Im Zoo

Patina

Mitglied
Sie schaute die rosanen Flamingos an, wie sie wackelig zu einer Horde aufgebaut auf einem Bein standen. Plötzlich reckten sie im Pulk die Flügel und die Unterseite der Flügel offenbarte sich. Sie waren dort dunkler, kein zartrosa, ein leuchtendes pink. Und sie dachte, wie kitschig sie doch seien und daß dieser Kitsch durch seine Trivialität enfach grausam wäre. So kitschig wie das Schatzkästchen ihres Sohnes, der jetzt neben ihr stand und ebenfalls auf die Flamingos starrte. Dieses Schatzkästchen hatte er ihr neulich, als sie im Begriff war, sich von ihm zu verabschieden, ganz stolz und geheimnisvoll gezeigt. Er fragte sie: „Rate mal, was da drinnen ist.“ Beim Anblick des Schatzkästchens mußte sie an Perlen denken und fragte: „Perlen vielleicht?“ Langsam, um die Spannung zu steigern, öffnete er den Deckel der kleinen Kiste. Und es offenbarten sich viele Muscheln in verschiedenen Größen. Er nahm eine der kleineren Muscheln und übergab sie ihr stolz mit den Worten, so als ob er ihr ein Abschiedsgeschenk machen wolle: „Da, schenk’ ich dir!“ Mit einer gewissen Wehmut, gerührt von dieser netten kleinen Abschiedsgeste hielt sie die winzige Muschel, die auf der Innenseite perlmuttfarben leuchtete, mit der geriffelten weißen Oberseite, die sich nach außen wölbte, auf der flachen Hand, so als zögerte sie noch, dieses teure Geschenk annehmen zu können und insgeheim dachte sie, daß sie gerne auch das Gegenstück dazu gehabt hätte, um sich dann in die Öffnung hineinzubegeben, sie zu verschließen, um selber geschützt von der Muschel wie eine Perle im Schatzkästchen ihre Sohnes verschwinden zu können.

Sie nahm den Fotoapparat, betätigte den Zoom und fotografierte die Flamingos. Und dann setzte der Kleine an und sagte etwas und sie fühlte sich herausgerissen aus ihrer Flamingo- und Perlenwelt, mit Anstrengung balancierend, was jetzt wichtiger sei, ihre Gedanken oder die soeben gesprochenen Worte des Kindes und sie würde an den Psychologen denken und sich in ihrem Hin- und Hergerissensein etwas beruhigen, so als würde er über ihrer beider Köpfe hinwegfliegen, um schützend seine mächtige Spannweite über sie beide auszubreiten. Sie wandten sich von den Flamingos ab und betraten das Gewächshaus. Subtropische Dämpfe kamen ihnen in Wallungen entgegen und der Kleine hangelte sich von Kaktus zu Kaktus, indem er bei jedem einzelnen mit seinem ausgestreckten kleinen Zeigefinger die Picksprobe an den Stacheln machte. Sie fotografierte ihn vor einer Ansammlung von Kakteen, die so aussahen, als seien sie mit weichem Pelz überzogen. Diese Diskrepanz hatte sich in ihrer Magengegend breitgemacht und wie um sich deren zu erwehren, hatte sie den Fotoapparat gezückt, um dieses Bild festzuhalten. Der Kleine vor einem Haufen pelzüberzogener Kakteen. Danach konnte sie den Anblick wieder ertragen. Sie hatte diese schmerzende Leere weggeschossen. Sie betraten das Aquarium und galoppierten durch die dunklen Gänge mit ihren farbigen Fenstern, hier und da kurz verweilend, beide nicht hinschauen könnend zu dieser dunklen anderen fremden Welt, die sich vor ihnen öffnete. Das Ziel Krokodil im Tageslicht ließ sie fast rennen, denn sie wollten entkommen vor ihrem eigenen dunklen Unterbewußten, das sich prächtig in schillernden Farben in Form von Südseewasserfischen präsentierte.

Er begann aus Anstrengung kurz zu husten und sie mußte an jene grauenhafte Nacht denken, in der er mehrmals erwacht war, weil er keine Luft bekam und sie hatte ihm das Inhaliergerät an den Mund geführt und er hatte wie ein verzweifelt Ertrinkender daran gesaugt, da er fühlte, daß er keine Luft bekam, wie ein Fisch, der wenn er nicht im Wasser ist, mit dem Bauch nach oben liegt und nach seiner Luft ringt. Und der kleine Körper zitterte vor Angst, hin- und hergebeutelt zwischen den Atemzügen, die um Luft kämpften und enttäuscht wurde. Er saß aufrecht in der stockdunklen Nacht in ihrem Bett und kämpfte um die Luft, die er zum Leben so notwendig brauchte und sie saß daneben und konnte nichts tun, außer ihm das Inhaliergerät, das er selbst bedingt durch die Zuckungen, die seinen kleinen Körper durchliefen, nicht mehr greifen konnte, zu halten. Und sie dachte, jetzt ist es vorbei, er würde nicht genug Luft bekommen und daran sterben. Erschöpft nach dem Inhalieren sank er in seine Kissen zurück und atmete für kurze Zeit regelmäßig. Aber eben nur für kurze Zeit und die Atemzüge wurden wieder unregelmäßig. Und sie inhalierte erneut mit ihm, sich den Morgen dieser endlos durchwachten Nacht herbeiwünschend. Ein Morgen, der genauso grauenvoll sein würde wie die Nacht, in der die Fische wachen, da sie die Nacht neben ihm, der so unregelmäßig geatmet hatte, durchwacht hatte, ohne eine Ruhepause ihrem Unterbewußten gönnen zu können. Und dieser Morgen war surreal durch den Schlaf, den ihr seine Atmung, auf die sie ständig horchen mußte, geraubt hatte. Und sie dachte, daß es kein Wunder sei, daß sie rosane Flamingos liebe. Diese Luft, die er nicht bekam, war das immer noch jener Tiefausläufer, den er bedingt durch den ewigen Streit zwischen ihr und ihrem Mann in sich trug? Daß er deswegen um Luft ringen mußte, wegen der Spannung, die bei jedem Streit in der Luft gelegen hatte? Diese vergiftete Atmosphäre, die einen machtlos gebeutelt hinterläßt .Die durch Eiseskälte durchschnitten wurde? Oder hatte er einfach nur eine organische Krankheit, die sich Asthma nennt?

Atemlos gönnten sie sich eine Ruhepause, um bei glitzernden Silberfischen zu verweilen, die langsam und bedächtig mit erhabenen Bewegungen, als wollten sie zum Meditieren einladen, durch das Wasser schritten. Das Husten hörte auf. Die Stille in ihrem Kopf. Sie wollte losrennen und weglaufen vor der Stille. Sie konnte nicht, die Stille machte sie bewegungslos. Und während sie still den stummen Fischen lauschte, hallte in ihrem Kopf in ständiger Wiederholung das Wort Stille wieder, unabstellbar. Die Stille war keine Stille, die sich abstellen ließ.

Sie verließen das Aquarium und fanden sich vor einem Kaufstand wieder. Er wollte eine Pistole haben. Sie verweigerte ihm diese Pistole mit dem schmerzlichem Gewissen, daß sie ihm jetzt den Willen brach. Aber er kämpfte für diese Pistole. Sein ganzes Leben war ein kleiner Kampf. Sie verweigerte ihm die Pistole deswegen, weil ihr Mann es nicht wünschte. Er verzog sich schmollend hinter einen Baum, und ließ sich durch keine Worte dieser grausamen Welt beruhigen. Er verbrachte eine geschlagene halbe Stunde damit, mit seinen Gefühlen zu kämpfend. Genauso wie der Vater, wenn er schmollte. Nach einem Streit zog er sich tagelang zurück. Dies wiederholte der Kleine jetzt während dieser halben Stunde. Ihre Nerven hingen nur an einem dünnen Wollfädchen. Sie holte ihn aus seinem Versteck.

Ein Knall durchschnitt die Stille. Sie hatte ihm die Pistole gekauft, auf daß er kämpfe gegen die Stille.

Sie gingen ins Affenhaus. Bei den Schimpansen, die sich liebevoll um ihre neugeborenen Babys kümmerten, wollte er gar nicht verweilen. Ihn zog es zu den größten der Affen, den Gorillas und er sagte, daß er selber der größte, ein Gorilla sei. Sie beobachtete ihn, wie er auf die Affen stierte, die die ganze Zeit vor einem Gefäß standen, um mit einem Lianenblatt Zuckerwasser oder Nektar zu fischen. Dies schien ihn hungrig gemacht zu haben und er kam und verlangte sein Brot. Sie überkam wieder das beunruhigende Gefühl. Sie dachte an die Morgende, wenn sie sein Vesperbrot machte für den Kindergarten. Den Apfel schälte, das Gehäuse entfernte und das Ganze in Einzelteile zerlegte mit dem Bewußtsein, daß sie ihn den ganzen Tag alleine lassen mußte, ohne daß sie darüber wachen konnte, daß er richtig aß. Sie gab ihm das Brot.

Sie betrachteten den schwarzen Panther, der mit abgewendetem Kopf von seinen Zuschauern in seinem Käfig stand und jämmerlich wehklagend brüllte. Der Kleine ertrug den wehklagenden Panther genausowenig wie sie und sie ließen sich nieder auf eine Bank, Dann begann er, auf den großen Felsen zu klettern. Die dröhnende Leere im Kopf tauchte wieder auf, wenn er spielte und sie untätig daneben sitzen mußte, um ihm zuzuschauen, so als ob sie ihr eigener Zuschauer sei. Sie sagte ihm alle fünf Minuten, daß sie jetzt zu den Eisbären gehen wollten, worauf er ihr dann ständig erwiderte, daß das Klettern so Spaß mache und daß er noch eine Weile verweilen wolle. Und um diese Leere ertragen zu können, würde sie an den Psychologen denken, jede weiße Haarpracht, die vorüberging, überprüfend, ob er es etwa sei. Sie gingen dann nicht mehr zu den Eisbären, kehrten zurück in das Parkhaus, wo ihr Auto stand und sie hielt nur drei kleine Finger ihres Kindes in ihrer Hand. Vielleicht wollte sie sagen: „Nun lauf schon und lass dich überfahren.“

Nach diesem anstrengenden Morgen lehnte sie sich unbefriedigt im Sofa zurück und dachte, wie anstrengend es doch war, so wenig mit ihrem Sohn zu sprechen.
 
M

Monfou

Gast
Analytische Intimität

Hallo Patina,

dein Text hat m.E. eine sehr dichte Atmosphäre, eine (un-)ausgesprochene Intimität, die nie ins allzu Sentimentale abgleitet, auch dank einer gut strukturierten Sprache, die in ihrer analytischen Genauigkeit Distanz schafft. Über allem schwebt eine leichte, aber beherrschbare Verzweiflung. Oder ein überschattetes Glück.
Schön wäre es, wenn die sprachlichen Schnitzer behoben würden.

Sie schaute die rosa(farbenen) Flamingos an, wie sie wackelig zu einer Horde aufgebaut auf einem Bein standen. Plötzlich reckten sie im Pulk die Flügel und deren / ihre/ die Unterseite /die Flügelunterseite / zeigte /öffnete sich / wurde sichtbar. Usw.

Anmerkungen:
"rosa" lässt sich nicht beugen / schwierige Wortwiederholung Flügel-Flügel/ "offenbarten" ungebräuchlich gehoben (kommt an anderer Stelle nochmals vor)

Ich finde, es sind wirklich nur partielle Unfeinheiten.
Wie gesagt: Ein Text, der ganz leise, fast zart schwingt.

Beste Grüße

Monfou
 

Patina

Mitglied
Hallo Monfou,
danke für deinen Eintrag, ich bin noch etwas unbeholfen in diesem für mich neuen Forum. Schließlich habe ich doch den Antwort-Schalter gefunden. Ich habe dieses Forum empfohlen bekommen und werde zuerstmal tastende Fühler vorstrecken. Deine Antwort hat mich sehr gefreut. Es ist ein älterer Text, den ich sehr entkrempelt habe. Wahrscheinlich muß ich mir daran noch etwas die Zähne ausbeißen.
Viele liebe Grüße von Patina
 

Zefira

Mitglied
Hallo Patina,

... schön, Dir hier zu begegnen. Ich stimme Monfou zu, die Geschichte ist sehr dicht und einfühlsam. Mit einigen sprachlichen Wendungen bin ich nicht ganz einverstanden.

"...daß dieser Kitsch durch seine Trivialität einfach grausam wäre", da würde ich einfach setzen "war", das ist direkter und führt gleich in das Innenleben der Protagonistin.

"...als zögerte sie noch, dieses teure Geschenk annehmen zu können", da kann einfach "anzunehmen" stehen.
Die Geschichte mit dem Schatzkästchen kannst Du auch noch etwas raffen; wenn sie fragt "Perlen vielleicht?", erübrigt sich der Satz zuvor, daß sie an Perlen denkt, und "Abschiedsgeschenk" und "Abschiedsgeste"zweimal gleich hintereinander muß auch nicht sein.

"...wie um sich deren zu erwehren, hatte sie den Fotoapparat gezückt..." Wenn sich "deren" auf die Diskrepanz bezieht, muß es heißen "ihrer zu erwehren".

Die Szene im Aquarium, das Beängstigende daran, ist sehr gelungen. Dann die Hustenszene:
"...außer ihm das Inhaliergerät, das er selbst bedingt durch die Zuckungen, die seinen kleinen Körper durchliefen, nicht mehr greifen konnte, zu halten." Das ist viel zu verwickelt. Vielleicht "... außer ihm das Inhaliergerät zu halten, das er wegen der Zuckungen seines Körpers nicht selbst greifen konnte" oder so ähnlich.
Das gleich gilt für "Ein Morgen, der genauso grauenvoll sein würde wie die Nacht, in der die Fische wachen, da sie die Nacht neben ihm, der so unregelmäßig geatmet hatte, durchwacht hatte, ohne eine Ruhepause ihrem Unterbewußten gönnen zu können." Ich sehe selbst, daß es schwierig ist das einfacher zu sagen, aber so ist der Satz wirklich ein Knoten.
Daß die Silberfische durch das Wasser "schreiten", klingt eher komisch - besser vielleicht "gleiten"?

Im letzten Satz hast Du zweimal "anstrengend". Sonst gefällt mir der Schluß ausgezeichnet. Ich habe auch Kinder :cool:. Aber dieser letzte Satz ist auch doppeldeutig. Ist es so anstrengend, weil sie gern mehr sprechen würde und es nicht kann/darf? Oder ist es anstrengend, auch nur das Wenige zu sprechen und nicht vielmehr überhaupt nichts? Wenn diese Doppeldeutigkeit keine Absicht ist, dann löse sie lieber auf.

Ganz liebe Grüße von Zefira
P.S. Kennst Du meine Fledermausgeschichte schon? Unter "Erzählungen" hängt sie ganz weit unten herum, etwa MItte März ;)
 

Patina

Mitglied
Hallo Zefira,
hab's überarbeitet. Glänzt wie eine Perle. Vielleicht werde ich den Säuen bei Wolkensteins diesen Text auch vorwerfen. Vielen Dank fürs aufmerksame Lesen. Das bringt einen echt weiter.


Sie schaute die rosafarbenen Flamingos an, wie sie wackelig zu einer Horde aufgebaut auf einem Bein standen. Plötzlich reckten sie im Pulk die Flügel und deren Unterseite öffente sich. Sie waren dort dunkler, kein zartrosa, ein leuchtendes pink. Und sie dachte, wie kitschig sie doch seien und daß dieser Kitsch durch seine Trivialität enfach grausam war. So kitschig wie das Schatzkästchen ihres Sohnes, der jetzt neben ihr stand und ebenfalls auf die Flamingos starrte. Dieses Schatzkästchen hatte er ihr neulich, als sie im Begriff war, sich von ihm zu verabschieden, ganz stolz und geheimnisvoll gezeigt. Er fragte sie: „Rate mal, was da drinnen ist.“ „Perlen vielleicht?“ Langsam, um die Spannung zu steigern, öffnete er den Deckel der kleinen Kiste. Und es offenbarten sich viele Muscheln in verschiedenen Größen. Er nahm eine der kleineren Muscheln und übergab sie ihr stolz mit den Worten, so als ob er ihr ein Abschiedsgeschenk machen wolle: „Da, schenk’ ich dir!“ Mit einer gewissen Wehmut, gerührt von dieser netten kleinen Geste hielt sie die winzige Muschel, die auf der Innenseite perlmuttfarben leuchtete, mit der geriffelten weißen Oberseite, die sich nach außen wölbte, auf der flachen Hand, so als zögerte sie noch, dieses teure Geschenk anzunehmen und insgeheim dachte sie, daß sie gerne auch das Gegenstück dazu gehabt hätte, um sich dann in die Öffnung hineinzubegeben, sie zu verschließen, um selber geschützt von der Muschel wie eine Perle im Schatzkästchen ihre Sohnes verschwinden zu können.

Sie nahm den Fotoapparat, betätigte den Zoom und fotografierte die Flamingos. Und dann setzte der Kleine an und sagte etwas und sie fühlte sich herausgerissen aus ihrer Flamingo- und Perlenwelt, mit Anstrengung balancierend, was jetzt wichtiger sei, ihre Gedanken oder die soeben gesprochenen Worte des Kindes und sie würde an den Psychologen denken und sich in ihrem Hin- und Hergerissensein etwas beruhigen, so als würde er über ihrer beider Köpfe hinwegfliegen, um schützend seine mächtige Spannweite über sie beide auszubreiten. Sie wandten sich von den Flamingos ab und betraten das Gewächshaus. Subtropische Dämpfe kamen ihnen in Wallungen entgegen und der Kleine hangelte sich von Kaktus zu Kaktus, indem er bei jedem einzelnen mit seinem ausgestreckten kleinen Zeigefinger die Picksprobe an den Stacheln machte. Sie fotografierte ihn vor einer Ansammlung von Kakteen, die so aussahen, als seien sie mit weichem Pelz überzogen. Diese Diskrepanz hatte sich in ihrer Magengegend breitgemacht und wie um sich ihrer zu erwehren, hatte sie den Fotoapparat gezückt, um dieses Bild festzuhalten. Der Kleine vor einem Haufen pelzüberzogener Kakteen. Danach konnte sie den Anblick wieder ertragen. Sie hatte diese schmerzende Leere weggeschossen. Sie betraten das Aquarium und galoppierten durch die dunklen Gänge mit ihren farbigen Fenstern, hier und da kurz verweilend, beide nicht hinschauen könnend zu dieser dunklen anderen fremden Welt, die sich vor ihnen öffnete. Das Ziel Krokodil im Tageslicht ließ sie fast rennen, denn sie wollten entkommen vor ihrem eigenen dunklen Unterbewußten, das sich prächtig in schillernden Farben in Form von Südseewasserfischen präsentierte.

Er begann aus Anstrengung kurz zu husten und sie mußte an jene grauenhafte Nacht denken, in der er mehrmals erwacht war, weil er keine Luft bekam und sie hatte ihm das Inhaliergerät an den Mund geführt und er hatte wie ein verzweifelt Ertrinkender daran gesaugt, da er fühlte, daß er keine Luft bekam, wie ein Fisch, der wenn er nicht im Wasser ist, mit dem Bauch nach oben liegt und nach seiner Luft ringt. Und der kleine Körper zitterte vor Angst, hin- und hergebeutelt zwischen den Atemzügen, die um Luft kämpften und enttäuscht wurde. Er saß aufrecht in der stockdunklen Nacht in ihrem Bett und kämpfte um die Luft, die er zum Leben so notwendig brauchte und sie saß daneben und konnte nichts tun, außer ihm das Inhaliergerät zu halten, das er wegen der Zuckungen seines Körpers nicht selbst greifen konnte. Und sie dachte, jetzt ist es vorbei, er würde nicht genug Luft bekommen und daran sterben. Erschöpft nach dem Inhalieren sank er in seine Kissen zurück und atmete für kurze Zeit regelmäßig. Aber eben nur für kurze Zeit und die Atemzüge wurden wieder unregelmäßig. Und sie inhalierte erneut mit ihm, sich den Morgen dieser endlos durchwachten Nacht herbeiwünschend. Ein Morgen, der genauso grauenvoll sein würde wie die Nacht, in der die Fische wachen. Sie hatte die Nacht neben ihm durchwacht, ohne eine Ruhepause ihrem Unterbewußten gönnen zu können. Und dieser Morgen war surreal durch den Schlaf, den ihr seine Atmung, auf die sie ständig horchen mußte, geraubt hatte. Und sie dachte, daß es kein Wunder sei, daß sie rosane Flamingos liebe. Diese Luft, die er nicht bekam, war das immer noch jener Tiefausläufer, den er bedingt durch den ewigen Streit zwischen ihr und ihrem Mann in sich trug? Daß er deswegen um Luft ringen mußte, wegen der Spannung, die bei jedem Streit in der Luft gelegen hatte? Diese vergiftete Atmosphäre, die einen machtlos gebeutelt hinterläßt .Die durch Eiseskälte durchschnitten wurde? Oder hatte er einfach nur eine organische Krankheit, die sich Asthma nennt?

Atemlos gönnten sie sich eine Ruhepause, um bei glitzernden Silberfischen zu verweilen, die langsam und bedächtig mit erhabenen Bewegungen, als wollten sie zum Meditieren einladen, durch das Wasser glitten. Das Husten hörte auf. Die Stille in ihrem Kopf. Sie wollte losrennen und weglaufen vor der Stille. Sie konnte nicht, die Stille machte sie bewegungslos. Und während sie still den stummen Fischen lauschte, hallte in ihrem Kopf in ständiger Wiederholung das Wort Stille wieder, unabstellbar. Die Stille war keine Stille, die sich abstellen ließ.

Sie verließen das Aquarium und fanden sich vor einem Kaufstand wieder. Er wollte eine Pistole haben. Sie verweigerte ihm diese Pistole mit dem schmerzlichem Gewissen, daß sie ihm jetzt den Willen brach. Aber er kämpfte für diese Pistole. Sein ganzes Leben war ein kleiner Kampf. Sie verweigerte ihm die Pistole deswegen, weil ihr Mann es nicht wünschte. Er verzog sich schmollend hinter einen Baum, und ließ sich durch keine Worte dieser grausamen Welt beruhigen. Er verbrachte eine geschlagene halbe Stunde damit, mit seinen Gefühlen zu kämpfend. Genauso wie der Vater, wenn er schmollte. Nach einem Streit zog er sich tagelang zurück. Dies wiederholte der Kleine jetzt während dieser halben Stunde. Ihre Nerven hingen nur an einem dünnen Wollfädchen. Sie holte ihn aus seinem Versteck.

Ein Knall durchschnitt die Stille. Sie hatte ihm die Pistole gekauft, auf daß er kämpfe gegen die Stille.

Sie gingen ins Affenhaus. Bei den Schimpansen, die sich liebevoll um ihre neugeborenen Babys kümmerten, wollte er gar nicht verweilen. Ihn zog es zu den größten der Affen, den Gorillas und er sagte, daß er selber der größte, ein Gorilla sei. Sie beobachtete ihn, wie er auf die Affen stierte, die die ganze Zeit vor einem Gefäß standen, um mit einem Lianenblatt Zuckerwasser oder Nektar zu fischen. Dies schien ihn hungrig gemacht zu haben und er kam und verlangte sein Brot. Sie überkam wieder das beunruhigende Gefühl. Sie dachte an die Morgende, wenn sie sein Vesperbrot machte für den Kindergarten. Den Apfel schälte, das Gehäuse entfernte und das Ganze in Einzelteile zerlegte mit dem Bewußtsein, daß sie ihn den ganzen Tag alleine lassen mußte, ohne daß sie darüber wachen konnte, daß er richtig aß. Sie gab ihm das Brot.

Sie betrachteten den schwarzen Panther, der mit abgewendetem Kopf von seinen Zuschauern in seinem Käfig stand und jämmerlich wehklagend brüllte. Der Kleine ertrug den wehklagenden Panther genausowenig wie sie und sie ließen sich nieder auf eine Bank, Dann begann er, auf den großen Felsen zu klettern. Die dröhnende Leere im Kopf tauchte wieder auf, wenn er spielte und sie untätig daneben sitzen mußte, um ihm zuzuschauen, so als ob sie ihr eigener Zuschauer sei. Sie sagte ihm alle fünf Minuten, daß sie jetzt zu den Eisbären gehen wollten, worauf er ihr dann ständig erwiderte, daß das Klettern so Spaß mache und daß er noch eine Weile verweilen wolle. Und um diese Leere ertragen zu können, würde sie an den Psychologen denken, jede weiße Haarpracht, die vorüberging, überprüfend, ob er es etwa sei. Sie gingen dann nicht mehr zu den Eisbären, kehrten zurück in das Parkhaus, wo ihr Auto stand und sie hielt nur drei kleine Finger ihres Kindes in ihrer Hand. Vielleicht wollte sie sagen: „Nun lauf schon und lass dich überfahren.“

Nach diesem Morgen lehnte sie sich unbefriedigt im Sofa zurück und dachte, wie anstrengend es doch war, so wenig mit ihrem Sohn zu sprechen. Sie hätte so gerne wenigstens einen Satz zu ihm gesagt.
 

Zefira

Mitglied
Wunderbar, Patina...

... Du verstehst es, die Tücken des Mutterseins darzustellen, und zwar eine Schicht tiefer als "nur der Pudding hört mein Seufzen" und wie sie alle heißen.
"...mit Anstrengung balancierend, was jetzt wichtiger sei, ihre Gedanken oder die soeben gesprochenen Worte des Kindes...", das trifft es genau. Wie gut ich das kenne!

Zwei Kleinigkeiten sind mir noch aufgefallen:
"...der kleine Körper zitterte vor Angst, hin- und hergebeutelt zwischen den Atemzügen, die um Luft kämpften und enttäuscht wurde..." - abgesehen von dem Tippfehler (richtig wäre "enttäuscht wurden") ist mir das Wort "enttäuscht" in diesem Zusammenhang zu passiv. Im Augenblick fällt mir aber auch keine bessere Lösung ein. "... um Luft kämpften, die ihnen verweigert wurde" wäre kämpferischer, würde aber einen neuen Nebensatz bedeuten, den wir ja wohl nicht wollen. Vielleicht "... hin- und hergebeutelt zwischen vergebens nach Luft ringenden Atemzügen"?

Das zweite: "...worauf er ihr dann ständig erwiderte, daß das Klettern so Spaß mache und daß er noch eine Weile verweilen wolle." Also, "verweilen" hat er bestimmt nicht gesagt. Das Wort ist in diesem Zusammenhang viel zu erwachsen.
Sonst ist gerade diese Schlußszene sehr bewegend. Dieser Schlußsatz: "Sie hätte so gerne wenigstens einen Satz zu ihm gesagt." Ich hatte früher - inzwischen sind meine Kinder ja größer - abends manchmal das Gefühl, daß ich zwar ununterbrochen geredet, Anweisungen erteilt, Statements abgegeben etc. habe, aber nie einen richtigen Satz mit ihnen gesprochen. Wenn es ganz schlimm war, bekam ich meine einen richtigen Haß auf meine eigene mütterliche Stimme.

Schön, daß Du da bist :D
Zefira
 

Patina

Mitglied
Huhu Zefira,
danke für deine weiteren Anmerkungen. Ich werde sie sobald wie möglich einflechten.

Wahrscheinlich nimmt man das als Mutter viel zu ernst. Was soll man schon mit einem Kleinkind von drei Jahren reden. So alt war er damals. Jetzt ist er acht. Und ich bin in der erfreulichen Lage, seinen Ausschweifungen zuhören zu können. Manchmal langweilen sie mich entsetzlich. Aber da muß man wahrscheinlich durch. Hier und da ertappe ich mich dabei, wie ich in den Gedanken zu etwas anderem hüpfe. Einem Text von mir oder anderen in jenem Moment unpassenden Gedanken. Vielleicht bin ich auch nicht das Paradebeispiel einer Mutter, die sich unsere Gesellschaft so vorstellt. Das ist wahrscheinlich der Fehler, den ich ständig begehe, daß ich immer an diese dummen Konformen denke, die einem aufgezwungen werden. Aber in der Zwischenzeit bin ich bereit, immer mehr davon abzulegen.

Bis bald, Patina ;)
 



 
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