Im Reichstag

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Digitalia

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Im Reichstag

Nur nachts, werde ich manchmal noch geplagt - von Albträumen, dass mich meine sogenannte Vergesslichkeit oder \"Unkonzentriertheit\" doch noch verraten könnte.
Ansonsten gelingt es mir rätselhaft gut, das beinahe Unmögliche anzupacken. Vor allem das Lesen aller Ausgaben meiner Biografie ist hilfreich.
Damit die Nachwelt meine Leistung - sie erscheint mir in Anbetracht der Schwierigkeiten herakläisch - wirklich erfassen und würdigen kann, greife ich in schlaflosen Stunden zu diesem fast vergessenen Fossil - zu Papier und Füller. Sollte mir etwas zustoßen - immer noch gibt es ja böswillige Zeitgenossen - : Meine engsten Vertrauten haben Kenntnis von der Existenz dieser Zeilen in meinem Geheimtresor.
Mein zweites Leben - wie kam es dazu?

Ich erwachte auf der Wiese vor dem Reichstag. Meine Freundin war verschwunden, kein Zettel von ihr, keine Nachricht auf dem Handy.
Graute die Morgen- oder die Abendröte? Einige Meter vor mir schnarchte ein eng umschlungenes Paar, eingerollt in eine zu kurze blaue Decke.
Es wurde heller. Warum bloß war ich dann so müde? Ich konnte mich nicht im geringsten daran erinnern, wann und wie ich eingeschlafen war. Aber ohne jeden Zweifel hatte ich hier mit Sybille den Heiligen Abend verbracht, in großartiger Versunkenheit. Der Filmriss entstand erst danach.
\"Welchen Tag haben wir heute?\" fragte ich einen glatzköpfigen Mann mittleren Alters, der sich hinter mir aus seinem Schlafsack schälte. Er antwortete nicht, rieb sich, verklärt lächelnd, die Augen. Ich sprang auf und schrie ihm die Frage in ein Ohr. Er zuckte zusammen und ballte eine Faust, sah mir in die Augen und begann zu lachen. \"Ach so, einen zu viel gehoben, Jungchen? Wir haben heute den ersten Weihnachtstag 2033 - 8 Uhr und zwanzig Minuten.\"
\"Danke!\" Ich kroch beruhigt in unseren Schlafsack zurück. Sicherlich ging alles mit rechten Dingen zu. Bestimmt war Sybille auf der Toilette, hatte bloß vergessen, mir eins ihrer duftenden blauen Zettelchen unter den Sack zu schieben. Die bunt bemalten Gasleuchten erwärmten den Platz fast sommerlich - wie gestern Abend, als sich halb Berlin hier getroffen hatte. Hart hob sich das riesenhafte lachende Gesicht des Kanzlers auf einem Wahlplakat am Rand der Wiese gegen den Himmel ab. Er reichte einer Ministerin mit Engelsflügeln Weihnachtskugeln. Daneben grinste das Gesicht seines Herausforderers aus einer Weihnachts-Mütze auf mich herab. In den Händen hielt er einen Sack voller Geschenk-Pakete. Die ganze Wiese war umrahmt von solchen und ähnlichen Plakaten, die Bundestags-Wahlen waren für den 16. Januar angesetzt.
Aber wieso fühlte ich mich so zerschlagen? Natürlich nicht wegen eines Glases zu viel! Nicht einmal Sybille, auch keine Sirene, hätte mich zu solch einem Schluck verleiten können. Alkohol ekelte mich an, schon der Geruch führte bei mir zu Übelkeit, erinnerte mich an meinen versoffenen Erzeuger.
Ärgerlich wälzte ich mich hin und her. \"Einen zu viel gehoben!\" Was für eine Gemeinheit, mich zu verdächtigen! Als lebte ich in einer der perversen früheren Epochen! Ausgerechnet mich! Mich - , der für die Revolution in den Köpfen kämpfte! Mich, der vorhatte, die Erde durch Rückkehr zur Natürlichkeit und einem gesunden, verantwortungsvollen Leben zu retten!
\"Ich bin keinen Tag zu früh geboren.\", hatte ich erst gestern zum Kanzler gesagt, während er uns einschenkte - ach ja - natürlich - aber auch das noch vor dem Filmriss! \"Am allerwenigsten hätte ich um das Jahr 2009 geboren sein wollen. Praktisch jede Nacht hatte ich nämlich Albträume, als wir in der Schule die Epoche des Organraub-Terrorismus durchnahmen.\"
Nach den großen Fortschritten in der Gen- und Lasertechnologie hatte ja vor allem 2009 und 2010 der Organkampf aller gegen alle getobt. Jetzt, da der Staat alles sicher unter Kontrolle hatte, war natürlich der rasante Fortschritt der Technologie der reine Segen. \"Da muss ich Ihnen recht geben\", hatte ich dem Kanzler frei heraus gesagt, \"auch wenn ich mit der Lauheit und dem Zickzack-Kurs Ihrer Amtsführung nicht immer einverstanden bin.\"
Trotz der fortgeschrittenen Stunde war ich also heute Nacht beim Gespräch mit dem Kanzler noch klar im Kopf. Ich hasse Einschleimen - deshalb hatte ich ihm gar nicht an die Nase gebunden, dass ich ihn wählen wollte. Und mit dem Wichtigsten, der Verfassungs-Änderung, die gerade stattgefunden hatte, war ich ja voll und ganz einverstanden. In wer-weiß-wievielen Demos war ich dafür eingetreten - jetzt stand es im Gesetz: Das Tauschen, Verkaufen und Verschenken von Organen war nur noch erlaubt, wenn beide Partner ihren Wunsch vorher schriftlich bei einem ärztlich ausgebildeten Organtausch-Notar hinterlegten.
Ebenso begeisterte mich an der Moderne, dass sich die Behütung und Gesunderhaltung des Lebens auf so breiter Front durchgesetzt hatte, der Konsum von Alkohol und anderen schädlichen Drogen so gut wie out war. Allerdings - der Kanzler hatte sich gestern eine Zigarette angezündet und uns gebeten, ihn nicht zu verraten.
\"Warum die Zigarette?\" hatte ich ihn, wieder stolz über meine Geradlinigkeit, gefragt. \"Ihnen also reicht es gar nicht, dass wir die unschädlichste aller Drogen endlich per Gesetz ohne die frühere Geheimnis-Krämerei bis zum Exzess genießen können? Spüren Sie denn nicht, dass vor dieser Hauptsache - die sie im Geheimen schon immer war - jeder andere Rausch lächerlich unwichtig wird? Dann verschaukeln Sie uns auf Ihren Wahlplakaten?\"
Enttäuscht hatte ich mein Glas leergetrunken. Offiziell war alles Schädliche verboten, der Körper die einzige noch erlaubte Droge.
Bei diesen Worten hatte ich aus dem Fenster geblickt, um dem Kanzler den Rücken zudrehen zu können. Ich wollte mein Grinsen vor ihm verbergen. Ganz deplaziert war mir nämlich eingefallen, was für ein nicht enden wollendes ungläubiges Gelächter bei uns im Geschichts-Unterricht die perverse Scham früherer Epochen erregt hatte. Niemand aus unserer Klasse konnte begreifen, dass es so immens lange gedauert hatte, bis der uns angeborene Rausch des Tantra endlich das Leben bestimmte, die natürliche Lust der selbstverständliche und würdige Schwerpunkt aller Festivitäten wurde.
Während ich aus dem Fenster blickte, hatte der Kanzler mein Glas wieder gefüllt.
\"Unserem Land ist ein Quantensprung gelungen.\" hatte ich ihm zugeprostet. \"Unsere wichtigste epochale Aufgabe ist es jetzt, diese Befreiung der Lebensfreude in alle Welt zu tragen. Wie von selbst werden dann überall die Kriege aufhören. Die Zufriedenheit und Angst-Freiheit aller wird das Paradies einläuten.\"
Von meinem Enthusiasmus beeindruckt, hatte der Kanzler seine Zigarette nur bis zur Mitte geraucht und mit einem \"Sie haben ja recht\" in den Papierkorb geworfen.

Aus meinem zuletzt wohligen Dösen weckten mich die ersten Schneeflocken dieses Winters. Endlich eine Nachricht auf dem Handy: \"Ich habe doch gefroren und wollte dich nicht wecken, bin schon zu Hause. Es war eine tolle Nacht, Knut, ich möchte dich weiter auffressen. Flieg her, sobald du wach wirst!\"
Beim Zusammenfalten des Schlafsacks zitterten meine Hände in neuer Vorfreude. Noch nie hatte mir eine Frau so gut gefallen wie Sybille. Wenn sich ihre hellen Haare beim ersten Stöhnen aufstellten, taten es synchron meine schwarzen, etwas stachligen, auch. Wir konnten unseren Rausch so Seelen-verwandt steuern, dass er stundenlang auf- und abschwoll wie eine Welle in der uferlosen Mitte des Meeres.
Auf der Radfahrt nach Hause spülten meine grauen Zellen noch mehr verwischte Erinnerungen an die Nacht ins Bewusstsein: Die Luft über der Wiese vor dem Reichstag war gestern durch einen lauen Wind, durch eine Unzahl von Fackeln, durch die Gasleuchten und die vielen Menschen so warm wie im Sommer, auch als die frühe Nacht hereinbrach. Der neue künstliche Rasen sah ganz natürlich aus, federte wie Moos, weich wie Samt. Ich bestieg mit Sybille die Gondel der Lust schon in der Dämmerung. Sie schaukelte uns durch die Brandung eines Ozeans, der aus Sternen bestand.
Als wir wieder auf der Wiese landeten, hatte sich der größte Teil der Menge bereits zerstreut. Die anderen Festtags-Gäste schliefen schon in ihren Decken oder Schlafsäcken. Die Fackeln waren erloschen.
Als wir unseren Schlafsack aus dem Beutel zerrten, begegneten unsere Blicke den neugierigen Augen des Bundeskanzlers. Zu Wahlzeiten trug er sein markantes Gesicht besonders gern durch die Menge. Er nickte uns leutselig, aber merkwürdigerweise auch etwas verwirrt, zu, schlenderte rasch weiter. Hier und dort blieb er stehen, sah sich jedoch immer wieder nach uns um.
Als er bemerkte, dass auch wir ihm nachblickten, kam er auf uns zu. \"Wie ich sehe, schlafen Sie noch nicht. Ich pflege so gern Kontakt zu meinen Mitbürgern, bin noch gar nicht müde. Aber hier draußen wird es jetzt kalt. Haben Sie nicht Lust auf ein Gläschen frisch gepressten Saft? Ich würde Sie gerne einladen.\"
Unsere Tantra-geübten Körper waren nicht ermüdet, eher beschwingt. Wir willigten ein, voll Freude und Stolz über die unerwartete Ehre.
Nach dem Durchqueren der nüchternen, fast steril aufgeräumten, Arbeitsräume des Bundeskanzlers, führte er uns durch eine blaue Türe mit der Aufschrift \"privat\". Wir standen in einem blau schimmernden Raum. Rote Lampen erhellten eine niedrige runde Couch.
Der Mix aus Guave-, Mango- und Orangensaft, den er uns anbot, schmeckte hervorragend. Nach mehrmaligem Anstoßen verschwand der Kanzler, mitten im Gespräch, mit einem \"Ich komme gleich wieder\" hinter einer rosa Türe. Weiter reichte meine Erinnerung nicht.
Als ich unsere Wohnungstüre öffnete, fiel mir Sybille mit einem Schrei um den Hals. Ihre nach Amaryllis duftenden Haare wehten in meine noch dösigen Augen. Sie führte mich zu dem gedeckten Frühstückstisch, umschlang mich und lehnte ihre Wange an die meine. Bei jedem Bissen, der in mir verschwand, flüsterte sie: \"Mmmmm, das Brötchenstück ist dir jetzt näher als ich - Neid, Neid!\" Kaum hatte ich fertiggekaut, zog sie mich ins Bett, riss sich und mir die Fummel vom Leib.
Als mein Slip auf dem Sofa gelandet war, erstarrte sie. Dann stotterte sie mit einer angestrengten und fremden Stimme: \"Ich muss erst noch auf die Toilette!\" Bald danach hörte ich die Wohnungstüre ins Schloss fallen, sprang verwirrt auf und rannte in den Flur. Vor dem Garderobe-Spiegel erstarrte auch ich. Statt meines seit je her bewunderten, außergewöhnlich stattlichen und jugendlich prallen Phallus, schwappte zwischen meinen Beinen ein schlaffer, ältlich faltiger und noch dazu winziger Zipfel. Ich schwankte, hielt mich am Spiegel fest und fiel zusammen mit dem zersplitternden Glas zu Boden. Der Schmerz war so heftig, dass ich nicht imstande war, mich zu bewegen, geschweige denn, aufzustehen.
Es lag nicht nur an den Schnittwunden, aus denen sich kleine rote Rinnsale über das Parkett ergossen, die eigentliche Wunde saß tiefer: Wie glücklich war ich soeben noch gewesen - über unsere Liebe, die Verankerung der neuen Moral in der Verfassung, unsere Vorbild-Funktion für die ganze Welt. Und über meinen baldigen Studien-Abschluss. Ich konnte ihn kaum erwarten, wollte mich sofort danach in die Friedens-Arbeit stürzen - weltweit. Deshalb studierte ich Politologie.
Wie konnte ich mich so irren? So verbohrt blind gewesen sein? Der Bundeskanzler als Räuber meines Gemächts? Wer würde mir das glauben? Mir nicht - aber Sybille! Klar, dann hätte der Prozess beste Chancen. Warum nur war sie weggerannt?
Besaß der Kanzler also selbst eine der verbotenen geruchfreien Sprühflaschen, die immer noch heimlich kursierten und deren Besitz mit lebenslanger Haft bestraft wurde? Je nach Menge, reichte deren narkotische Wirkung für zwei bis vier Stunden. Sie wurden in anderen Ländern immer noch von Organ-Räubern benutzt. Sofort nach dem Sprühen musste solch ein Räuber den Raum verlassen, um nicht selbst in Narkose zu fallen. Wenn er eine Gasmaske aufsetzte, einen der tragbaren, Notebook-großen Organo-Laser und das nötige Now-how besaß, konnte er fünf Minuten später blut- und narbenfrei die gewünschte Transplantation durchführen, für Kundige leider eine Leichtigkeit.
Also sogar der Kanzler!
Ich musste vor Entkräftung eingeschlafen oder in Ohnmacht gefallen sein. Als ich erwachte, schrak ich zusammen über das viele verkrustete Blut an und neben mir. Gut, dass ich beim Hinfallen am Lichtschalter entlang geschrappt war. Daher brannte das Licht in der Diele. Draußen war es nämlich schon wieder dunkel.
Sybille war also nicht zurückgekehrt. Der Spiegel lag noch auf mir, ringsherum die Splitter. Vorsichtig schob ich sie mit der freien Rechten aus meinem Umkreis, stützte mich auf die Hand und versuchte, mich aufzusetzen. So gelang es mir, den Spiegel mit dem Körper aufzurichten und wegzuschieben. In die Schuhe waren zum Glück keine Splitter gefallen, so konnte ich aufstehen und noch in der Haut steckendes Glas entfernen. Dann hielt ich mich an den Wänden und Gegenständen fest, schaffte es so, bis in die Küche und dort auf einen Stuhl zu wanken. Auf dem Tisch standen Wasser- und Saftflaschen. Ich trank sie alle leer und sank wieder in Schlaf, diesmal in meinem Bett.
Ich erwachte erst, als es wieder hell wurde. Mir war noch ein wenig schwindelig, aber ich konnte problemlos stehen und gehen. Immer noch keine Nachricht von Sybille. Ich traktierte ihr Handy jede Stunde mit Nachrichten. Keine Antwort. Ich duschte und besprühte mich mit antibiotischem Spray.
Dann schaltete ich den Fernseher ein. Auf der Wiese vor dem Reichstag richtete der Bundeskanzler gerade Grußworte an die Gäste, die dort den zweiten Weihnachtstag feierten. Als er vom Rednerpult herabstieg, reichte er seinen Arm Sybille, die dort wartend, die Haare hochgesteckt, in ihrem aufregendsten Mini, stand.

Der einzige Mensch, dem ich jetzt noch wirklich zu vertrauen wagte, war meine Cousine. Von klein an waren wir durch dick und dünn gegangen. Sie half mir, meine Erschütterung zu überwinden, es dauerte fast ein Jahr.
Erst jetzt war ich imstande, einen Plan auszuhecken, wie ich mich mit der ganzen Wucht meiner Wut rächen könnte und zugleich der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen. Der Bundeskanzler hatte die Wahlen zum zweiten Mal gewonnen. Er und Sybille waren immer noch ein Paar. Bei Festlichkeiten lebten sie ihr Tantra öffentlich in stundenlangen Exzessen - wegen des haarsträubenden Hintergrundes kann ich es nicht anders benennen. Noch mehr als über den Bundeskanzler war ich über Sybille schockiert. Sie liebte und meinte nicht mich, den Menschen und meine Tiefe, sondern mein Werkzeug.
Meine Cousine hatte ein paar Jahre als Krankenschwester gearbeitet, jetzt stand sie vor ihrer Abschluss-Prüfung als Kellnerin. Ihr Mann war ein bekannter Rechtsanwalt, wurde von hohen Tieren jeder Couleur gern zu Empfängen eingeladen. Wahrscheinlich, weil er so manchen Politiker, der wegen Korruption angeklagt war, erfolgreich verteidigt hatte. \"Du kannst ihm trotzdem trauen!\" versicherte meine Cousine.
Ihm war es auch zu verdanken, dass meine Cousine, ein weiteres Jahr später, auf der Warteliste der Reichstags-Kantine stand, trotz ihrer erst einjährigen Erfahrung als Kellnerin.
Der Bundeskanzler und Sybille traten immer noch als verliebtes Paar auf.
Und wieder musste ich warten - ein zähflüssig verrinnendes halbes Jahr! Danach wurde meine Cousine endlich im Reichstag eingestellt - erst einmal als Springerin. Wegen ihrer doppelten Einsatz-Fähigkeit wurde sie anderen vorgezogen. Denn keine andere Bewerberin konnte kranke KollegInnen sowohl in der Erste-Hilfe-Ecke wie auch in der Kantine vertreten.
Und wieder ein halbes Jahr, das kaum verging! Dann war es soweit.
Zwei Tage vor dem Weihnachtsfest, an dem das 3-jährige Jubiläum des Raubes zu betrauern gewesen wäre, rief meine Cousine atemlos ins Telefon \"Komm sofort zu mir!\"
Als ich bei ihr klingelte, kam sie heruntergebraust, nahm mich, wie in Kindertagen, an der Hand, ungeschminkt und ungekämmt wie damals, zog mich hinter sich her. Erst, als wir auf einem Feldweg standen, wo weit und breit kein Lauschgerät montiert sein konnte, rückte sie mit der Sprache heraus: \"Sybille fliegt Heilig Abend zu ihrer Familie. Deshalb feiern sie und der Kanzler ihr Weihnachts-Tantra schon im Voraus am Nachmittag - diesmal ganz intim, im rosa Salon. Und vorher, um 15 Uhr, muss ich den beiden im blauen Salon servieren. Ab da blinkt an der Türe das Schild: \"Nicht stören!\" Wenn ich auf Empfängen meinen Mann begleitete, habe ich immer so getan, als würde ich den Kanzler anhimmeln, das kam gut an. Deshalb bevorzugt er in letzter Zeit immer mich mit Aufträgen. Einmal hat er mich sogar abgeknutscht - nicht einmal unangenehm.\"
Die Wiese und der Himmel begannen sich langsam zu drehen. Wie lange hatte ich auf diese Nachricht gewartet! Wie als Kind hielt ich mich an meiner Cousine fest, mir war übel. \"Endlich, Cornelia! Mein armer Kopf - und der Plan - wie - wie besprochen?\"
\" Klaro, Kleiner! Ich wette, wir zwei haben den Pimmeltausch in der Theorie so oft geübt, dass es ein Kinderspiel wird! Mein Dienst beginnt Heilig Abend um 14 Uhr. Wie gesagt, fällt es nicht auf, wenn ich dich als meinen Gast in die Cafeteria mitnehme.\"
Cornelia umarmte mich. Ihre Klarheit und Kraft beruhigten mich. Ich erinnerte mich wieder an die Einzelheiten unseres Planes: In der Cafeteria wollte ich mein Gesicht hinter Zeitungs-Lektüre verstecken.
Wahrscheinlich guckte ich immer noch ramponiert, denn Cornelia wiederholte zum 1000sten Mal: \"Wenn es soweit ist, fahre ich mit dem Servierwagen an dir vorbei.\"
\"Und ich folge dir.\"
\"Der Servierwagen ist groß und hat Schranktüren, du und der Operationskoffer, ihr passt hinein. Keine Sorge: Der Koffer liegt sicher hinter meinem Mantel in meinem privaten verschlossenen Schrank.\"
Noch nie hatte mich meine Cousine so fest umarmt wie nach diesem Spaziergang.
Wie meistens hatte sie auch diesmal recht: Der Rest war ein Kinderspiel. Ich erfuhr am eigenen Leib, dass eine Narkose bei Operationen heute wirklich nicht mehr nötig ist. Der Organtausch schmerzte nicht mehr als das Ausreißen eines Haares. Und ich war wieder ganz, betastete und koste ergriffen den zurück gekehrten Ausreißer.
Der Kanzler lag in tiefer Narkose, mit rosigen Wangen, auf der runden Couch. Befriedigt betrachtete ich ihn: Die Gerechtigkeit hatte gesiegt.
Neben ihm lag Sybille, natürlich ebenfalls narkotisiert. Die drei Jahre hatten keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Auch an den Armen und Beinen war ihre Haut so seidig wie früher. Recht würde es ihr geschehen - auf meinen Rausch-Spender müsste sie jetzt verzichten. Mein Herz empfand keine Wärme mehr für sie, mein neues altes Rohr keine Erregung, kein Verlangen.
Oder doch? Nein - etwas anderes, auch Erregendes, aber bisher Fremdes, strömte - nein - explodierte in mich hinein. Ich hielt mir den Kopf und den Bauch, krümmte mich.
Meine Cousine schrie laut auf, hielt mich entsetzt fest.
War es sein Blut, seine Lymphe, die jetzt mein Gemächt durchflutete? Und vertrug sich etwa nicht mit meinen Säften? Cornelia stürzte zu dem Heilungs-Lazer, bestrahlte mich noch einmal, ihre Hand bebte.
Gott sei Dank - ich konnte wieder aufrecht stehen. Aber weiterhin wirbelte etwas von oben bis unten durch mich hindurch - wie ein Virenschwarm - \"Bua!\" Ich schwankte immer noch, hielt mir den fast platzenden Kopf - \"Bua!\"
Meine erblasste Cousine bestrahlte mich noch einmal.
\"Ich bin der Größte\" schoss es gebieterisch durch meine Adern, \"mein Platz ist ganz oben, die Chance ist da, wehe - wenn du sie verpasst! Geh weiter - den letzten klitzekleinen Schritt! Er ist für die Menschheit ein großer!\"
Mir tat nichts mehr weh, der Schwindel war fort, aber ich war nicht mehr imstande, meinen Blick vom Kanzler zu lösen. Diese Unverfrorenheit gegenüber Mitmenschen und dem Gesetz! Er hatte das gemeingefährliche Herz der Schnee-Königin in Andersens Märchen. Und das bei seiner Machtfülle - das konnte, musste unserem Land, der ganzen Welt schaden - wie in den letzten Jahren mir!
Ich blickte nach oben. Es waren die Tiefen der Galaxis, einer höheren Macht, die schon so Vieles zum Besseren gewendet hatten - sie gaben mir ein Zeichen - jetzt - pochten in mich hinein: \"Komm endlich in die Gänge, Knut, wir legen es in deine Hände, rette die Erde!\"
Ich spürte eine unendliche Kraft. Sie war schon so gut wie meine - die Machtfülle des Kanzlers. Gleich morgen würde ich beginnen: erst Korruptionen aufdecken und nach und nach, aufrecht und zäh, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit endgültig ganz zum Sieg verhelfen, bis in die letzte Hütte.
Ich beugte mich über das Gesicht des Bundeskanzlers. Es gefiel mir noch besser als meins. Denn meine zu kleine Nase verlieh mir ein Babyface. Vor Freude zitternd gab ich dem Gebot nach, das durch meine Adern brandete, und bat meine Cousine, mir das Gesicht und die Haare des Kanzlers zu transplantieren. Die Augen konnte sie mir lassen, sie hatten fast exakt seine Farbe und Größe.
Den Leib des Kanzlers verband sie mit meinem Gesicht und meinem Skalp. Sein kaltes Herz würde in der Position eines Normalbürgers, noch dazu eines mittellosen Studenten, weniger Schaden anrichten.
Mit fast blutleeren Lippen stammelte meine Cousine: \"Wenn er Beweise sammelt - wenn er behauptet, der Körper des \"falschen\" neuen Bundeskanzlers - also dir - habe sich verjüngt?\"
Auf meinem neuen Gesicht sammelte sich Angstschweiß. \"Ach was - ich gebe als Grund dafür die tantrischen Aktivitäten an! Cornelia, meine Macht, meine Argumente, meine Anwälte werden ihn einschüchtern. Für die Halluzinationen eines offensichtlich Geistes-gestörten Studenten werden sich bei einer Anklage nur Psychiater interessieren.\"
Ein Rest von Unsicherheit blieb natürlich, das war auch mir klar. Aber ich opferte sie gern, diese letzte Absicherung. Sie verblasst vor der Größe der Aufgabe, die Welt in einen Quantensprung hineinzuführen.

Neben dem blauen Salon befindet sich mein rosa gehaltenes Ruhezimmer. Dort legte ich vorsichtig die leise schnarchende Sybille ins Bett.
Meine Cousine musste in die Kantine zurück und verschwand mit dem Servierwagen. Ich verteilte Reste von frisch gepresstem Guave-, Mango- und Orangensaft, die ich im Kühlschrank fand, auf zwei Gläser. Den Beutel des Studenten mit dem klein gefalteten Schlafsack, seinen Papieren, seinem Ausweis, Geldbeutel und Wohnungs-Schlüssel stellte ich gut sichtbar neben die runde Couch.
Da einige Stunden verstrichen waren, musste die Narkose nachgelassen haben. Mit glänzend gespieltem Erstaunen weckte ich den Mann mit dem Körper des Kanzlers und meinem Ex-Gesicht. Er starrte an die Decke, die aus einem einzigen großen, indirekt beleuchteten, Spiegel besteht, und hatte sichtlich Mühe, sich zurechtzufinden.
\"Sie sind ja auf meiner Couch eingeschlafen, als ich ans Telefon musste\", lächelte ich leutselig. \"Aber ich muss jetzt nach Hause. Erinnern Sie sich denn nicht? Die meisten lagen bereits im Schlafsack, es wurde kalt auf der Wiese - und ich habe Sie zu einem Saft eingeladen. Ich hoffe, er hat Ihnen geschmeckt. Sie sehen wirklich schon sehr müde aus, ich begleite Sie zum Ausgang, vergessen Sie nicht Ihren Beutel!\"

Seitdem sind schon zwei Jahre ins Land gegangen. Ich bin - wie ich meine zurecht - stolz über meine politischen Erfolge im In- und Ausland. Allerdings sind sie im Ausland noch nicht viel mehr als ein Rinnsal auf dem heißen Stein. Besonders hier bleibt die Aufgabe und Herausforderung gigantisch.
Sybille ist verliebter denn je. Sie stört mich inzwischen nicht mehr. Denn ich bin viel unterwegs, meistens ohne sie. Und in meinem zweiten Leben stoße ich beim weiblichen Geschlecht auf eine besonders große Offenheit.



7
 
Für den ersten Text hier in der Leselupe ziemlich gut, obwohl ich anfänglich einigermassen mit mir kämpfen musste, ob das wirklich zu Humor&Satire passt, und nicht eigentlich zu SciFi gehört. Nachdem ich die ganze Geschichte durch habe, bin ich aber der Meinung, dass sie hier schon ihren berechtigten Platz hat.

Die Geschichte passt stilistisch und vom Thema zu denen, die in der Computerzeitschrift c't immer wieder gedruckt werden.

Marius
 
M

Melusine

Gast
Hallo Digitalia,

mal so von Neumitglied zu Neumitglied: Deine Geschichte gefällt mir! Ganz besonders die dahinter stehende Botschaft (jedenfalls lese ich sie so), dass männlicher Größenwahn aus dem Schwanz kommt *gg*. Oder warum sonst würde sich nach erfolgreicher Rücktransplantation das Ego des Ich-Erzählers bauschen wie ein Vorhang im Wind, während Herz und Hirn offenbar unberührt bleiben.

Was mir nicht ganz einsichtig war: Wie kann man am 24. Dezember in Berlin im Freien übernachten? Ist das nicht ein bisschen kalt? Warum finden die Leute es normal, bei Temperaturen um den Nullpunkt im Schlafsack im Freien zu kampieren?

Oh, und - dein erster Beistrich ist überzählig. "Nur nachts werde ich manchmal noch geplagt ..." - ohne Beistrich. (Sonst hab ich sprachlich noch nicht so genau Acht gegeben, weil mich der Inhalt gefesselt hat.)

LG Melusine
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
nun,

melusine, die geschichte spielt doch in der zukunft. und da hat berlin - so wie alle anderen großen städte - ein dach drüber. autos fahren elektrisch, also keine abgase. die stadt wird beheizt. man braucht keine obdachlosenheime mehr. blumen und andere pflanzen sorgen für gute luft . . .
lg
 
M

Melusine

Gast
@flammarion:

Aus meinem zuletzt wohligen Dösen weckten mich die ersten Schneeflocken dieses Winters. Endlich eine Nachricht auf dem Handy: \"Ich habe doch gefroren und wollte dich nicht wecken, bin schon zu Hause. Es war eine tolle Nacht, Knut, ich möchte dich weiter auffressen. Flieg her, sobald du wach wirst!\"
Siehst du? Keine Überdachung!

Ich bin aber in Sci-Fi nicht sehr bewandert, wie ich zugeben muss. Vielleicht ist es ja logisch, dass die neuen Erdbewohner robuster sind als wir heute, weil sie genetisch schon so viele Schadstoffe überlebt haben.

LGM
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ach,

schade! ich begann gerade, mich in dieser zukunft wohl zu fühlen . ..
nee, schnee uff m kopp, det will ick nich. muss sich der autor wat infalln lassn.
lg
 

Digitalia

Mitglied
Hallo, Malusine und flammarion,
ganz herzlichen Dank für Eure - in jeder Hinsicht "warmen" - Worte, für Euer Interesse und Euer Kopfzerbrechen. Ihr habt den Text nicht ganz genau gelesen, denn dort kommt zweimal vor, dass der Platz am Weihnachtsabend von Gasleuchten fast sommerlich warm beheizt wurde.
Leider habe ich verdammt wenig Zeit, sonst hätte ich Euch schon früher geantwortet.
Euch beiden beste Grüße
Digitalia
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
aha.

da haben wir wohl den gasleuchten nicht allzuviel kraft zugetraut . . . zumal der wind ja nicht abgeschaltet werden kann.
lg
 



 
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