Heute hat Angelika angerufen, ich hätte es nicht mehr erwartet. Der erste Gedanke vor dem Morgengebet und der letzte beim zu Bett gehen: Angelika. Morgen werde ich Dich wiedersehen.
Ich liege in meiner Kammer und betrachte den Mond hinter den bewaldeten Gebirgshängen. Draußen auf dem Gang hört man noch schlurfende Schritte und flüsternde Unterhaltungen. Ich versuche sie mir vorzustellen. Ob sie immer noch so aussieht wie damals? Unwirklich ist ihr Besuch, so wie ein Ruf aus einer fernen Welt, die es längst nicht mehr gibt.
Wenn ich an Angelika denke, sehe ich zu allererst ihre große, bleiche Stirn unter der ihre katzengrauen Augen so frech hervor blicken. Sie lacht so herrlich, so glucksend-fröhlich, so dass man gar nicht anders kann, als mit einzustimmen. Wenn man eine Person schon beinah sein gesamtes Leben kennt, kann man dann von „Versuchung“ sprechen? Das hat Vater Johannes, mein Ziehvater, gesagt. „Versuchung“ oder etwas ähnliches, in jedem Falle ging es in diese Richtung.
Ob es das wert ist, werde ich immer gefragt. Von Freunden oder meiner Schwester. Meine Großtante wetterte auch immer gegen die Kirche. Sie hat fast ihr gesamtes Leben in der DDR zugebracht und war eine sehr kluge Frau. Zu meinem 18. Geburtstag, das war kurz vor meinem Eintritt ins St. Benedictus Kloster, hat sie mir „Der Großinquisitor“ von Dostojewskij geschenkt. Da habe ich lange mit mir gerungen und viele Gespräche mit Vater Johannes geführt. Aber es ist doch das persönliche Gefühl, das Herz, das einen leiten soll, hat er gesagt.
Vater Johannes ist der großherzigste Mensch, den ich kenne. Wahrscheinlich habe ich ihm deswegen auch von Angelika erzählt. Hier in Dej, im Nordwesten der rumänischen Karpaten, gibt es niemanden, der mit ihm zu vergleichen wäre. Der hiesige Pater hat eine grobe Art und mit meinen Glaubensbrüdern kann ich mich nicht unterhalten. Gestern war ich im Aufenthaltsraum, weil ich mich für eine Sendung interessiert habe, da haben sie „Ce se întâmplă?“ gefragt und dann wieder auf den Bildschirm gestarrt. Irgendeinen rumänischen Heimatfilm in Schwarzweiß haben sie sich angeguckt, deshalb bin ich dann wieder auf meine Kammer gegangen.
Angelika kenne ich seit der ersten Klasse. Wir hatten bei der Einschulung den gleichen Schulranzen, da hat uns unsere Klassenlehrerin nebeneinander gesetzt und wir haben Süßigkeiten getauscht und uns sofort angefreundet. Ich habe immer gedacht es verbindet mich mit ihr so etwas wie eine schwesterliche Zuneigung, ein tiefes Verbundenheitsgefühl. Doch als ich sie dann vor über drei Jahren wieder sah, war alles ganz anders. Mit einem Male kam ich mir neben ihr wie ein Tölpel vor, benahm mich auch so, weil ich sie die ganze Zeit nur anglotzte, kein Gespräch mehr zustande brachte und blöde grinste, wenn sie mich etwas fragte. Eine Nacht lang lag ich wach, starte gegen die Decke und fragte mich wie so etwas passieren kann, wo ich doch nur Gott dienen will. Am Morgen sprach ich mit Vater Johannes, der mir eine Versetzung vorschlug. Deshalb türmte ich, um Angelika in Bonn zu besuchen, wo sie gemeinsam mit ihrem Freund wohnte.
Ich bin sehr gläubig. Ich weiß, dass Gott in jedem Menschen lebt. Das merke ich immer und überall, aber ich hatte auch eine Art Erweckungserlebnis im Alter von zwölf Jahren. Ich kann mich noch ganz deutlich daran erinnern: ich lief von der Schule nach Hause so wie jeden Tag und wie jeden Tag ging mein Puls schneller, als ich die sozialen Wohnheime passierte. Doch diesmal hatte ich kein Glück. Drei Jungs schnellten hinter einer Hecke hervor, umstellten mich und verlangten von mir alles was ich besäße. Als ich nichts herausgab, begannen sie auf mich einzuschlagen, hörten nicht auf, auch nicht als ich zu Boden ging. Sie traten gegen meinen Kiefer und gegen meine Brust, als mir warme Flüssigkeit die Schläfen hinunter lief und meine Umwelt zu verschwimmen begann, sah ich Pater Johannes auf uns zu eilen. Die Jungen flüchteten, er hob mich auf und sah dabei so traurig aus, ich verstand das damals gar nicht. Erst Jahre später begriff ich, dass es Enttäuschung gewesen war, Enttäuschung über das allzu menschliche Verhalten der drei Jungs.
Vater Johannes besuchte mich in Angelikas Wohnung, in Kutte und war auch gar nicht böse. Wir redeten eineinhalb Stunden lang, zeitweise setzten sich sogar Angelika und ihr Freund zu uns. Vater Johannes versuchte mir zu erklären, dass das eine erste große Prüfung sei und ich mich nicht von meinen augenblicklichen Gefühlen leiten lassen solle. Schließlich folgte ich ihm zurück ins Benedictus und er überzeugte mich nach Rumänien zu gehen, um mich ganz Gott widmen zu können, weil das Kloster in Dej fernab von jeglicher Zivilisation läge nicht so wie das St. Benedictus.
Draußen ist es still geworden. Nur das Rauschen der Kiefern von den schattigen Berghängen her, ist zu vernehmen. Der letzte Gedanke beim zu Bett gehen und der Erste vor dem Morgengebet: Angelika. Morgen werde ich Dich wiedersehen.
Ich liege in meiner Kammer und betrachte den Mond hinter den bewaldeten Gebirgshängen. Draußen auf dem Gang hört man noch schlurfende Schritte und flüsternde Unterhaltungen. Ich versuche sie mir vorzustellen. Ob sie immer noch so aussieht wie damals? Unwirklich ist ihr Besuch, so wie ein Ruf aus einer fernen Welt, die es längst nicht mehr gibt.
Wenn ich an Angelika denke, sehe ich zu allererst ihre große, bleiche Stirn unter der ihre katzengrauen Augen so frech hervor blicken. Sie lacht so herrlich, so glucksend-fröhlich, so dass man gar nicht anders kann, als mit einzustimmen. Wenn man eine Person schon beinah sein gesamtes Leben kennt, kann man dann von „Versuchung“ sprechen? Das hat Vater Johannes, mein Ziehvater, gesagt. „Versuchung“ oder etwas ähnliches, in jedem Falle ging es in diese Richtung.
Ob es das wert ist, werde ich immer gefragt. Von Freunden oder meiner Schwester. Meine Großtante wetterte auch immer gegen die Kirche. Sie hat fast ihr gesamtes Leben in der DDR zugebracht und war eine sehr kluge Frau. Zu meinem 18. Geburtstag, das war kurz vor meinem Eintritt ins St. Benedictus Kloster, hat sie mir „Der Großinquisitor“ von Dostojewskij geschenkt. Da habe ich lange mit mir gerungen und viele Gespräche mit Vater Johannes geführt. Aber es ist doch das persönliche Gefühl, das Herz, das einen leiten soll, hat er gesagt.
Vater Johannes ist der großherzigste Mensch, den ich kenne. Wahrscheinlich habe ich ihm deswegen auch von Angelika erzählt. Hier in Dej, im Nordwesten der rumänischen Karpaten, gibt es niemanden, der mit ihm zu vergleichen wäre. Der hiesige Pater hat eine grobe Art und mit meinen Glaubensbrüdern kann ich mich nicht unterhalten. Gestern war ich im Aufenthaltsraum, weil ich mich für eine Sendung interessiert habe, da haben sie „Ce se întâmplă?“ gefragt und dann wieder auf den Bildschirm gestarrt. Irgendeinen rumänischen Heimatfilm in Schwarzweiß haben sie sich angeguckt, deshalb bin ich dann wieder auf meine Kammer gegangen.
Angelika kenne ich seit der ersten Klasse. Wir hatten bei der Einschulung den gleichen Schulranzen, da hat uns unsere Klassenlehrerin nebeneinander gesetzt und wir haben Süßigkeiten getauscht und uns sofort angefreundet. Ich habe immer gedacht es verbindet mich mit ihr so etwas wie eine schwesterliche Zuneigung, ein tiefes Verbundenheitsgefühl. Doch als ich sie dann vor über drei Jahren wieder sah, war alles ganz anders. Mit einem Male kam ich mir neben ihr wie ein Tölpel vor, benahm mich auch so, weil ich sie die ganze Zeit nur anglotzte, kein Gespräch mehr zustande brachte und blöde grinste, wenn sie mich etwas fragte. Eine Nacht lang lag ich wach, starte gegen die Decke und fragte mich wie so etwas passieren kann, wo ich doch nur Gott dienen will. Am Morgen sprach ich mit Vater Johannes, der mir eine Versetzung vorschlug. Deshalb türmte ich, um Angelika in Bonn zu besuchen, wo sie gemeinsam mit ihrem Freund wohnte.
Ich bin sehr gläubig. Ich weiß, dass Gott in jedem Menschen lebt. Das merke ich immer und überall, aber ich hatte auch eine Art Erweckungserlebnis im Alter von zwölf Jahren. Ich kann mich noch ganz deutlich daran erinnern: ich lief von der Schule nach Hause so wie jeden Tag und wie jeden Tag ging mein Puls schneller, als ich die sozialen Wohnheime passierte. Doch diesmal hatte ich kein Glück. Drei Jungs schnellten hinter einer Hecke hervor, umstellten mich und verlangten von mir alles was ich besäße. Als ich nichts herausgab, begannen sie auf mich einzuschlagen, hörten nicht auf, auch nicht als ich zu Boden ging. Sie traten gegen meinen Kiefer und gegen meine Brust, als mir warme Flüssigkeit die Schläfen hinunter lief und meine Umwelt zu verschwimmen begann, sah ich Pater Johannes auf uns zu eilen. Die Jungen flüchteten, er hob mich auf und sah dabei so traurig aus, ich verstand das damals gar nicht. Erst Jahre später begriff ich, dass es Enttäuschung gewesen war, Enttäuschung über das allzu menschliche Verhalten der drei Jungs.
Vater Johannes besuchte mich in Angelikas Wohnung, in Kutte und war auch gar nicht böse. Wir redeten eineinhalb Stunden lang, zeitweise setzten sich sogar Angelika und ihr Freund zu uns. Vater Johannes versuchte mir zu erklären, dass das eine erste große Prüfung sei und ich mich nicht von meinen augenblicklichen Gefühlen leiten lassen solle. Schließlich folgte ich ihm zurück ins Benedictus und er überzeugte mich nach Rumänien zu gehen, um mich ganz Gott widmen zu können, weil das Kloster in Dej fernab von jeglicher Zivilisation läge nicht so wie das St. Benedictus.
Draußen ist es still geworden. Nur das Rauschen der Kiefern von den schattigen Berghängen her, ist zu vernehmen. Der letzte Gedanke beim zu Bett gehen und der Erste vor dem Morgengebet: Angelika. Morgen werde ich Dich wiedersehen.