Im Ruheabteil

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anbas

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Im Ruheabteil

Chris Reas melancholischer Blues begleitet mich während der ersten dreißig Minuten. Die Nacht war kurz und unruhig gewesen. Es ist etwa halb zwölf Uhr Mittags, doch ich fühle mich so, als wäre es erst sechs Uhr morgens - trotz Cappuccino am Bahnhof.

Ich habe mir einen Sitzplatz in einem Ruheabteil reservieren lassen. Schon vor einigen Jahren hatte ich zufällig mitbekommen, dass die Bahn solche Abteile anbietet. Der Handyempfang soll nicht so gut sein, und ein Schild mit stilisiertem Gesicht, das sich einen Finger vor den Mund hält, macht deutlich, dass man hier um Ruhe bittet. Leider schützt es nicht vor den Menschen, die diesen Hinweis nicht sehen oder nicht sehen wollen. Besonders schützt es aber nicht vor solchen Idioten, die ihre mobile Soundanlage so laut aufdrehen, dass das Schrappen aus den Kopfhörern im gesamten Abteil zu hören ist. Genau zwei davon sitzen einige Plätze vor mir. Auch vor überdrehten und - um es positiv zu formulieren - recht lebhaften Kindern, die den Begriff "Ruheabteil" sehr schnell ad absurdum führen, ist man nichtgefeit, wie ich gerade feststellen muss. Mindestens sechs von dieser Sorte, verteilt auf drei Mütter, befinden sich in dem Großraumwagen in dem ich sitze. Sie kommen von einer Mutter-Kind-Kur, wie sich schnell herumspricht.

Ich setze meinen MP3-Player ein, um mich vor dem Lärm der anderen zu schützen. Chris Rea leistet gute Arbeit, ich kann etwas dösen. Auch die Zeitung lese ich einige Zeit später noch mit eingestöpselten Ohrknöpfen. Inzwischen ist Chris fertig und die Mamas And The Papas schwärmen von Kalifornien.

Es ist mein zweiter Urlaubstag. Mehrere Wochen lärmende Umbauarbeiten auf meiner Arbeitsstelle bei weiterlaufendem Bürobetrieb liegen hinter mir: Verwaltungsarbeit, Klientenberatung und Verhandlungen am Telefon, während ein paar Stockwerke unter mir Mauern durchbrochen, Türen erweitert und neue Leitungen unter Putz gelegt werden. - Ich habe ein deutlich erhöhtes Ruhebedürfnis.

"In einer Stunde müssen wir aussteigen!", schallt es durch das Abteil.

Doch, ich mag Kinder - besonders wenn sie die Klappe halten oder in einem normalen Tonfall reden. Das eben gerade war selbst für ein munteres Kind kein normaler Tonfall mehr - das war kreischende Sirene pur. Ich frage mich, ob ich vielleicht nur etwas lärmempfindlich oder etwa doch intolerant und kleinkariert bin? Andererseits habe ich nun einmal dieses große Ruhebedürfnis und mir genau deshalb einen Platz in einem Ruheabteil reservieren lassen.

OK, Kinder können nicht über längere Zeit ruhig sein, versuche ich mir einzureden. Wirklich nicht? Zwei Plätze vor mir spielt ein Junge schon seit über einer Stunde mit seiner Mutter ein Brettspiel. Sie sind in das Spiel vertieft. Manchmal lachen sie oder unterhalten sich. Doch es stört mich nicht. Gerade als ich tiefer in dieses Bild eintauchen möchte, kreischen diesmal gleich zwei Sirenen einige Meter hinter mir los. Ich atme tief durch und beschließe, die eine Stunde noch durchzuhalten und versuche mich in Selbstsuggestion: Es sind Kinder, ich mag Kinder, ich will Kinder weiterhin mögen und ich will lernen, auch die zu mögen, die ich wegen ihres Gekreisches am liebsten aus dem Zug werfen möchte.

Ich merke recht schnell, dass ich mir da eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe gestellt habe. Mein Verstand will das alles akzeptieren, doch meine Muskeln signalisieren zunehmend verkrampfend andere Signale. Dann schrillt plötzlich auch noch ein Handy. So schlecht scheint der Empfang im Ruheabteil doch nicht zu sein. Er reicht zumindest für ein etwa fünfzehnminütiges Gespräch über die Planung des bevorstehenden Wochenendes aus. Ich spüre, wie mir mein Hals zunehmend anschwillt und sich meine Zähne in einander verbeißen. Wie schon so oft fange ich an, darüber zu sinnieren, ob man in Anbetracht der beiden Typen mit ihren aufgedrehten Soundanlagen und dem, pardon, Arschloch, welches das Zugabteil mit einer öffentlichen Telefonzelle verwechselt, den Begriff "asozial" nicht neu definieren sollte.

Inzwischen haben sich einige Kinder zusammengesetzt und spielen irgendein Kartenspiel. Eines der Kinder, ein Mädchen, etwa sechs oder sieben Jahre alt, hat ihren I-Pot voll aufgedreht und brüllt seine Kommentare zu dem Spiel ins Abteil. Nach einer Ewigkeit versucht die Mutter einzuschreiten.

"Hey, sei mal etwas leiser."

"Was?"

"Du sollst nicht so brüllen!"

"Was ist??"

"Brüll nicht so, wenn Du mit mir redest!"

"Was??!"

"Du sollst nicht so brüllen!!"

"Ich verstehe dich nicht", gluckst es ausgelassen überdreht zurück.

"Ja, weil Du das Ding so laut aufgedreht hast!"

"Ich kann Dich nicht verstehen! Ich kann Dich nicht verstehen!"

Die Mutter gibt auf, und ich stehe kurz davor, meine Übung der wachsenden Toleranz ebenfalls zu beenden. Stattdessen drehe ich die Lautstärke meines MP3-Players höher. Es ist mir inzwischen egal, ob ich jetzt auch zu den Nervensägen gehöre oder nicht. Das hier ist ein Fall von Notwehr. Nach einiger Zeit tun mir jedoch die Ohren weh und ich schalte das Gerät wieder ab.

"Sandra, wo willst Du jetzt schon wieder hin?" Die erschöpfte Stimme der Mutter gibt dem Übel einen Namen.

" Sandra" - bis eben noch mochte ich diesen Namen. Nun ist er aus der Liste der möglichen Namen für die Tochter, die ich vielleicht irgendwann einmal bekommen werde, für alle Zeiten gestrichen.

"Alles eine Frage der Erziehung", würde meine Mutter wohl stöhnend vor sich hermurmeln, und ich würde ihr ausnahmsweise mal beipflichten. Das wäre dann aber eine Bankrotterklärung an meinen eigenen Anspruch und mein gerade begonnenes Training hinsichtlich Toleranz und Empathie. Schließlich handelt es sich hier um Kinder, die nur spielen wollen - aber das sagen all die Hundebesitzer über ihre Köter auch, wenn sich diese gerade in die Wade eines Joggers verbissen haben.

Ich unternehme einen erneuten Anlauf meiner Selbstsuggestion. Doch als ich wenig später zu meinem eigenen Verdruss feststelle, dass ich immer wieder zu ganz anderen und nicht gewollten inneren Bildern gelange und in meiner Phantasie der Göre schon mehrfach mit dem größten Vergnügen das Kabel von ihrem Kopfhörer zerschnitten habe, breche ich meine Übung endgültig ab. Stattdessen nehme ich das Ringbuch aus dem Rucksack und schreibe über meine Erlebnisse in einem Ruheabteil der Deutschen Bahn.
 
Mhhh, unsympathisch, zu "spiesserisch". Auch wenn Du vermutlich zum Thema recht hast, nur ist der Text aber keine Satire, sondern nichts anderes als ein Nörgeln, eine "Ein-Mann-sieht-Rot"-Geschichte, in der der Protagonist der Gute und alle anderen die Blöden und Schlechten sind. Ist langweilig und vergrault den Leser, weil er vom Autoren in einen "Privatkrieg" reingezogen wird.

Siehe dazu auch das Forumsgeleit und Humor 1x1 und dort wiederum den Punkt "Selbstironie".

Marius
 

anbas

Mitglied
Hallo Marius,

danke, dass Du Dich mit meinem Text auseinandergesetzt hast.

Problematisch finde ich es, wenn Du Deine persönliche Vorstellung von dem, was Humor ist, und davon, was langweilig ist oder nicht, auf eine pseudo-objektive Ebene stellst und von 'dem Leser' im allgemeinen sprichst. Du bist es, der die Geschichte spießig und langweilig findet. Ich kann durchaus damit leben, wenn meine Texte, mein Humor nicht überall und bei jedem ankommen - dafür sind die Geschmäcker und die Vorstellungen davon, was Humor eigentlich ist, zu verschieden. Ebenso sehe ich das Forumsgeleit als wichtigen und guten Hinweis an, nicht jedoch als "Die heilige unverrückbare Schrift" des Humorforums der Leselupe ;).

An den Bewertungen sehe ich schon, dass der Text insgesamt nicht so doll ankommt. Doch auch hierfür können die Ursachen unterschiedlich sein. So wurde z.B. in einem anderen Forum, in dem ich den Text veröffentlicht habe, bemängelt, das er zu viele Längen hätte.

An solchen und ähnlichen konstruktiven Kritiken bin ich sehr interessiert. Ich finde es auch wichtig, zu erfahren, wenn meine Texte nicht ankommen, und warum dies so ist. Doch finde ich es vom Umgang her fairer, solche Kritiken und Anmerkungen als 'Ich-Botschaften' zu senden und nicht in scheinbar allgemeingültige Aussagen zu verpacken. Entsprechend werde ich auch Deinen Kommentar für mich als persönliche Anmerkung bewerten, für den ich mich nicht nur formhalber bedanke, sondern mit dem ich mich wirklich auseinandergesetzt habe (was mit ein Grund dafür ist, weshalb ich so spät antworte :D).

Liebe Grüße

Andreas
 
Was ich im Humor 1x1 zusammen getragen habe, stammt nicht von mir alleine. Ich habe mich durch mindestens 10 US-Bücher zum Thema "How to be funny" durchgeackert, und lese regelmässig Beiträge von Leuten wie Gene Perret, die für diverse Sitcoms und Comedians geschrieben haben und ihre Erfahrungen einbringen. "Self-deprecating Humor" (also schlampig übersetzt mit "Selbstironie") ist ein wiederkehrendes Element. Dieses Humor 1x1 ist eine komprimierte Version von all diesen Analysen zum Thema Humor. Und die Leute, die diese Bücher geschrieben haben, sind Standup Comedians, Satiriker etc.
Das ist deshalb wichtig, weil ich selber immer wieder anstehe, nicht weiter weiss und fühle, dass ein Text einfach nicht klappen will. Und am besten lernt man, wenn man einfach andere Autoren liest und dann analysiert, was super geht und was nicht, warum man gelacht hat oder warum nur ein schales Gefühl zurückbleibt.

Insofern bin das schon nicht ganz nur ich, der da einen Erfahrungsschatz ausspricht. Da ich eine Satirezeitschrift herausgebe und einen Kabarettpreis gewonnen habe, glaube ich schon einigermassen zu sehen, was geht und was nicht. Und ich lehne solche Grantltexte üblicherweise für die Satirezeitschrift ab. Nichts ist unlustiger, als ein mosernder Ich-Erzähler, der in allem Recht hat und alle anderen nur "dumm" sind oder sich falsch verhalten. Und auf den (den Ich-Erzähler) zum Schluss der Humor nicht zurückfällt. Als das kannst Du es nehmen.

Und die Bewertungen geben dem offensichtlich recht, auch wenn ich natürlich nicht behaupten will, dass die anderen Leser genau aus diesem Grund schlecht bewertet haben.

Aber jede Kritik hier ist subjektiv und ich vermute mal, dass Du hier Deine Texte postest, um Feedback zu kriegen, und nicht um nur Lob abzuholen ;-)
Frage nicht, wie oft ich kein Lob gekriegt habe, auch wenn ich meinen Text geliebt habe, aber Du weisst ja: die Leser sind einfach "dumm" und ich habe Recht ;-)

Marius
 



 
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