Im freien Fall

Roman

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Im freien Fall
Es hat lange gedauert, bis ich anfing es zu akzeptieren. Ich konnte mich aber immer noch nicht so richtig daran gewöhnen, dass die Leute mir mehr als einen Blick zuwarfen, um mich zu taxieren. Blicke die ich jetzt langsam zu deuten gelernt hatte. Frauen hatten mehr die mitleidigen, während Männer meistens den ablehnenden oder den neutralen Blick an den Tag legten. Kinder drehten den Kopf neugierig zu mir, wenn sie an mir vorbei liefen.

Wie gesagt, es hat lange gedauert, aber jetzt akzeptiere ich, dass ich so einer bin, der nicht mehr in die Gesellschaft passt, denn jetzt bin ich ein Penner, wie man so schön sagt.

Seit wann ich einer bin? So etwas kann man nicht genau auf den Tag sagen. Auf einmal gehörst du zu der anderen Seite der Gesellschaft. Es ist dir plötzlich bewusst und du kannst nichts dagegen machen. Es wäre müßig und auch überflüssig, wenn ich hier meine Geschichte erzählen würde. Niemand interessiert sich dafür ernsthaft. Das ist auch verständlich, hat doch jeder heute seine eigenen Sorgen. Sagen wir mal so: ich bin aus verschieden Gründen abgerutscht und auf der Strecke geblieben.

Zurzeit sitze ich am Zentralbahnhof in der Ecke an der Eingangstür. Da ist es einigermaßen windstill und die Sonne scheint auch den ganzen Nachmittag dorthin. Jedes Mal, wenn die Flügeltür mit der schmutzigen Glasscheibe geöffnet wird, sehe ich sozusagen im Spiegel eine heruntergekommene Gestalt. Dann ist sie wieder weg, wenn die Tür zuschlägt. „Wupp“, die Gestalt ist da. „Wupp“, die Gestalt ist wieder weg. Das geht so ungefähr 500-mal in der Stunde, denn es ist ein großer Bahnhof in einer großen Stadt, wo man anonym ist.

Ich habe mir diesen Platz deswegen ausgesucht, weil hier so viele Leute ein- und ausgehen und der eine oder andere schon mal einen Euro in den schmutzigen Pappbecher wirft, der da vor mir steht. Die Geschäfte gehen gut oder schlecht, das hängt vom Wetter ab, von der Uhrzeit oder von der Jahreszeit. Das ist ganz verschieden. Manchmal sehe ich ein bekanntes Gesicht. Da sich mein äußeres aber verändert hat, erkennen die Leute mich nicht mehr, zumal ich hier auf dem Boden sitze und die Menschen mich von oben herab sehen.

Wenn ich dann so ein bekanntes Gesicht sehe, reiße ich mich mit aller Gewalt zusammen, um nicht Erinnerungen aufkommen zu lassen. Denn eines habe ich schon gelernt: Wenn man auf Trebe ist, darf man nicht zurückblicken. Sonst kommen Erinnerungen auf, man wird schwach und steigt noch mehr ab. Ich wage gar nicht daran zu denken, was passiert, wenn ich im Keller bin.

„Wupp“, die Tür geht wieder auf und in dieser kurzen Zeit, während ich den Penner im Spiegel sehe, kann ich ihn beschreiben, denn ich kenne ihn verdammt gut. Er ist 58 Jahre alt, abgemagert, hat kaum mehr Haare auf dem Kopf und einen ungepflegten zerrupften Bart. Im unrasierten Gesicht dominiert ein halboffener Mund, der neuerdings Zahnlücken aufweist. Die hat er von einer Schlägerei von vor zwei Tagen. Die Zahnschmerzen sind fast unerträglich, aber heute ist Mittwoch und der Zahnarzt von der Caritas hat heute keine Sprechstunde.
Ein schmutziges Hemd und eine alte braune Lederjacke ist zu sehen. Da der Penner sitzt, sieht man nur den Oberkörper von ihm im Spiegel der Glastür. Ich weiß aber, dass die Hosen und die Schuhe auch schmutzig sind, genauso wie der ganze Kerl, der mal dringend ein Bad notwendig hätte. Außerdem hat der Penner jetzt Hunger, denn es ist früh am Morgen und gestern Abend hat es nur zu einer Curry-Wurst gereicht. Gottseidank hat er noch keine Alkoholprobleme. Das fehlt noch. Allerdings würde er jetzt in seinem Zustand eine Flasche Bier nicht ausschlagen. Sein schmutziger Pappbecher ist immer noch leer.

Ich dachte erst gar nicht mehr über mich selbst nach. Mich holte die Realität ein. Das Hungergefühl am Morgen machte sich immer mehr bemerkbar. Jemand hatte achtlos eine brennende Kippe hingeworfen. Sollte ich…?

Schmerzhaft wurde mir die soziale Hackordnung bewusst, als eine Gruppe von Punks mit ihren Hunden und Bierflaschen in den Händen sich der Tür näherte, sie machten verächtliche Gesichter und bösartige Bemerkungen als sie mich sahen. Erleichtert atmete ich aus, als sie an mir vorbeigingen. Keiner der Straßenpassanten würde mir zu Hilfe eilen, falls sie über mich herfallen wollten.
Es würde ein langer Tag werden. Der Kampf ums Überleben und das tägliche Essen hatte wieder begonnen.
 

jon

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Was hat dieser Text in „Fantasy und Märchen" zu suchen?

Abgesehen davon hat der Text mit der Überschrift nichts zu tun. Der „freie Fall“ des Ich-Erzählers ist ausdrücklich ausgespart, man sieht nur das Ergebnis. Und das ist weder neu noch „anrührend“ - letzteres liegt wohl auch daran, dass emotionslos erzählt und die wirklich harten Momente, die so ein Leben bringt, kaum stattfinden oder im Runterschnurren des Textes untergehen.
 



 
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