Im Programmkino

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Justina

Mitglied
Der Film hatte zahlreiche Preise erhalten. Die Kritik sprach von gewagter Kameraführung, von klaustrophobisch anmutenden Sequenzen und von Menschen, die erschüttert die Kinosäle verließen. Mich langweilte er. Immer, wenn mir im Kino langweilig ist, trinke ich Alkohol. Ich verließ den Saal, stellte mich an die Bar. Niemand war da. Nach etwa 5 Minuten, ich hatte schon überlegt, ob ich mich selbst bedienen sollte, kam ein Mann aus einer von mir bislang unbemerkt gebliebenen Tür in der Ecke des Raums.

Es war ein altes Hutzelmännchen, ein vom Leben Betrogener, ein Freak. Seine Wirbelsäule wirkte seltsam verdreht und dem Gesicht mit dem grotesk spitzen Kinn und den weit auseinander liegenden Augen fehlte jede Symmetrie. Mit jener unterwürfigen Mischung aus vorauseilendem Gehorsam und Angst vor der nächsten Demütigung der ewig Benachteiligten fragte er, was er für mich tun könne. Freude und Mitgefühl überkamen mich. Freude darüber, dass jemand diesem älteren, offensichtlich behinderten Herrn noch einen Job gab. Mitgefühl, da ich wegen einer angeborenen Hüftdysplasie unter leichtem Hinken leide und die sozialen Folgen einer Behinderung nur allzu gut kenne.

Mein Wunsch nach Glühwein brachte ihn nahezu aus der Fassung. Nein, damit könne er nicht dienen, sprach er und schaute mich an, als drohe ihm jetzt der Tod. Ich lächelte und sein Gesicht hellte sich auf. „Eine Mischung halb Rotwein, halb Orangensaft wäre eine prima Alternative". Er stutzte, nahm aber eilfertig ein riesiges Burgunderglas, goss einen geschätzten Viertelliter Rotwein hinein und füllte Orangensaft hinzu. Währenddessen kam eine etwa vierzigjährige, streng aussehende Frau aus der Tür hinter der Theke und schaute ihm zu. Nachdem er mir das Glas mit einem leisen „bitte schön, Madame" gereicht hatte, nannte er den Preis – 2,50 Euro. Ich glaubte, mich verhört zu haben. Das sei aber sehr preiswert, meinte ich und gab ihm den abgezählten Betrag. Er errötete und wandte sich mit fragendem Blick an die neben ihm stehende Frau. Sie lachte kurz auf und meinte, das Getränk müsse dem Volumen nach eher sechs Euro kosten, aber nun sei es zu spät. Der alte Herr lächelte beschämt. Meinem Drängen, einen angemessenen Preis zahlen zu wollen, gab er aber nicht nach.

Zurück im Kinosaal konnte ich mich nun gar nicht mehr auf das Filmgeschehen konzentrieren. Mich quälte die Sorge, der Mann könne wegen meines exzentrischen Getränkewunsches seinen Job verlieren. Nach Ende des Films öffnete eben jener Mann die Flügeltüren zum Ausgang und wachte sorgfältig darüber, dass auch jeder Kinobesucher den Weg zum Ausgang fand. Wirkte er nicht noch unsicherer als zuvor? Ich verabschiedete mich regelrecht unterwürfig von ihm und ging erneut zur Theke, an der wieder die strenge Frau stand. „Bitte nehmen Sie das noch für den Riesen-Rotweinmix" sagte ich und legte einen Fünf-Euro-Schein auf die Theke. „Ich möchte nicht, dass der der nette Herr wegen mir seine Stelle verliert." Die Frau schaute mich zunächst erstaunt an, lachte dann aber und meinte lakonisch, da müsse ich mir keine Sorgen machen. Schließlich sei er ihr Schwiegervater und Besitzer des Kinos.
 
H

Hakan Tezkan

Gast
schmunzel...

was mir neben der gelungenen pointe gefällt:
die angewohnheit, bei langeweile im kino alkohol zu trinken...
toll.

lg,
hakan
 

Hieronymus

Mitglied
Einfühlsam geschildert. Die Schlusspointe macht klar, dass auch Einfühlung manchmal nicht die ganze Wirklichkeit erfasst.
Gelungen!
 

Justina

Mitglied
Vielen lieben Dank, R.Herder, Hakan Tezkan und Hieronymus. Es freut mich, dass Euch die kleine Geschichte gefällt.

Hieronymus,
Kernaussage ist, dass man oftmals dazu neigt, einem Menschen aufgrund seines Aussehens Attribute, Erfahrungen und Erlebnisse zuzuschreiben, die vielleicht vollkommen an der Realität vorbei gehen. Aber dazu neigen wir wohl: mit den jungen Schönen wird Glück und Erfolg assoziiert, den alten, weniger wohlgestalteten Menschen aber Einsamkeit, Unglück und Armut unterstellt.

LG
Justina
 
T

Thys

Gast
Justina,

genau das habe ich auch aus Deinem Text gelesen. (Geht) ging mir auch immer so, dass ich die Leute nach dem ersten Eindruck in Schubladen einsortiert habe und oft, nur allzuoft musste ich meine Meinung anchließend revidieren. Neuerdings versuche ich die Schubladen mehr und mehr zu zunageln. Jetzt hängen Diejenigen mehr in der Luft. Sind mal hier, dann mal da und nach einer Zeit sieht man, in welcher Erwartungszone die Einzelnen rumschwirren ;)

Gruß

Thys
 

nachts

Mitglied
Hallo Justina,
die Botschaft les ich wohl, und klar assoziiert man mit bestimmten äußeren Attributen auch passende Eigenschaften und mögliche Lebensumstände - vielleicht ist das noch n Erbe der mittelalterlichen Kleiderordnung & Evolution :) von daher ist deine Geschichte wohl ein Fingerzeig
Allerdings, dass sich die Protagonistin Sorgen macht, durch einen billig erhaltenen Rotwein verantwortlich am Jobverlust des Alten zu sein - hm - das ist mir doch zu dick aufgetragen, ehrlich gesagt.
LG Nachts
 
T

Thys

Gast
Find ich gar nicht nachts. Ich habe schon Leute in RL gesehen, die sich um viel weniger einen Kopf machen. Es gibt sowohl extrem sensible als auch extrem unsensible Naturen und jede Menge dazwischen.
 
B

bluefin

Gast
hallo @justina,

über deine geschichte hab' ich mich weniger amüsiert als über die kommentare dazu. wie die autorin selbst nehmen die applausgeber nämlich an, die pointe der story bestünde darin, dass sich quasimodo am ende als eigner der immobilie herausstellt.

in wirklichkeit aber ist er wohl doch nur ein wicht, dessen angejahrtes kino längst von den motten und den schulden angefressen ist und der, nolens volens, nicht nur den besuchern selber die tür halten muss, sondern darüber hinaus eine schwiegertochter am hals hat, die ihn vor dem publikum als trottel hinstellt.

private kinobesitzer gehören heute zu den loosern; sind sie, wie in deiner story offensichtlich, schon von der mitarbeit der familie abhängig, dann sind sie längst keine armen schweine mehr, sondern arme säue und sehen aus wie die deine.

deine geschichte ist gleichwohl außergewöhnlich, finde ich: weil die ihr innewohnende tragik weder von der autorin selbst noch vom publikum bemerkt wird.

der äußere schein trügt meist nur dann, wenn nicht genau genug hingeschaut wird. es ist wie im zirkus - alle lachen laut, während der clown heimlich weint.

nichts für ungut, liebe @justina - just my 2 cents. schreiben kannst du gut.

lg

bluefin
 

Retep

Mitglied
Hi,

diese Geschichte habe ich doch schon einmal gelesen, weiß aber nicht mehr wo.
Kann mir da jemand helfen?

Gruß

Retep
 
B

bluefin

Gast
das grundmuster, lieber @retep (kleider machen leute, des kaisers neue kleider etc. etc.) ist so alt wie die menschheit; sogar der olle odysseus hatte, homer zufolge, die "mimikry" schon drauf.

es gibt, wie gesagt, novellen wie die gottfried kellers, märchen wie das von andersen, den "hauptmann von köpenick", der gleich mehrfach dramatisiert wurde, sketche, witze und kaulauer zuhauf über das genre "verwechslungskomödie". der einzige witz, den ich gleich parat habe dazu, geht so, dass eine polizeistreife aufmerksam wird, als ein offenbar betrunkener aus der wirtschaft auf die straße geworfen wird und die frage des beamten "was ist denn da für ein wirt drin?" mit einem gelallten "ich" beantwortet wird.

ich bin absolut sicher, dass justina ihre eigene geschichte geschrieben hat - vielleicht hat sie die ja noch woanders publiziert. aber das kann sie dir ja selber sagen.

lg

bluefin
 

Retep

Mitglied
Ich nehme nicht an, dass die Geschichte Justine nicht geschrieben hat.

Glaube auch, dass sie sie irgendwo anders schon veröffentlicht hat. Wo?



Gruß


Retep
 

Justina

Mitglied
Hi Retep,

diese kleine Kurzgeschichte dürfte eigentlich nur hier zu lesen sein.

Bluefin, Deine Interpretation ist originell und konsistent.

Aber auch die andere Lesart ist durchaus möglich: Das, was der Erzähler als demütiges Verhalten identifiziert, ist eher anachronistische Dienstbeflissenheit und Schüchternheit, das unterstellte Schicksal des Menschen mit Behinderung (Armut, ungewolltes Singledasein etc.) erweist sich als totale Fehleinschätzung.


LG Justina
 
B

bluefin

Gast
ich versuchs noch mal: der reiz der story liegt für mich darin, dass die prota und die autorin ziemlich daneben liegen, denn sie halten beide einen kinobesitzer mit schauderhafter familie für einen gemachten mann und beruhigen sich damit das gewissen. dabei wär’s bestimmt gesünder für den, wenn er ein harzvierler ohne anhang wär. da trau ich mich wetten.

tipp: schreib doch noch einen epilog, @justina. als die prota das nächste mal ins kintopp ging und den alten vermisste, wurde ihr bescheid getan, dass er sich hinter der bühne erhängt hatte, nach einem furchtbaren streit mit der schwieto wegen eines glases kalten glühweins. oder halt, besser: er erdrosselt die schwiegertochter und wird während der nächsten vorstellung verhaftet, als er mit der prota kalten glühwein trinkt und eben mit ihr zu flirten beginnen will.

oder so.

nichts für ungut, liebe @justina (was für ein name, was für ein nick!). und liebe grüße aus der münchner unterwelt!

bluefin
 

Justina

Mitglied
Oder im Epilog lädt das Hutzelmännchen zu einer spektakulären Vorpremiere ein und sprengt das Kino mitsamt Schwiegertochter und Cineasten in die Luft...

Ja, auch vorstellbar.
 
B

bluefin

Gast
an das hatte ich auch gedacht, liebe @justina; es erschien mir aber angesichts deines strengen nicks und der moralischen anmutung deiner an sich ja sehr schön erzählten geschichte zu unseriös...außerdem: die armen cineasten! bestimmt sind unter den 20, die sich in der vorstellung verliefen, ungefähr zweieinhalb, die's nicht verdient hätten (z. b. ganz bestimmt deine prota).

lg

bluefin
 



 
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