Im Wartezimmer des Lebens(Überarbeitung von Blinde Wut)

MIO

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Im Wartezimmer des Lebens

Jedes Leben ist ein Buch -
es liegt in unserer Hand,
die ungeschriebenen Kapitel zu füllen.

"Darf ich Sie an ihren Platz führen?"
NEIN!, möchte sie ihm am liebsten ins Gesicht schreien,
aber sie schreit nicht. Schritt für Schritt, lässt sie sich führen, durch das Dunkel des "Mondscheinrestaurants."
Sie setzt sich auf die bequeme Eckbank und schließt die Augen. Der Geruch von Lavendel und die leise Klaviermusik im Hintergrund können sie nicht beruhigen. Der stechende Schmerz in ihrer Brust nimmt ihr den Atem. Nicht weinen. Tief durchatmen, einfach nur tief durchatmen, Anna.
Das ist ihr Abend und er wird verlaufen, wie sie ihn geplant hat. Sie ist so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie zusammenzuckt, als ihr Handy klingelt.
Es ist Jan.
"Ja", antwortet sie. "Ja natürlich werde ich warten Jan,
mach dir keine Sorgen."
Immer hat sie gewartet - auf ihren geliebten Papa, auf die Sommerferien, auf das Ende der Schulzeit...
Sie erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie begann zu warten. Es war ihr sechster Geburtstag.
Sie saß in der Ecke ihres kalten, düsteren Kinderzimmers.
Die Schreie der Mutter wurden immer lauter, dann fiel die Wohnungstür laut krachend ins Schloss.Wenn du jetzt weinst hau ich dir noch eine rein",sagte sie zu ihrem Teddy und warf ihn wütend gegen die Wand.
Von diesem Tag an war sie der lieblosen strengen Mutter hilflos ausgeliefert. Eine Kindheit nach ihren Plänen,
Standarttanz, Geigenunterricht, Turnverein, Nachhilfe...
"Streng dich an, das Leben ist kein Zuckerschlecken."
Nein, das war es nicht und der Strafkatalog war lang.
Das Schlimmste waren die vorwurfsvollen Augen und das tagelange Schweigen. Wie sehr sehnte sie sich nach zärtlicher Berührung, Blicken die ihr sagten, ich bin stolz auf dich. Darauf wartete sie vergebens. Egal, wie sehr sie sich bemühte, nie war sie genug.
Der einzige Lichtblick waren die Sommerferien, bei den Großeltern auf dem Land. Sechs Wochen Freiheit, eingebettet
in bunte Blumenwiesen, endlosen Sternenhimmel frisch gebackenen Apfelkuchen und Kakao. Im Baumhaus von Kai,
dem Nachbarsjungen, war sie Piratenbraut, Prinzessin oder einfach nur Anna. Vor ihrem inneren Auge sieht sie sich
mit dem Opa, bei seinen Bienen. Staunend lauscht sie den Geschichten des alten Mannes und beobachtet dabei das muntere Gewimmel im Bienenstock.
Schritte nähern sich. Nein, es ist nicht Jan, noch nicht.
"Möchten Sie schon etwas bestellen?", fragt der Kellner.
"Nein danke", ich warte noch auf meinen Mann.
Ihr Mann - war er das jemals - ihr Mann...
Ja damals, war sie sofort verliebt gewesen in seine blauen Augen, er war alles für sie. Ein Jahr später haben sie geheiratet, da waren die Zwillinge schon unterwegs.
Jan hatte sich seinen Traum von einem kleinen Bistro am Rande von Berlin erfüllt. Sie war die Frau an seiner Seite.
Ihr Leben war gefüllt bis zum Rand, ein Tag jagte den nächsten. Da war kein Platz für eigene Träume.
"Willst du mich umbringen!", fuhr er sie erbost an, als sie ihn bat aufs Land zu ziehen. "Du weißt doch genau das jeder Bienenstich für mich tödlich enden kann."
"Alles, alles außer tanzen", war sein Kommentar, als sie ihm ihren größten Traum gestand. Einmal, einmal in ihrem Leben wollte sie nach Wien fahren. In der festlich geschmückten Staatsoper, auf dem Opernball tanzen.
Wie gern würde sie die Zeit zurückdrehen, wenigstens bis vor den Unfall...
Jan hatte ein verlängertes Wochenende für sie an der See gebucht. Die Tage waren trübe und verregnet.
Deshalb beschlossen sie eher abzureisen. Die graue Nebel-
wand, die sich auf der Autobahn vor ihnen herschob,
war das letzte, das sie gesehen hat. Jan konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, aber der Wagen hinter ihnen nicht mehr.
Beim Aufprall auf den Sattelschlepper, öffnete sich der Airbag. Die Gläser ihrer Brille zersplitterten, zerschnitten ihr das Gesicht und nahmen ihr das Augenlicht.
Fünf schmerzhafte Operationen hat sie gewartet...
Dann, der die letzte Hoffnung zerstörende Satz:
"Wir haben alles getan, lernen sie damit zu leben."
Das Urteil war gesprochen - Verbannung in ewige Dunkelheit.
Nur in ihren Träumen, da kann sie sehen.
Fast jede Nacht sitzt sie in einem riesigen Wartezimmer.
Ihr gegenüber eine Tür, mit der Aufschrift: "GOTT"
Um sie herum sind Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern,
leeren und traurigen Augen. Einige sitzen erstarrt und reglos auf ihren Stühlen. Andere laufen, wie von Dämonen gehetzt hin und her. Warum versucht sie nicht aufzustehen?
Warum schlägt sie nicht mit den Fäusten gegen die Tür?
Worauf wartet sie Nacht für Nacht?
Jan ist seit dem Unfall sehr aufmerksam. Er bringt ihr Blumen und beschreibt ihr deren Farben. Früher liebte sie
den Duft der Rosen. Heute spürt sie nur die spitzen Dornen
der schwarzen Blumen. Jeden Morgen spricht er ihr liebevolle
Botschaften auf ihr altes Handy. Aber sie kann ihm nicht mehr vertrauen. Sie kennt ihn nur zu gut, den Geruch seiner Lügen, und auch den des nicht gerade dezenten Parfüms an seinen Hemden. Abend kommt er oft spät nachhause und wenn sie im Bistro anruft, ist er nicht dort.
Schritte nähern sich, Jans Schritte. Sie steht auf.
Er nimmt sie in den Arm, haucht ihr einen Kuss auf die
Wange und flüstert,: "Hallo Liebling."
Langsam legt sie die Arme um seinen Hals. Dann öffnet sie die kleine Dose und befreit die todbringenden Insekten auf seinem Rücken.
"Anna, ich ...", röchelt er, während sie sich aus seiner Umklammerung löst. Langsam sinkt er zu Boden.
Sie hört noch im Gehen die panischen Stimmen.
"Machen Sie doch das Licht an!"
"Schnell, rufen Sie einen Notarzt!"
Sie steigt in das wartende Taxi und verschwindet in die Nacht.
Der Kommissar hält die kleine Dose in der Hand und schüttelt ungläubig den Kopf.
Dreißig Jahre arbeitet er nun schon bei der Mordkommission, aber Bienen als Mordwaffe...
"Hat schon jemand seine Frau verständigt?",fragt er seine junge Kollegin. Sie wurde gerade in ihrer Wohnung gefunden.
Sie ist tot - hat sich die Pulsadern aufgeschnitten.
Mit einem Messer öffnet sie den Briefumschlag, den der Tote
aus dem Restaurant in der Hand hielt.
Heraus fallen zwei aufwendig gestaltete Karten und ein kleines in Herzpapier gewickeltes Päckchen.
Sie faltet das Papier auseinander, schaut sich das kleine weinrote Handy an und drückt auf Play:
Liebste Anna!
Sehnsüchtig habe ich auf diesen Tag gewartet.
Ich habe eine große Überraschung für dich.
Seit drei Monaten nehme ich Tanzunterricht und Monique,
meine Tanzlehrerin, meint ich sei gar nicht so unbegabt...
 

jon

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Schön, mir gefällt die "Entspitzung" von Annas Schicksal gut – diese Art "schwere Kindheit" ist gewöhnlicher (als der gewaltsame Tod der Mutter in der ersten, hier nicht mehr sichtbaren Version) und wird in ihrer Wirkung oft unterschätzt. Mir gefällt daran auch, dass Anna dadurch (bei allem Verstehen ihres Werdeganges) weniger als Opfer dasteht, sondern "nur" als jemand, der nie die Kraft aufbrachte, sich nicht als solches zu fühlen.

Was die "Formalien" wie die Zeilenumbrüche und eventueller Kursivdruck angeht: Einfach noch ein bisschen mit dem Computer üben, dann geht das automatisch.

Was noch immer nicht ganz geklappt hat, ist die Abtrennung des Schlussteils.
Zum einen solltest du nach "verschwindet in die Nacht" eine Leerzeile einfügen, das wäre das einfachste Mittel die beiden Teil zu trennen.
Zum anderen – und das ist auch ein Training für spätere "Schreibereien" – solltest du versuchen, einen anderen Klang zu erzeugen. Hier bei diesen Text ist das recht einfach. Der Anna-Teil ist sehr kühl, sehr distanziert, wie Stichworte werden hier momentane und erinnerte Elemente aneinandergehängt. Im Gegensatz dazu könnte der Schluss-Teil mehr erzählend sein. Nun wäre es übertrieben, gleich "richtig Film" zu machen so mit Beschreibung der Kulisse oder Vorstellung der Personen. Aber mehr Dialog ist absolut drin. So:

Der Kommissar hält die kleine Dose in der Hand und schüttelt ungläubig den Kopf.
Dreißig Jahre arbeitet er nun schon bei der Mordkommission, aber Bienen als Mordwaffe ...
"Hat schon jemand seine Frau verständigt?", fragt er seine junge Kollegin.
Sie nimmt das Handy vom Ohr. "Das waren die Kollegen, die zu ihr gefahren sind. Sie wurde gerade in ihrer Wohnung gefunden. Sie ist tot."
Der Kommissar horcht auf. "Noch ein Mord?"
"Nein, sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. – Wollen Sie jetzt den Brief sehen?"
"Welchen …? Ach so, den aus seiner Jackentasche. Ja, machen Sie mal auf!"
Sie greift nach einem der Messer auf dem nächststehenden Restauranttisch und öffnet den Briefumschlag. Zwei aufwendig gestaltete Karten fallen heraus und ein kleines in Herzpapier gewickeltes Päckchen. Letzteres reicht sie ihrem Kollegen.
Der faltet das Papier auseinander. "Ist das ein Handy? Etwas klein, oder?"
"Die sind jetzt so." Sie verdreht den Kopf, um besser sehen zu können. "Da ist eine Nachricht drauf, sehen Sie? Drücken Sie mal auf Play!"
Er tut es.
„Liebste Anna!“, erklingt es erstaunlich laut aus dem kleinen Gerät. „Sehnsüchtig habe ich auf diesen Tag gewartet. Ich habe eine große Überraschung für dich. Seit drei Monaten nehme ich Tanzunterricht und Monique,meine Tanzlehrerin, meint ich sei gar nicht so unbegabt ..."


Ein anderer Trick, den Klang zu verändern, ist das Spiel mit Satzlängen und -strukturen. Deine Sätze z. B. haben sehr oft (und vor allem oft hintereinander) eine sehr markante Hauptbetonung am Satzanfang. Aber das mal nur am Rande, sozusagen als Tipp für dein Schreiblernprojekt.
 



 
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