Im nächsten Leben

Kyra

Mitglied
Im nächsten Leben

Benjamin wusste, dass er etwas anders war als andere Menschen. Seine Mutter sagte ihm immer wieder, dass ihn der liebe Gott genauso gewollt hatte. Manchmal verstand er nicht, warum der liebe Gott gewollt hat, dass er nicht so deutlich sprechen konnte und ein ganz anderes Gesicht hatte als seine Schwester und seine Eltern. Aber seine Mutter sagte ihm oft, wenn sie sein Gesicht nach dem Essen liebevoll mit dem feuchten Lappen abwischte,
„glaub mit Benjamin, in deinem nächsten Leben bist du der Klügste und Schönste von allen. Gott vergisst keinen“
Er liebte seine Mutter innig, obwohl sie oft mit ihm schimpfte, wenn er etwas zerbrach oder verschüttete. Sie sagte dann, er solle besser aufpasse. Aber Benjamin passte auf, nur manchmal vergaß er einfach, dass er noch etwas in der Hand hielt. Früher einmal ging er in die Schule, wie seine Schwester, aber dann hatte sein Vater gesagt, er brauche nicht mehr hin. Nun war er den ganzen Tag bei seiner Mutter und versuchte ihr nicht so viel Arbeit zu machen. Sie sagte oft mit trauriger Stimme,
„Benjamin, bitte! Mach mir doch nicht so viel Arbeit“
Oft saß er deswegen ganz ruhig im Sessel und sah ihr zu, wenn sie mit Staublappen und Wischeimer durch die Wohnung eilte. Das gefiel seiner Mutter aber auch nicht. Sie meinte dann, er müsse sein bisschen Verstand trainieren und legte ihm einen Haufen Holzstücke in den Schoß aus denen er einen Kreis machen sollte.
Sein Vater und seine Mutter hatten es ihm immer wieder gezeigt. Er jauchzte jedes Mal, wenn aus den Teilen plötzlich ein Kreis entstand. Jetzt zeigten sie es ihm nicht mehr, seine Mutter sagte er solle sich anstrengen, denn wenn er auch anders sei, der liebe Gott sehe immer auf ihn, ob er sich auch genug Mühe gäbe. Benjamin gab sich Mühe, dennoch war er nicht sicher, ob der liebe Gott das sah. Vielleicht sah er auch nicht mehr als seine Mutter. So hatte er sich angewöhnt leise mit dem lieben Gott zu sprechen.
Seine Schwester Ruth war ein Jahr älter als er. Er freute sich immer, wenn sie aus der Schule kam. Früher hatte sie mit ihm gespielt, aber jetzt sagt sie meistens, sie müsse noch so viel für die Schule lernen.
Seine Mutter hatte ihm verboten fernzusehen, wenn Ruth Hausaufgaben machte. Er musste dann ganz still sein. Seine Mutter hatte ihm erklärt, Ruth würde in diesem Sommer mit der Schule fertig, wenn er sie nicht störte. Darum saß er jetzt nachmittags meist im Wohnzimmer vor dem dunklen Bildschirm und beobachtet sich in der Spieglung. Er schwenkte stumm die Arme und verdrehte den grimassierenden Kopf und stellte sich dabei vor die Hauptrolle in einem Film zu spielen.
Seit einigen Tagen waren seine Eltern so fröhlich. Seine Mutter sang bei der Hausarbeit und lachte, wenn er versuchte mit ihr zu singen. Selbst sein Vater strich ihm über die Haare, wenn er an ihm vorüberging. Seine Mutter gab ihm keine Holzstücke mehr um Kreise zu bauen, sondern Hefte mit Bildern von Bergen. Meist lag Schnee auf den Bergen und seine Mutter tippte immer wieder mit dem Finger darauf während sie ihm strahlend sagte,
„Benjamin fährt mit Mama, Papa und Ruth in der Berge zum Schifahren.“
Von der Küche hörte er Ruth murren,
„und mit Gila!“
Das Lächeln seiner Mutter wurde noch breiter,
„und mit Gila! Du erinnerst dich doch an Gila? Ruths Freundin Gila!“
Benjamin wusste nicht wer Gila war, aber um seine Mutter nicht zu enttäuschen nickte er lachend und klatschte mit den Händen auf die Sessellehnen, bis sie sagte jetzt wäre es aber genug.
Schließlich kam der Abfahrtstag. Alle liefen hektisch herum, gepackte Koffer standen an der Tür, jeder sage zu ihm, er solle nicht im Weg stehen, sondern sich ruhig hinsetzten. Aber wie sollte er ruhig sein, wenn alle so aufgeregt waren. Er musste einfach vor Freude in die Luft springen und allen sagen wie lieb er sie hatte.
Er half seinem Vater die Koffer zum Auto zu tragen und setzte sich schon mal auf den Rücksitz, damit er ja die Abfahrt nicht verpasste. Er musst eine ganze Weile dort sitzen, aber endlich wurde die Haustür verschlossen und sie fuhren ab.
Er bemerkte zuerst nicht, dass Ruth seinem Vater den Weg wies. Erst als der Name Gila immer wieder fiel, erinnerte er sich. Sie fuhren um Gila abzuholen. Sein Vater bremste plötzlich ab und fuhr an den Bordstein. Ruth beugte sich nach vorne und drückte die Hupe. Sie lachte nur übermütig als ihr Vater sie zurechtwies.
Benjamin sah ein junges Mädchen mit einer prall gepackten Sporttasche und mehreren Plastiktüten Taschen aus der Tür treten. Sie winkte und versuchte mit ihrem ganzen Gepäck zu Auto zu kommen.
Sein Vater stieß ihn an,
„sieh doch nicht zu, hilf ihr!“
Benjamin versuchte den Gurt zu lösen, aber es gelang ihm nicht so schnell. Inzwischen war Ruth schon aus dem Auto gesprungen und half ihrer Freundin alles hinten im Kombi zu verstauen.
Benjamin liebte es im Auto zu fahren, er konnte kaum einen Augenblick ruhig sitzen, so viel Dinge gab es zu sehen. Immer wieder stieß er seine Mutter an. Er zeigte ihr die alte Frau mit dem riesigen Hund, die Arbeiter die ein Gerüst aufbauten, winkende Kinder im Bus vor ihnen. Auf der Autobahn winkte er allen Wagen mit beiden Händen zu. Sein Vater verbot ihm das aber bald und seine Mutter herrschte ihn an keinen Mucks mehr zu machen, bis sie angekommen wären. Erschreckt starrte er in ihre wütenden Gesichter. Sein Vater beobachtete ihn finster durch den Rückspiegel. Ruth, die neben ihm saß, stieß ihm den Ellenbogen in die Seite, er solle sich nicht so dick machen.
Erst versuchte Benjamin noch leise mit Gott zu sprechen. Aber als seine Mutter sich zu ihm umdrehte und ihm sanft die Hand auf das Knie legte, wurde er ganz stumm. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche. Ruth und Gila flüsterten unaufhörlich, er konnte nur Wortfetzen verstehen aber ihm gefiel Gilas Stimme. Lautlos formten seine Lippen ihre Sätze nach. Als sie plötzlich still wurde, öffnete er die Augen. In diesem Augenblick prusteten die beiden Mädchen los. Sie beobachteten sein Gesicht und schütteten sich aus vor Lachen. Scheu lächelte er zurück. Für Benjamin sah Gila aus wie ein Engel, sie hatte langes blondes Haar und große braune Augen. Er fand sie wunderschön. Als er die Hand ausstreckte um ihr Gesicht zu berühren wich sie ihm kreischend und kichernd aus. Benjamins sah sie weiter an, zog aber seine Hand langsam zurück und flüsterte,
„Gila soll Benjamin küssen“
Alle Köpfe flogen zu ihm herum, Ruth fing an zu lachen, dass ihr die Tränen die Wangen herunterliefen, seine Mutter machte ihr böses Gesicht und Gila kicherte verlegen.
Mit lauterer Stimme forderte er erneut,
„Gila soll Benjamin küssen“
übermütig erwiderte Gila,
„klar doch Benjamin, geht in Ordnung, nur nicht in diesem Leben“
Benjamin sah aus dem Fenster, sie waren inzwischen tief in den Bergen. Die Passstrasse führte in engen Serpentinen in ein verschneites, sonniges Tal. Nachdenklich sah er in den tiefen Abgrund neben der Strasse. Unvermittelt lehnte er sich nach vorne und riss das Lenkrad zur Böschung herum. Nur seine Mutter verstand seine jubelnden Worte,
„aber im nächsten Leben küsst Gila Benjamin“
 
I

innergetic

Gast
Hoffe, ich habe nicht an dir vorbeigelesen...

Ich finde, du schreibst mit sehr viel Gefühl und Einfühlungsvermögen. Wie Benjamin seine Welt erlebt und doch nicht versteht, und wie die Welt Benjamin nicht versteht.
Allerdings muss ich gestehen, dass ich die Geschichte nicht amüsant finde. Statt zu schmunzeln musste ich feststellen, dass mir erst da die Größe der Lüge auffiel (im nächsten Leben...).
Ich finde die Geschichte echt gut...siehe Punkte

LG, Thomas
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

erst dachte ich: was soll das werden? für einen hinweis auf die hilfsbedürftigkeit behinderter etwas zu langatmig. aber der schluß zeigte mir, daß die geschichte genau so sein muß. mir läuft direkt ein schauer über den rücken. kommt in meine sammlung! lg
 

Rainer Heiß

Mitglied
Gutes Ende!

Hi Kyra,

ich war von dem Ende deiner Geschichte echt angetan; als ich beim Lesen sah, dass die Geschichte bald zuende sein würde, fragte ich mich, wie du jetzt noch den Bogen zu einem passenden Schluss kriegen würdest. Ist dir aber absolut gelungen. Erstens muss ja nicht immer alles im Happy End münden, und zweitens ist es, da du aus der Perspektive Benjamins erzählst, irgendwie dann doch ein Happy End. Und vor allem ehrlich!
Grüße, Rainer
 
L

leonie

Gast
Hallo kyra

Ich habe selbst einen behinderten Bruder der alles sehr wörtlich nimmt. Deine Geschichte erinnert mich an die Zeit, wo wir oft nur deuten konnten was er meinte. Heute weiß ich was er fühlt und wie er denkt. Die Geschichte regt zum Nachdenken an, und der Schluss zeigt einem, das man in seiner Wortwahl größere Vorsicht walten lassen sollte.
lieb grüßt leonie
 

Kyra

Mitglied
Hallo Leonie

es freut mich sehr, dass Du das sagst. Zwar habe ich mal Behinderte betreut, aber eigentlich nicht so lange um zu wissen ob ich sie wirklich verstehe. Bei dieser geschichte habe ich versucht mich in Benjamin hineinzuversetzten. Wenn es mir halbwegs gelungen ist, bin ich sehr glücklich...

Liebe Grüße

Kyra
 
L

leonie

Gast
Hallo Kyra

Es ist dir mehr als nur halbwegs gelungen. Bewahre dir dein Einfühlundsvermögen, denn es hilft sehr wenn man beide Seiten sieht, und auch versucht zu verstehen.
lieb grüßt leonie
 



 
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