Im Sommer meiner Kindheit

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Mika

Mitglied
Ich habe die warmen Jahreszeiten von jeher geliebt. Den Frühling und seine Schneeschmelze, einen Strauß Flieder auf meinem Geburtstagstisch und dann den Sommer, in dem die Farbe meines Haars zusammen mit dem Reifen des Korns auf den Feldern goldgelb wurde.
Ich freute mich auf meine kurzen Kleider, auf eiskalte Bowle und endlos süßes Wassereis, auf die Zeit in der ich Tobias wiedersehen konnte, noch befangen von einer kindlichen Liebe: Wir verbrachten Tage damit, auf Bäume zu klettern und Kirschen zu mausen, die wir anschließend zusammen mit meiner Mutter zu Kuchen und Marmelade verarbeiteten, wir oder saßen im Freibad und ich konnte es genießen, seinen Rücken mit warmer wohlriechender Sonnencreme einzureiben, weil das zu dieser Zeit noch keinen Anflug von Erotik hatte.

Wenn ich an damals denke, erinnere ich mich an die alljährlichen Ferien am See, an Gewitterabende und kühle Nebelmorgen, an die kleinen unscheinbaren Entdeckungen, die ich machte und die doch eine so große Bedeutung hatten – einen Laubfrosch zu fangen oder herauszufinden, wie man auf einem Grashalm bläst, war damals das Größte in meinem Leben.
Ich konnte völlig versinken im Rascheln der Blätter, wenn der Wind durch die Pappeln ging und mich für Stunden von der Sonne streicheln lassen. Nie wurde ich müde, Steine am Ufer zu sammeln oder Festungen mit Kleckerburgen aus feinem Sand und dem See zu bauen, um mir eine Welt in einem Palast zu formen, denn sie war einfach da, die unglaubliche Fantasie, die einen schlichten Stock zu einem Schwert werden ließ und mich zur Amazone machte, umherstreifend durch die Wiesen und Wälder im Sommer meiner Kindheit.
Ich konnte das Schilf am Ufer riechen und die sanfte Strömung spüren, wenn mein Vater und ich mit unserem Boot über den silbernen See glitten. Das Wasser war so klar, dass man auch an den tieferen Stellen bis zum Grund sehen konnte. Mein Vater hatte sein Paddel abgelegt und kleine Tropfen rannen vom äußeren Blattrand in den See und hinterließen endlos wiederkehrende Kreise auf dem seichten Wasser. Er erzählte mir alles über Blässhühner, Haubentaucher und die vielen Libellen, die auf unserem Boot rasteten. Eine der Libellen war besonders schön: sie war viel kleiner als die anderen und hatte sich lautlos durch die Luft bewegt mit ihren ganz grünblau-irisierenden Flügeln, wobei sie sich auf ein kleineres Insekt stürzte und es im Fangkorb ihrer Beine fest umklammert hielt – sie sah sehr räuberisch aus und trotzdem wirkte sie so zerbrechlich mit ihrem zarten Leib.
Bis jetzt habe ich nie wieder eines dieser faszinierenden Geschöpfe gesehen - oder vielleicht hat man mit der Zeit auch nur keine Augen mehr dafür...

Heute empfinde ich beim Anblick des Sees und von Alleen voller Kirschbäume noch genau die gleiche Glückseligkeit wie als Kind und doch ist es jetzt ganz anders.
Damals erschien mir alles so selbstverständlich, dass ich nicht darüber nachdachte, was ich in diesen Momenten fühlte und mir nicht vorstellte, wie der Sommer mit 22 sein würde. Oder vielleicht liegt der Unterschied darin, heute zu bewusst wahrzunehmen, allem einen Namen geben zu können und zu meinen, dass man es muss - die Schönheit der Erscheinungen bleibt, aber ihre Unschuld geht mit dem Erwachsenwerden verloren.
 
B

bluefin

Gast
liebe @mika,

wenn dein lyrich mit 22 schon meint, es gäbe nichts mehr zu entdecken und seiner "jugend" nachtrauert, die offenbar wesentlich in der genauen beobachtung der natur und im kennelernen von unbekanntem bestand, dann gilt es dem leser als armer wicht, der es offenbar nicht geschafft hat, von der raupe zum schmetterling zu werden.

nichts gegen pappis mit ihren paddelbooten und jugendfreunde, denen man den buckel einschmiert ohne hintergedanken - normalerweise sollte ein mädchen mit 22 nicht abgeschlossen haben mit der welt und meinen, dass hinterm horizont nichts mehr käme, was es nicht schon wüsste oder benennen könnte.

vor allem halte ich den ansatz für pathologisch, das altern ginge einher mit "schuldig" werden.

was für ein unsinn! das leben bleibt spannend bis ganz zum schluss; nur die kirche faselt von der erbsünde und will uns damit ausbeuten. ich rate dir: scheiß drauf! füttere deinem lyrich nicht immer nur die ollen kamellen, sondern schick es auf wanderschaft, dorthin, wo's andere seen gibt, oder das meer, andere horizonte, andere eindrücke. und jungs, die es zum zittern bringen, wenn sie es nur anschauen...

und dann lass es wieder erzählen.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 



 
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