In Mondello

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Torquato

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Was war denn in Mondello? Diese stürmenden Wogen und die zu allem bereiten Kellner in den Fisch-Restaurants, blendendes Weiß vor dem Bauch: Parade-Schürzen, die dem Ereignis Respekt zollten: »Il giorno delle donne«. Badeort Mondello, 20 Minuten Busfahrt von Palermo: dieser Sonnentag, unvergeßlich. Tag der Frauen: all diese Geschöpfe mit kurzen Beinen, oft bebrillt, doch liebenswert.

In Mondello sah ich auf offener Straße, auf dem Asphalt im Zentrum, das Fußballspiel. Erst die kleinen, dann die großen Spieler. Erstaunt las ich das Straßenschild: Hilf mir, Christus! Via aiutamicristo. Etwas ernsthaftes, etwas eminent menschliches ist den sizilianischen Mädchen und Frauen eigen. Wie sie die gelben Blütenzweige an die dunklen Blusen drücken, am Tag der Frauen.

In Mondello, dem Seebad, bei strahlender Sonne, erlebte ich den Ablauf der Zeit bizarr. Ich blickte auf andere. Sie sind alle mit auf der Schiene. Sie ziehen immer wieder das Seil. Sie sehen die Eselin nicht. Im Hades Oknos, der Seilflechter: im Totenreich flicht er aus zwei rohen Stricken, Schilf ist es, gerupft aus dem sumpfigen Unterweltfluss, ewig ein Seil, das nie länger wird, weil eine Eselin es am hinteren Ende im selben Maße abnagt, wie es entsteht. Entsetzlicher Kreislauf. Ich höre den Rat: Man könne »durch bloßes Augen-auf-schlagen über die Natur in sich selbst Herr werden«. Ist es der Wimpernschlag, der Moment, der Augenblick? Länger als ein Flirren der Lidhaare wird es nicht dauern, wie Paulus den Korinthern schrieb: daß wir alle verwandelt werden. Dem Leben ist sie eigentümlich, die Perlenschnur der ununterbrochenen Fortpflanzung, immer entlangwandernd an der Zeitlinie: als Oknos-Seil, an dem hinten die Eselin frißt.

Mondello, am Tag der Frauen. Die Mädchen, die Mimosen über der linken Brust (dort, wo die Amazone Platz schaffte), schlendern und schwärmen. Vorher in der Stadt sah ich ein Paar, ein "er", eine "sie", im Park direkt gegenüber der Agrikultur-Versuchs-Anstalt. Sie hatten meine volle Sympathie und ich mühte mich auch, nicht hinzublicken. Er versuchte, ihr Hemd zu öffnen und sie tat alles, um es nicht gelingen zu lassen, und doch blieb sie - sozusagen - auf dem Spielfeld und der Reiz von Annäherung und Verweigerung wurde in jedem, »attimo« neu entfaltet. Dieser Reiz öffnete sich wie eine chinesische Papierblume, die man ins Wasser taucht.

Das Mädchen jedenfalls "blühte" regelrecht und ihr Freund, den Motoradhelm immer irgendwie im Griff, war dauernd in einer Position des »avvicinarci«, der Annäherung, etwas davor und dann doch wieder nicht.

In Mondello, dem Seebad, bei strahlender Sonne, war es anders. Die Wellen spielten männlichen Überschwang und spülten Aggressionen und überschäumende Lebenskraft über die Balustrade hinweg: die Menschen auf dem Paradeplatz, dem Korso, dem Prozessionsweg der Feiertagsblusen, die Paare wichen zurück: springend. Den Sturz-Wogen zu entgehen, diesen Peitschenhieben Neptuns. Das gab ihrer Festtagsstimmung einen unerwarteten Schuß ins: Urtümliche. Das schön Schlimme, das Bockspringen, der Satyrtanz. Schlimmes konnte ich beim Paar, das ich zuerst in einer "macchina" sah, auf der Rückbank, und dann noch andere in drei weiteren Autos, - "Schlimmes" konnte ich bei diesen jungen Leuten nicht finden. Sie waren nett. Und eigentlich waren sie nur müde und ruhten sich etwas aus. Ein Kind spricht mit mir: in meinen Gedanken, es geht mit mir: - durch mein Altersgebäude. Wie klar spricht das Kind: in sauberer Struktur. Es zieht Schlaufen, es flicht den Teppich: im strammen Fadenzug. Blaue und rote Noppen stehen vor, schmücken das Lebenskleid. Momentaufnahmen, kürzeste Einblicke: in einen Termitenbau. In ihrem »Nu« sind Blicke aufschlußreich wie ein längeres Studium.

Neben unserem Tagesplan: im Kratzen, Geldverdienen, Trinken, im Teller-Klirren, im "zum-Wetter-Gucken": Läuft nicht immer etwas mit, daneben und drunter, oder drüber oder eingelagert: was wie im Gletscherstrom mittransportiert wird und auch dazugehört - unser unfehlbares Gefühl: für das Wesentliche?

Es sind Sekunden-Künste: Wimpernschlag-Exerzitien, die dir das Schauen, Erfassen, Wahrnehmen des glücklichen Moments in die Länge ziehen. Auf der Schleuderstrecke des «hier-passiert-was» bist du hellwach. Punkt für Punkt tastest du das hell erleuchtete Erlebnisfeld ab. Du ergreifst und genießt, was sonst so schnell vorbei und vorüber oder gar nicht faßbar ist. Vor Jahren fand ich auf einem Aufkleber, wie man sie für Adressen benutzt, diesen Goethe-Satz: »Eine Folge konsequenter Augenblicke ist immer eine Art von Ewigkeit selbst«

EINE SPRACHREISE In der Zeitungsanzeige hieß es: Sprachreisen für Schüler. Hinflug, Bank zum heiligen Geist. Flughafen Rom. Einlösen eines eurocheques. Dann totale Stille beim Einschecken, die Maschine nach Palermo, mein 1. Sizilien-Eindruck ist, wie ruhig sie sind, die Leute, die mit mir nach Palermo fliegen. Ein behindertes Mädchen, das in Paris operiert worden ist. Schlichter, rührend bemühter Vater. Stewardess, schon älter, mit sympathisch müdem Charme.

In Palermo dann DAS HAUS, EINE FESTUNG Schwierige Prozedur, durch den Metallzaun, die elektronisch gesicherte Tür, in den Hof zu gelangen. Etagenhaus mit Eigentumswohnung. 9 Stockwerke. Signor Adelfio fuhr mit mir den Fahrstuhl hoch,
ganz chic, modern, und mit Spiegel, und oben wurden wir in den Empfangs-Salon geführt. Maria (23), meine Lehrerin, gibt sich feierlich. Auf mich wartend im Empfang Ich war vorgesehen für das Kinderzimmer, - das Baby war ausquartiert. Schock, daß kein Schrank im Zimmer war. Ich bat Signor Adelfio, mit mir unter zwei Augen zu sprechen. Er kündigte Hilfe an: aus der Sprachschule würde man einen Kleiderständer bringen. Nächsten Tag kam das Gestell, aus dicken Metallrohren, grob, das Zimmer verschandelnd. Meine Lehrerin guckt nicht erfreut, eher böse.

Kristina (!), so (mit K) heißt das Baby. I, Baby-Zimmer, nun für 2 Wochen meins, ein niedlicher Stoffhund auf meinem Kissen. Mein Stecknadel-Trick: ich hängte den Hund an die Wand. ES war im Zimmer einfach zu wenig Platz. - Mein Mini-Kopfkissen aus Hamburg mitgebracht, das zur Haupthilfe wurde, in der Küche, auf kaltem Stuhl, im Salon, auf den plastiküberzogenen Prunkstühlen.

Der Sonntag nach der Ankunft Der Ehemann mit Schwiegermutter und Kind nimmt mich im Mini-Auto mit in die Stadt. Dort erlebe ich meinen ersten Tag in Palermo, durch die eher stille und sonntägliche Stadt. Ich gehe über den Platz Fiori (Kiosk, Pfadfinder Müllaktion!) und der Belmonte-Straße zum Hafen, Via Cavour. Den Stadtplan in der
Hand zum Hafen, zwei Eingänge. Jeweils zwei Polizisten davor, bewaffnet. Darf man passieren? Man durfte.

In der ZENTALSTATION. im Bahnhof eine Toilette gesucht. Nicht gefunden. Zurück zum Telefonladen. Toilette erfragt. Ist im Bahnhof, aber links vom linkesten Bahnsteig, dann noch einmal um die Ecke gehen! Ital. Verhältnisse. Oft das Toiletten-Problem. Von Rousseau weiß man, daß auch er es hatte. Ich glaube, er war einfach zu unruhig, die Blase ganz zu leeren. Auch wollte er zu gern in den Salon zurück. Voltaire fand es nicht so interessant, sich mit dem sprühenden Rousseau zu unterhalten: er muß ja dauernd wieder raus. - - Wenn du rücksichtsvoll bist. Szene im Bahnhofs-Buffet, wie Robert Walser es genannt hätte. Tropfende Tomaten aus dem Brötchen, Coca Cola. Unglücklich in der Fremde. MONREALE. Mit dem Taxi vom Bahnhof bergaufwärts nach Monreale. Fahrpreis für zwei Stunden ausgemacht. Spaziergang in heller Februarsonne. Nur zwei Dinge: die Seitenfront des Doms. Der Garten. Bettelnde Kinder. Zwei Deutsche. Frecher Pierrot, Postkartenstand. Souvenirs. Verkommenheit. Verwahrloste Straßen. Hoffnungslosigkeit. Enge. Kein Lächeln der Stunde. Müde Füße. Ratlos, enttäuscht, voller Fragen oder voller Leere? Palermo hatte begonnen.

»PALERMO ENTZAUBERT» - das kann man nicht sagen. Aber es hat so viele Gesichter. Im pulsierenden Zentrum in einer Querstraße vor einem offenen Garagentor pickten zwei Hühner im Schmutz. Oder ein Neger klappt dir beim Rot der Ampel die Wischer des Autos beiseite, reinigt die Scheibe, aber mein Fahrer, Signor Adelfio, der Schulleiter, gibt ihm nichts. - Wie sie Auto fahren, so leben sie. Ein rigoroses, drängendes Ausnutzen und Erzwingen, aber auch extremes Gewährenlassen. Kein Fleck Straße bleibt bei schneller, zügiger Fahrt ungenutzt. Immer kurz vor dem Knall. Aber es knallt nicht.

Meine Lehrerin (23) ist quicklebendig, handhabt die Unterrichtsstunden rigoros. Kompetent und mit fester Hand. Dabei hat sie Puppenfinger. So winzige Hände habe ich noch nie gesehen. Daß so lütte Menschen so gut durchkommen! Die Tochter Kristina ist 10 Monate alt. Wieso ich bei einer 23jährigen wohnen kann? Das geht so: ihre Mutter (39) und ihre Schwester (12) sind ständig in der kleinen Wohnung anwesend. Sie sind 40 km gefahren von Trampani, wo sie wohnen, und überwachen nun die Schicklichkeit. Die Lektionen finden in der Küche statt, unter den Augen der Mutter. Geht sie nach draußen, ist Lauredana, die Schwester (12) da. Mein Zimmer ist so klein, daß ich morgens nicht mal meine Kerze turnen kann. Wie lang ein kurzer Mensch wie ich in Italien ist! Man ist freundlich und unkompliziert zu mir. Aber morgens staunen sie, wie sie mir unter meiner Anleitung den mitgebrachten Tee zubereiten müssen.

Die Stadt, heute am Werktag, vibriert sie. Ich sammle Sonne und Eindrücke. Bruch und Dreck, Beton und Paläste. Meine Leute wohnen "barrikadiert". Wohin bin ich geraten? Maria, meine Maestra, war ein schwieriges Kind. Nicht folgsam. Mußte viel schlafen. Hatte Kopfschmerzen. Die Mutter war nicht mit dieser Tochter einverstanden. Wohin bin ich geraten? Marias Mutter aus Trapani, depressiv und lamentierend, ohne Ziele, sich bedauernd, sich beklagend. Die Kopfschmerzen Lauredanas, das Fixiertsein auf Kirchentexte der Schwiegermutter. Maria selbst schwer belastet, schon als Kind. Die Eltern sind geschieden. Die älteste Tochter: Maria, meine Lehrerin. Heute eine 23jährige, 155 cm groß. Sie wurde in Zürich geboren. Sehr ehrgeizig. Sie setzte sich durch, länger zur Schule zu gehen. Der Vater wollte es nicht. Er war gegen sie. Er schlug sie, bis ihr das Blut aus dem Mund lief. Der Vater arbeitet bei dem größten Optik- und Fotogeschäft Palermos. Er verbot ihr, die selbe Bus-Haltestelle zu benutzen wie er.

Ehrgeiz. Dieses bildhübsche, hoch-intelligente, vor Geist, Leben und Charme sprühende Mädchen, nun war ICH DIE ZIELSCHEIBE ihres Ehrgeizes. Mein Abschlußbericht für das Schul-Institut war ihr sehr wichtig. Damit kann sie für ihren weiteren Berufsweg einen Beleg vorlegen, der ihr vielleicht weiterhilft. Sie will große Reise machen. Zum
Beispiel auch nach Japan. Ob ihr Ehemann dabei eine große Rolle spielen wird? Er sagt zu allem ja, was sie sagt. Und Maria mutet ihm viel zu. Sie wendet sich nur der 10 Monate alten Tochter zu. Der Mann ist in den Hintergrund getreten.
Zu deutlich, wie ich finde, gerade auch vor Augen und Ohren eines Fremden. Ist es ein Skandal, daß ein männlicher Schüler in der Privatwohnung der Lehrerin lebt, dort auch schläft und bekocht wird? Auch das Badehandtuch, das täglich auf dem Balkon in der Sonne Palermos zum Trocknen hängt, legt sie ihm täglich wieder hin, dem Schüler (60) aus Hamburg.

IM PALERMITANISCHEN GESCHRÄCH an der Bushaltestelle. Pflastermüde nach langem Marsch durchs Zentrum Richtung Bahnhof schließlich 50 Minuten in der Via Roma vergebens auf einen Bus gewartet. Es ist Karneval. Ich werde angespritzt. Zwei Männer auf der Vespa. Kreischten vor Vergnügen. Was später "Leone" beim Familientreff in der Wohnung meiner Lehrerin mit grobem Lachen quittierte. Der Mann neben mir hatte mehr Feuchtes abbekommen als ich. Längeres Gespräch mit ihm. Ein Padrone. Kopfwunde. Dicker Bauch. Erzählt von Unfall. Die ganze Geschichte. Wie ihm der Schädel geöffnet wurde. Nicht nur ich, auch zwei andere Männer hören es kritisch an. Er schimpft über die Zeiten und die Verhältnisse in Palermo.

»Er ist auch kein Engel gewesen«, sagen die beiden Galgengesichter, als er weg ist. - Ich ganz ins Zentrum zu Fuß zurück. Erst Via Roma, dann via Cavour. Kein Café! DAS LACHEN DES LÖWEN Der Leone brach in ein pferdehaftes Gewieher und Lachen aus, immer wieder herausbölkend, ein Lachen wie Schüsse, er konnte gar nicht wieder aufhören, als er hörte, wie ich in der Via Roma an der Fermata angespritzt worden bin, über und über. - Das war beim Familientreff, "der Löwe" ist nur sein Sternzeichen, er ein Verlobter. Ich im Zentrum des Kreises.

GROSSE FAMILIENZUSAMMENKUNFT, Schwestern und Schwager, Kusinen und Bräute und Bräutigams. Ein Ehemann von Beruf Restaurator. Das dichtende Mädchen hübsch, 14jährig, Kunstschule besuchend, la cugine. Mir werden sieben Fotoalben im Superformat mit mindestes 200 Bildern gezeigt Von mir guckt man sich gerade zwei Bilder meiner Töchter und nur kurz und unwillig an.
(www.litfink.com)
 



 
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