Im Schatten - überarbeitet

Peter Liebenau mochte mittelalterliche Kirchen. Besonders romanische. Ihre mächtigen, eher schnörkellosen Säulen trugen sichtbar die ehrliche Last eines nur von kleinen Fenstern unterbrochenen Mauerwerks. Und drinnen herrschte jenes Dämmerlicht, das ihn förmlich zur Andacht zwang, obwohl er bereits vor Jahren aus der katholischen Kirche austrat.
Er hatte sich nach zehn Jahre Ehe von Selma scheiden lassen und ein paar Jahre später Kathrin geheiratet. Geschiedene Wiederverheiratete aber waren nicht zur Kommunion zugelassen. Was sollte er in einer Kirche, in der das Hauptgebot der Liebe angeblich über allem stand, die ihm aber das Liebesmahl verweigerte?
Gotische Kirchen gefielen ihm weniger. Ihre Baumeister liebten den Schein und versuchten dem Mauerwerk unter anderem mit möglichst vielen und riesigen bunt verglasten Fenstern sichtbar Lasten zu nehmen. So bewunderte er sie der Himmel strebender Schwerelosigkeit wegen, doch mit jenem umgrenzten Raum, der sich zugleich grenzenlos ins Ewige öffnete, überzeugten sie ihn nicht.

Da viele ihrer farbigen Glasfenster dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen und durch einfaches Glas ersetzt wurden, war die der heiligen Elisabeth von Thüringen geweihte Hauptkirche ihrer Stadt auch über sechzig Jahre nach dem Krieg noch eine Licht durchflutete spätgotische Hallenkirche.
Gestern stieg er einmal mehr mit Kathrin, die die filigrane Leichtigkeit der Gotik der romanischen Schwere vorzog, die Treppen zum Hauptportal der Elisabeth-Kirche hinauf.
Auf der Treppe links von der Kirchentür kauerte eine Frau mit Kopftuch, barfuss, den Blick gesenkt. Mit der rechten Hand hielt sie sich ein in Lumpen gewickeltes Bündel vor die Brust, während sie die linke den vorbeikommenden Kirchenbesuchern entgegenstreckte.
„Kind hat Hunger!“ murmelte sie unablässig. Und dabei klang sie wie die Computerstimme der Endlosschleife eines Telefonservices, nur depressiver.
„Jetzt kommen diese Zigeunerinnen auch schon hierher!“ Kathrin, bei Peter eingehakt, zog ihn an sich. „Oft haben die gar keine Kind sondern eine Puppe im Arm.“
Die Abendsonne wärmte Peter den Rücken. Die offenbar noch sehr junge Frau auf der Treppe saß in seinem Schatten. Für einen Moment zog sie ihre linke verschmutzte Hand zurück, nestelte an ihrem Busen, entblößte eine nicht sonderlich saubere Brust und schob sie dort in das Lumpenbündel, wo der Kopf des Säuglings zu vermuten war.
Peter holte sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und nahm einen Zehn-Euro-Schein heraus.
„Diese Kinder lernen von Geburt an zu betteln und werden später von ihren Eltern zum Klauen abgerichtet.“ zischte Kathrin.
Die Frau auf der Treppe sah kurz zu Peter auf. In ihrem müden unterwürfigen Blick schwang trotz allem eine schlummernde Wachsamkeit mit. Sie streckte Peter die Hand hin. Er bückte sich. Kathrin wollte ihm den Geldschein aus der Hand nehmen. Die junge Frau war schneller, riss den Schein aus seiner Hand und ließ ihn irgendwo in ihrem faltenreichen blaugelbroten Lumpenkleid verschwinden.
Kathrin rammte Peter den Ellenbogen in die Seite. „Sentimental bist du, dumm und dem Kind hilfst du damit schon gar nicht!“

Als sie in der Elisabeth-Kirche unweit vom Hochalter standen, drehte sich Peter um. Die riesige Rosette über der Orgel, von der Abendsonne beleuchtet, schimmerte in kräftigem Rot, Blau und Gelb. „Sieht toll aus“, befand Kathrin und ging hinüber ins rechte Seitenschiff. Er folgte ihr. Vor einem von vielen Kerzen beleuchteten und bereits leicht geschwärzten Marienaltar blieb sie stehen. Die Gottesmutter blickte sehnsüchtig himmelwärts. Und selbst Gottvater hätte bei diesem Blick schwach werden müssen.
Grinsend ging Peter weiter. Als er aus dem Hauptportal kam, saß die junge Mutter noch immer auf der Treppe, blickte kurz zu ihm auf, lachte ihn an und schob vorsichtig die Lumpen von jenem Bündel zurück, das sie an ihre Brust drückte. Für einen Augenblick konnte Peter den braunen abgeschabten Zelluloidkopf einer Puppe erkennen. Die Frau, eigentlich noch ein Mädchen, sah ihm ins Gesicht. Er zuckte mit den Schultern und lächelte zurück.

Kathrin kam aus der Kirche und hakte sich bei ihm unter.
Die Glocken begannen zu läuten. Gleichzeitig sahen sie zu dem schlanken Kirchturm hinauf.
„Eigentlich“, sagte Peter, „eigentlich hasse ich gotische Kirchen und ihre Großartigkeit.“
 



 
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