Im Schatten der Nacht

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Cirias

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Im Schatten der Nacht


In der Nacht war Schnee gefallen. Leon folgte den Spuren seiner Hündin in den Wald. Ein durchsichtiges Licht stand auf den gefrorenen Wegen. Behutsam trat er in die Schneekrusten. Irgendwo, in unverrückbarer Entfernung hatte der Tag begonnen, ein heller, unter den Bewegungen seiner Schritte zitternder Streif über der Schattenhaut des Waldes.

Ein Schuss durchfuhr die Stille. Leon blieb stehen. Plötzlich spürte er die Kälte auf seiner Haut. Er rannte tiefer in den Wald. Sein Schatten fuhr über die dunkle Rinde der Bäume. Abrupt blieb er stehen. Ein Steinwurf von ihm entfernt, da wo die Spuren endeten, lag Freias Körper auf einer Lichtung. Sie lag mit offenen Augen da. Leon bettete seinen Kopf auf ihren Bauch. Ihr Körper war noch warm. Er presste seine Lippen in ihr Fell. Wenn er weiter gemacht hätte, mit immer rascheren Atemzügen, hätte er sie gewiss wieder atmen hören können, so wie er manchmal das Eis an der Scheibe seines Kinderzimmers aufhauchte. Aber es gab Dinge, die immer unsichtbar blieben.
In diesem Augenblick fiel ein Schatten über ihn. Leon wollte sich umdrehen, als ihn ein Schlag am Hinterkopf traf und er bewusstlos zur Seite sank.

Der Regen hatte die Landschaft zu einem fahlen, durchsichtigen Himmel zerrinnen lassen. Ein zäher Regenfilm klebte auf der Windschutzscheibe. David fluchte leise vor sich hin. Ein grauer Backsteinbau tauchte hinter den Bäumen am Straßenrand aus den Schemen des Regens. Das musste das Haus sein. David folgte den tiefen Fahrspuren auf den Hof. Er stieg aus und öffnete die Tür. Ein abgestandener, dumpfer Geruch schlug ihm entgegen. David sog die Luft ein. Dieses Haus war der Ort, zu dem nach Leons Verschwinden alle Spuren geführt hatten.


Inzwischen waren fast zwei Jahre vergangen. Man hatte die Ermittlungen eingestellt. David wollte nur eines: herausfinden, was mit seinem Sohn passiert war.
Das Haus war seit vielen Jahren unbewohnt. David ging durch die Räume. Spinnweben hafteten sich an seine Kleidung. Der Regen stand wie eine grau schimmernde Wand vor den Fenstern. Es wurde rasch dunkel. Er beschloss, nicht mehr in den Gasthof zurückzufahren. David nahm seinen Schlafsack aus dem Auto. Er legte sich auf ein altes Sofa, das die Zeiten im Parterre des Hauses überstanden hatte. Der Regen schlug trommelnd auf das Dach. Aber da war noch etwas anderes. Oder war es nur der Widerhall seiner quälenden Fragen: Warum gerade hier, fünfhundert Kilometer von zu Hause entfernt? Warum hatten sie Leon an jenem Wintertag allein in den Wald laufen lassen? Vielleicht war Leon gar nicht tot. Die Müdigkeit legte sich wie ein finsterer Schleier auf seine Gedanken. David fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als er erwachte, war die Dunkelheit wie ein rauschendes schwarzes Meer um ihn. Es musste mitten in der Nacht sein. Durch das Rauschen des Regens konnte er deutlich Klopfgeräusche hören. Sie kamen direkt aus dem Haus, irgendwo unter ihm. Sein Körper schnellte in die Höhe. Durch das Klopfen hindurch glaubte er eine Stimme rufen zu hören. Eine Kinderstimme. Er zog die Taschenlampe unter dem Kopfkissen hervor und ließ den Lichtkegel durch den Raum wandern. Sein Herz raste. Er schälte sich aus dem Schlafsack und ging in den Flur. Der verdammte Regen schluckte jeden Laut von draußen. Hier drinnen gab es nur das grauenvolle Klopfen. Es kehrte in regelmäßigen Abständen wieder und es schien direkt aus dem Keller zu kommen. David leuchtete die Kellertreppe hinab. Das Ding war eine morsche Stiege, an deren Ende der Lichtstrahl der Taschenlampe von der Finsternis aufgesogen wurde. Er stieg hinab. Seine Beine zitterten. Die Klopfgeräusche erstarben, so als hätte ihn jemand gehört. Plötzlich glitt er auf den Stufen aus. Die Lampe schlug gegen die Wand. Er fiel auf einen Holzverschlag, der unter dem Gewicht seines Körpers zerbarst. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein rechtes Knie. Auf allen vieren tastete sich David an den feuchten Kellerwänden entlang, bis er die Taschenlampe in seiner Hand spürte. Das Klopfen hallte als dumpfer, pochender Laut an den Wänden wieder. Offensichtlich war er gegen einen Schrank gestürzt, aus dessen Rückwand nun ein eigenartiger Lichtschimmer drang. Sein Knie schmerzte bei jeder Bewegung. Mit dem anderen Bein trat er gegen die Rückwand, die splitternd nachgab. Er erstarrte.
Ein langer, beleuchteter Gang führte in die Tiefe. Er hatte bei seiner Ankunft im Haus noch gesehen, dass der Verteilerkasten aus der Wand gerissen war. Es konnte also gar keinen Strom mehr geben. Ein modriger, undefinierbar süßlicher Geruch schlug ihm entgegen. Flackernd fuhr das Licht aus Dutzenden von der Decke baumelnden Glühbirnen über die Wände. Er humpelte in die Tiefe. Das Klopfen und Rufen schnitt wie eine grausame Melodie in seinen Kopf. Der Gang endete in einem Verlies mit unzähligen Verschlägen. Die Rufe schienen wie ein Echo aus tausend Kinderstimmen in seinem Körper wiederzuhallen. Es war, als ob jemand mit seinen Fäusten verzweifelt gegen eine Stahlwand schlug. Taumelnd drehte er sich im Kreis. Plötzlich erstarrte er. Da waren deutlich Schritte zu hören. Schritte auf der Kellerstiege. Den Glühbirnen entfuhr ein unheilvolles Summen. David ergriff Panik. Er stürzte nach oben, riss die Tür auf und lief in den Regen. Zitternd drehte er sich um.
Hatte er nicht selbst die Tür abgeschlossen? Starr vor Angst stieg er in sein Auto. Er schaltete das Radio ein. David ließ die Scheibenwischer über den zähen Regenfilm auf der Windschutzscheibe laufen und leuchtete mit den Scheinwerfern auf das Haus. Aus den fahlen Konturen der Regennacht wuchs der düstere Backsteinbau ins Licht. Das Haus schien sich zu bewegen. David ahnte in diesem Augenblick, dass es ein schreckliches Geheimnis in sich barg.

Damals hatten sie nicht mehr als Leons Baseballkappe mit dem `Darkman´-Aufdruck auf der Straße vor dem Haus gefunden. Das war alles. In dem Haus hatte man nichts Verdächtiges gefunden. David atmete tief durch. Das Bild des Kellers ließ ihn nicht mehr los.
Im ersten Morgengrauen humpelte er durch die Pfützen auf das Haus zu. Es war still. Der Regen hatte nachgelassen. Er fand die Kellertür verschlossen vor. David ging in den Nebenraum. Was er sah, ließ ihn erstarren. Auf seinem Schlafsack lag eine Baseballkappe. Jemand war hier. Jemand erlaubte sich einen üblen Scherz. Eine eisige Kälte schlich über seine Haut.

David fuhr den ganzen Tag in der Gegend herum. Er sprach mit jedem, den er traf. Niemand konnte oder wollte ihm etwas über das Haus sagen. Im Gedächtnis der Leute hier hatte es schon immer leer gestanden. Der Gastwirt gab ihm mehrere Kartons voll mit alten Wochenzeitungen, die sein Vater auf dem Dachboden aufbewahrt hatte. Den ganzen Nachmittag suchte er vergeblich in den vergilbten Seiten .

In der Abenddämmerung kehrte er zurück in das Haus. Wieder begann es zu regnen. Das Regenlicht lag wie ein kalter grauer Strom in den leeren Zimmern des Hauses. Das Haus schien in sich eingesunken wie ein still gewordener Schatten auf die Nacht zu warten. Der Ascheton des Regens hatte die Fenster erblinden lassen. David schlief nicht. Ängstlich horchte er in die Stille. Er sah auf die Uhr. Ein Schatten glitt durch den Raum. Die Stiege knarrte unter schweren Schritten. Stimmen schienen aus den Wänden zu flüstern. Oder war es der Regen auf dem Dach?
David stieg in den Keller hinab. Wieder brannte das Licht. Das Klopfen kratzte wie ein Echo an den Wänden. Er hatte das deutliche Gefühl, sich in einem lebenden dunklen Organismus zu befinden, der sich dehnte und wieder zusammenzog als würde er atmen. Die Verschläge waren von schweren Stahltüren verschlossen. So sehr er auch daran rüttelte, sie gaben nicht nach. Wie Flugschatten hallten die Stimmen, Kinderstimmen, an den Fels, verzweifelt und angsterfüllt. David wurde schwindlig. Und plötzlich sah er auf einen Mann mit zerlumpter Gestalt. Seine muskulösen Unterarme ragten aus einer schäbigen Filzjacke und waren über und über beharrt. Seine Gestalt war gedrungen und seine Augen, die fast nur aus der Pupille zu bestehen schienen, funkelten. David schrie. Der Mann verschwand. Unter den Klopfgeräuschen schien das Haus zu bersten. David rannte hinaus. Vor der Tür stand eine zahnlose Alte. Sie hatte riesige hervorstehende Augen, wie die eines Fisches, und starrte David hasserfüllt an. Er startete den Wagen und raste in die Nacht. Sein Körper zitterte. Es konnte nicht sein. Seine verdammte Phantasie ging mit ihm durch.

Am nächsten Tag durchsuchte er die übrigen Kartons mit den alten Wochenzeitungen.
Es war später Nachmittag, als er fündig wurde. Es begann zu regnen. David hielt eine unscheinbare kleine Zeitungsmeldung mit einer Fotografie des Hauses in der Hand, die ihn erstarren ließ:


22. März 1932

Die Polizei durchsuchte vor einigen Tagen das Haus des ehemaligen Hausmeisterehepaares Darkling. Ein Kraftfahrer hatte beobachtet, wie das Ehepaar einen kleinen Jungen vom Bahnhof der Kreisstadt in ihrem Wagen mit nach Hause gebracht hatten und gewaltsam in das Haus gezerrt hatten.
Die Durchsuchung verlief ergebnislos. Es werde auch kein Kind vermisst, teilten die Schutzmänner mit.


1932... Das war fast achtzig Jahre her. Hatte sich irgendein Verrückter in das Haus geschlichen und trieb dort sein Unwesen? Er musste wissen, was dort geschehen war. Er musste wissen, was mit Leon geschehen war.

In der Nacht fuhr er zurück in das Haus. Regenschatten glänzten auf der dunklen Fassade des Hauses. Das Klopfen war da. Es schlug zitternd an die Fenster des Hauses. David nahm die Benzinkanister aus dem Kofferraum und leerte sie an den Hauswänden. Er entzündete ein Streichholz und warf es in die Benzinlachen.
Das Haus brannte die ganze Nacht. Wie in einem Fiebertraum loderten die Flammen in den Himmel. Im Morgengrauen ging er durch die schwelenden Trümmer. In der Mitte öffnete sich eine große Vertiefung. Die verkohlten menschlichen Knochen von Kindern ragten bizarr in die Luft. In der Ferne, am Waldrand, glaubte David für einen Augenblick einen Schatten stehen sehen. Es schien, als würde er winken, bevor er im Wald verschwand.
 



 
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