kleines bisschen notgeil, Eva!
Er legte den viel versprechenden Umschlag behutsam auf den Küchentisch, wischte vorher noch die Krümel von dieser Stelle. Die Empfängeradresse lag obenauf. An niemanden anderen als an ihn war der Brief adressiert. Und geschrieben, frankiert, abgeschickt hatte ihn Eva. Das stand auf der jetzt verdeckten Rückseite - Absender: Eva.
Nicht mehr und weniger ging ja kaum. Eva. Eva. Verdammt. Eva. Wer bist du, Eva, und bist du ein kleines, kleines bisschen wenigsten notgeil, Eva? Ach, Eva! Evaaaa!!! Von den Gefühlen übermannt liess er die Faust auf den Tisch krachen. Als er sie wieder anhob blieb der Umschlag kurz an seiner verschwitzten Hand kleben, bis er sich dann von selbst wieder löste und auf die Platte zurück glitt. Eva. Immer noch gleich weit. Eva. Eva.
Plump den Umschlag zu öffnen, um sich endlich Klarheit zu verschlafen, das wollte er nicht, schien ihm zu grob, zu ordinär einer Eva gegenüber. Eva. Bestimmt war sie schön. Wunderschön. Ganz bestimmt. Ein hässliches Mädchen würde nicht Eva heissen. So viel Respekt vor der Kirche hatte sich noch in den nüchternsten Atheistenköpfen festgehalten. Ein hässliches Baby taufte niemand Eva. Ausser vielleicht jemand, der auch die Unmöglichkeit besässe, einem tauben Kind eine Hörspielkassette zum Geburtstag zu schenken. Oder einen Rollstuhlfahrer mit den Worten „Na, wie läuft ’s?“ zu grüssen. Nein, eine getaufte Eva konnte nicht wüst sein. Ganz anders stand die Lage natürlich, wenn sich das Mädchen den Namen selbst gegeben hätte – Eva – und eigentlich hiess sie nur Evelyn oder Evalinde oder am Ende sogar Gudrun. Natürlich besteht auch die Möglichkeit einer bildhübschen Gudrun, die nur ihren Namen dem Äusseren anpassten wollte. Eine selbsternannte Eva musste also nicht zwingend hässlich sein, es bestand bloss eine gewisse Wahrscheinlichkeit dazu, während bei einer getauften Eva von Schönheit auszugehen war. Aber irgendwie brachte ihn das jetzt auch nicht weiter.
Sollte er den Brief tatsächlich schon öffnen, entweihen, ja entehren? Sollte er das? Aber nicht doch! Stattdessen drehte er den Umschlag nur um - Absender: Eva, Meer.
Eva. Ach, Eva. Eva, Meer??? Da stand tatsächlich: Eva, Meer. Er musste es vorher, als er den Brief hereingeholt und dabei betrachtet hatte, übersehen haben. Oder einfach verdrängt, weil es ihm allzu unsinnig erschien. Eva, Meer. Was war das jetzt wieder? Eva, die im Meer lebt. Oder Eva aus Meer, also aus einer Ortschaft mit dem Namen Meer. Oder einfach Vorname Eva, Nachname Meer, ein kleines bisschen notgeil und das Komma war da noch so versehentlich reingerutscht.
Wie passte nun das Meer, das grosse, blaue, nasse Meer in das ganze Bild. Eva und das Meer, wie liessen sie sich vereinbaren, zusammenführen, wo trafen sie sich.
Er schloss die Augen und stellte sich Eva vor und er stellte sich das Meer vor, wie es seinen salzigen Geruch verströmte. Eva, Meer. In seinem Kopf sass Eva am Meer und es sah aus, als würde sie ihre Beine im Wasser baumeln lassen, dabei warf sie neckische Blicke über ihre Schultern nach hinten. Schaute Eva ihn an, hatte ihn erwartet und brauchte eine kleine Abkühlung vor lauter heisser Erregung? Somit hätte das Meer eine Bedeutung, eine sehr angenehme sogar. Eva, Meer. Oder wurde sie womöglich gerade fotografiert, für eine dieser Frauenzeitschriften vielleicht. Eva, das Model am Meer. Nicht übel. Aber vielleicht war der Fotograf, der da frech behauptete für „Corinne“ zu arbeiten, gar kein echter Fotograf – verdammt - ein Amateur, ein Hochstapler, der sich unter Vorwänden an Evas Anblick erfreuen wollte. Das konnte er doch nicht zulassen! Eva, seine Eva ausgenutzt, belogen, betrachtet wie ein Stück Fleisch von einem ordinären Stelzbock! Bestimmt hatte der Kerl sonst keine Möglichkeit an Frauen heranzukommen und schon gar nicht an Eva. Eva, die ja viel mehr war als „nur“ eine Frau. Bestimmt stank er, dieser elende Blender, diese linke Kakerlake. Seine Eva am Meer von einem falschen Fuffziger hinters Licht geführt – kaum auszudenken!
Ohne sich dessen bewusst zu sein, war er aufgesprungen und hatte wild gestikulierend gegen den Fotografen gewettert. Als er aus seinen Gedanken zurückkehrte, musste er über sich selber grinsen. Wenn ihn jetzt jemand belauscht hätte, nur mal angenommen, jemand der sich feige draussen versteckt hielt, vor dem Fenster, derjenige hätte ihn bestimmt ohne zu zögern für verrückt erklärt. Was er sich da bloss wieder für einen Unfug erdichtet hatte! Es war doch wohl offensichtlich, dass sich seine Eva niemals derart hinters Licht hätte führen lassen, schon gar nicht von einem stinkenden Primitivling. Sofort hätte sie den falschen Fotografen entlarvt, seine finsteren Pläne aufgedeckt. Er hatte entschieden, dass seine Eva nicht nur wunderschön, sondern auch wunderbar intelligent sein musste – seine Mundwinkel zogen sich noch ein Stückchen weiter nach oben.
Die Sache mit dem Fotografen war also auszuschliessen. Aber weshalb sass sie denn nun tatsächlich da, seine Eva, am Meer. War ihr etwa bloss langweilig, beobachtete deshalb die kopulierenden Möwen. Nein, das war seiner Eva nicht würdig, es musste schon etwas besonders, gewichtiges, schönes sein, dass sie dazu bewogen hatte, da an diesem Meer zu sitzen. Vielleicht schrieb sie an einem Roman, über die Liebe etwa. So könnten die sich tollenden Möwen doch noch ihren Sinn erhalten. Oder schrieb sie eher Gedichte – Ja, wohl eher Gedichte, aber nicht über die Liebe, das wäre zu normal, viel zu normal. Angestrengt versuchte er die Möwen aus seinen Gedanken zu verscheuchen, halbwegs gelang ihm das auch. Eva, so quäl mich nicht, Eva, so hilf mir doch, Eva, sag mir: Was suchst du da am Meer? Er erhielt keine Antwort – und seine eigenen Erklärungsversuche schienen sich langsam etwas im Kreis zu drehen. Die ganze Aufregung hatte ihn ermüdet. Vielleicht sollte er sich ein kleines Nickerchen genehmigen, das würde womöglich seine Hirnzellen erfrischen und sie befähigen das Ganze zu überblicken: Eva, das Meer, das Meer und immer wieder Eva. Er konnte deutlich fühlen, wie der Schlaf nach ihm griff und das brachte ihn dazu, wieder ein wenig munterer zu werden. Nur schon aus Trotz konnte er jetzt nicht schlafen, das wäre irgendwie eine Niederlage gewesen. Um aktiv gegen den anschleichenden Schlaf vorzugehen, sprang er auf, absichtlich ruckartig, und ging hinüber zum Waschbecken in der Ecke.
Mit einem Glas Wasser kehrte er zurück, setzte sich auf den Stuhl und führte das Glas zu den trockenen Lippen, die er nun mit dem Wasser benetzte, bevor er den Rest den Rachen hinunterfliessen liess. Dann setzte er das Glas wieder ab - doch sein Blick blieb konzentriert daran haften, wanderte gleich rüber zum Brief und wieder zurück, hin und her. Er streckte die gerade eben zurückgezogene Hand erneut aus, zögerte leicht, griff dann doch beherzt nach dem Glas und rückte es einige Zentimeter nach links. Schliesslich doch noch ein bisschen mehr nach rechts. Und die Ordnung war hergestellt.
Das Glas Wasser, der Brief und er, zusammen bildeten sie ein gleichseitiges Dreieck. Oder war gar nicht er selber, sondern der Stuhl, das leblose Objekt auf dem er sass, der dritte Punkt, der die Figur vollendete? Nein. Dann hätten die anderen zwei Punkte auch leblos sein müssen. Doch Wasser war nicht leblos. Und der Brief schon lange nicht mehr. Der schien zu vibrieren vor lauter Leben, seitdem er auf dem Umschlag den Namen Eva gelesen hatte. Womöglich war der Brief lebendiger als er selber, dachte er und lächelte müde. Scheisse, war der lebendig. Mit diesem Gedanken nahm er einen Schluck von dem kühlen Leitungswasser. Und auch das Wasser schien ihn an Lebendigkeit zu übertrumpfen. Immerhin konnte er sich mit dem Gedanken trösten, dass er dem Leitungswasser in der Praxis klar überlegen war - wenn es aufmüpfig würde, könnte er es ohne grosse Anstrengung austrinken. Er gähnte.
Wasser ist ohnehin eine Sache für sich, dachte er. Sein Kopf sank nach vorne und kam sanft auf der Tischplatte zu liegen – genau zwischen dem Brief und dem Glas, zwischen Eva und dem Wasser, dem Meer und Eva. Jetzt auf keinen Fall schlafen, sage er sich - aber kurz ausruhen, das ging schon in Ordnung, das musste sein von Zeit zu Zeit, nur fünf Minuten, sicher nicht mehr als fünf Minuten, dann wieder fit sein, das schien ihm vernünftig. Er war ein bisschen stolz auf seine Selbstbeherrschung, er würde es schon regeln nicht einzuschlafen, so was konnte er. Dann begann er zu schnarchen.

Die Strömungen tanzten mit ihm, führten ihn, weit draussen im Meer. Unter ihm sah er Korallen vorbeiziehen. Lustig wirbelnd schwebten Luftblässchen vor seinem Gesicht hinauf, hinauf an die Oberfläche, die irgendwo da oben wohl sein musste. Vielleicht stürmte es - der verdammte Sturm des Jahrhunderts, der die Schiffe Flottenweise kentern, die Meeresoberfläche wie irrsinnig geworden sich überschlagen und toben liess. Ihm war es egal. Hier unten war nur Harmonie, nichts als Harmonie. Ein Schwarm bunter Fische schwamm an ihm vorbei. Er grüsste sie höflich. Sie schlugen dann eine Kurve, kamen zurück, steuerten direkt auf ihn zu. Blaue, rote, neongrüne, gesprenkelte Fischchen sausten um ihn herum, vollführten Pirouetten und Saltos, als wollten sie ihn beeindrucken, als wollten sie ihm dafür danken, dass er ihre Schönheit zur Kenntnis nahm. Als seine Freunde weiter gezogen waren, widmete er sich dem Meeresgrund. Er liess sich tiefer sinken, es kostete ihn keinerlei Anstrengung, und schwamm dann einige Meter vom Grund entfernt, den Blick nach unten gerichtet. Was da alles blubberte, was da alles lebte und auf Nahrungssuche war. Eine Weile beobachtete er amüsiert einen Krebs, der offenbar damit beschäftigt war, eine Seeanemone mit seinen eigentlich eher mickrigen Zangen zu beeindrucken. Was diese Ehe wohl für Kinder hervorgebracht hätte. Doch der Krebs schien ohnehin nur mässig anzukommen bei der Dame seiner Leidenschaft.
Dann sah er vor sich einen Fisch, der sich regungslos dahin treiben liess. Als er etwas näher herangekommen war, beschlich ihn ein leicht bedrückendes Gefühl - der kleine Fisch schwamm mit dem Bauch nach oben. Doch dann fühlte er, dass auch das irgendwie in Ordnung war, das alles irgendwie in Ordnung war hier unten. Als er sich dann irgendwann doch etwas satt gesehen hatte, an der ganzen Pracht, schloss er die Augen und liess sich von den warmen Strömen wegtreiben, gerade wie der kleine Fisch es getan hatte. Er fühlte sich gut. So verdammt gut.
Und dann bewegte sich etwas neben ihm. Vielleicht der Schwarm, vom Ego getrieben zurückgekehrt, um sich noch etwas mehr bewundern zu lassen. Das freute ihn. Seine neuen Freunde hatten ihn nicht vergessen. Als er sanft die Augen öffnete sah er nichts, das heisst, nichts als Wasser. Er war etwas enttäuscht und wollte die Augen wieder schliessen, doch noch bevor sie ganz zu waren, sah er einen Schatten irgendwo am Rande vorbeihuschen.
Eva. Eva! Ganz bestimmt. Es musste Eva sein, nein, er wusste, dass es Eva war und das kam ihm gar nicht merkwürdig vor – er wusste es eben. Ganz und gar nicht mehr ruhig suchte er mit seinem Blick das Wasser um ihn herum ab. Hatte er sich vielleicht doch getäuscht? Er konnte nichts Besonderes sehen, schon gar keine Eva. Das konnte doch nicht sein.
Dann war sie plötzlich vor ihm, nicht sehr weit entfernt, so nahe sogar, dass er erkennen konnte, dass sie blonde Strähnen hatte. Blond, seine Eva war also blond. Komm doch zu mir Eva, wo ich dich endlich gefunden habe, ach Eva - doch Eva kam nicht. Eva schwamm weiter, als hätte sie ihn überhaupt nicht gesehen. Er eilte ihr nach, mobilisierte all seine Kräfte, stach vorwärts in den Fluten des Meeres – und dann war sie ihm einen Blick zu, über die Schulter, eben einen solchen Blick, wie sie ihm zugeworfen hatte, als sie am Meeresrand gesessen hatte. Ihre Blicke hatten damals schon ihm gegolten, jetzt wusste er es. Nun musste er sie nur noch fangen. Das schien eine Art Aufgabe zu sein. Sie wollte sehen, ob er sich wirklich für sie interessierte und das schien ihm nicht zu viel verlangt. Er schwamm und strampelte und ruderte mit den Armen wie ein Wilder – doch es gelang ihm mit keiner Anstrengung den Vorsprung Evas zu verkleinern, im Gegenteil, immer weiter vorne schwamm sie, immer mehr hüllte sich ihre Gestalt in Dunkelheit.
Dann kam der Schwarm zurück - eben der Schwarm, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte. Und Eva, ebenfalls verzaubert von den lustig bunten Fischchen, liess sich dazu hinreissen, einen verspielten Schwenker zu machen, nur ganz kurz, um dem Schwarm näher zu sein und da schmolz der Abstand zwischen Eva und ihm augenblicklich zusammen. Er war ihr jetzt so nahe, seiner Eva, wie noch nie. Und er konnte sie sehen – konnte sie sehen – und sie lächelte ihm zu – er konnte sie sehen. Eva. Meine Eva.

Mit geschlossenen Augen lauschte er dem Rauschen vorbeifahrender Autos, wie sie ihre Abgase in seinen Vorgarten schissen. Nicht die Art Geräuschkulisse die einen sanft aus dem Schlaf wiegt, also entschloss er sich seine Augen lieber gleich zu öffnen. Als er sich gerade dazu anschickte, sich aufzurichten, flog ihm sein Traum um die Ohren - der Traum haute voll rein, sickerte aus verborgenen Winkeln der Erinnerung in sein Bewusstsein. Das bewegte ihn dazu, doch noch nicht gleich seine Schlafposition zu verlassen. Erst mal ein bisschen einwirken lassen. Eva. Er suhlte sich in Eva, verlor sich in ihrem Bild. Er hatte Eva gesehen - und auch jetzt sah er sie vor sich. Ihr Bild hatte in der Erinnerung kaum an Schönheit eingebüsst.
Schliesslich richtete er sich auf und rieb den Sand aus seinen Augen. Seine Blicke trafen den Brief. Er nahm ihn in die Hand, sehr behutsam, und stand auf, um dann locker aber bestimmt in die Richtung des Mülleimers zu laufen. Kurz wusste er nicht recht, ob er ihn wirklich entsorgen sollte. Die Neugier meldete sich zu Wort, doch – nein, er musste es tun. Auf keinen Fall würde es ihm etwas bringen, den Brief zu öffnen. Die reale Eva würde ganz bestimmt keine Meerjungfrau sein. Da war er sich ziemlich sicher. Er liess den Deckel des Mülleimers zuklappen und entschied dabei, seine nächsten Ferien doch am Meer zu verbringen – man konnte ja nie wissen.
 



 
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