In Schwebe

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Ohrenschützer

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Gespenstisch menschenleer und schattenreich liegt die Stadt um etwa drei Uhr morgens unter wolkenbedecktem Himmel und entlässt die über den Tag aufgestaute Hitze nicht. Direkt unter einer Laterne, die Gesichtszüge somit entstellt und nur halb sichtbar umklammert ein Mann mit beiden Händen das Brückengeländer. Die Stille umfängt und beruhigt ihn kaum. Ein wenig Autolärm dringt gedämpft und weit entfernt zu ihm vor. Er will es tun.

Zwei Querstraßen entfernt lenkt ein weiterer Mann seine schweren, fast schleifenden Schritte auf die Brücke zu. Die Nacht ist zu warm für erholsamen Schlaf, Flucht aus der bedrückenden Schwüle und Stickigkeit des Zimmers die nahe liegende Maßnahme. Ein Spaziergang über die Brücke, um dort die Kühle des Flusses einzuatmen. Der Schlaflose bewegt sich auf den Mann unter der Laterne zu. Bald sind die beiden in Sichtweite.

Das Gehirn des Schlaflosen weigert sich, dahin zu dösen. Stattdessen schreien sich dessen Windungen gegenseitig Informationen zu, die echoartig von der Schädeldecke widerhallen. Dies wird sich ungünstig auf den kaum angebrochenen Tag auswirken, auf Konzentration, Laune und Belastbarkeit. Aber die unwillkommene frühmorgendliche Gedankenflut bezieht sich kaum auf die alltäglichen Tätigkeiten, vielmehr kreisen sie um den eigenen Missmut, Frustration und Sinnentleerung. Die überwältigende Anzahl an Begebnissen im Laufe des Tages, der Woche, der Jahre könnten über die Tatsache hinweg täuschen, selbst kein Ziel mehr zu haben. Wenn man es trotzdem durch den Nebel der Nichtigkeiten erkannt hat, entkommt man diesem marternden Gedanken nicht mehr. Man kann ihn nicht abhaken und zur Seite stellen oder ihn gar ignorieren. Es scheint kein probateres Mittel zu geben, als ihn mit hochrotem Kopf immer und immer wieder ergebnislos hoch zu würgen, durch zu kauen und zu hoffen, dass er einen anderen Ausweg aus dem Körper findet oder sich rückstandslos im Bauch auflöst.

Jetzt biegt der Spaziergänger in die Straße, die nach etwa hundert Metern schon auf die Brücke führt. Obwohl der dunkle Mann unter der Laterne völlig regungslos steht, nimmt ihn der andere wie einen Fremdkörper wahr, wie ein leises Surren in völliger Stille, und wird instinktiv langsamer. Es ist ihm sichtlich unangenehm, dass er zu dieser Zeit jemanden auf der Straße trifft, möglicherweise sogar einen Bekannten, dem er seine Flucht aus dem Schlafzimmer erklären muss. Allein die Tätigkeit des Sprechens hätte ihn schon Überwindung gekostet, nur widerwillig würde er seinen tosenden inneren Gedankensturm mit akustischen Eindrücken ergänzen. Er hält an und kneift die Augen zusammen.

Der Dunkle lehnt sich dicht an das Brückengeländer. Unter ihm rieselt in beachtlicher Tiefe ein winziges Flüsschen vor sich hin, stark verschmälert durch die Hitze in einem steinigen Bett. Wie gelähmt erkennt der andere mit einem Mal die Situation, fragt sich in keinem Augenblick, ob er sich in dem vermeintlichen Suizid irren könnte, sein Herzschlag erhöht sich, seine Muskeln spannen und seine Augen weiten sich, es funkt und wirbelt nun verschnellert durch seinen Schädel. Schweiß zeichnet sich nun auf seiner Stirn ab, er hat zweifellos Angst. Er wird sich verfluchen, noch niemals zuvor eine solche Situation in Gedanken durchgespielt zu haben, um nun reflexartig zu wissen, was zu tun sein, seine Anschauungen rechtzeitig geordnet und mit der richtigen Handlung verbunden zu haben, und die ausgewogene und vertretbare Meinung nun nicht innerhalb weniger Sekunden ermitteln zu müssen. Er, der immer vorbereitet sein möchte, auf vertrautem Terrain, weil er weiß, wie langsam er seit jeher im Kopf ist. Eine schnelle Entscheidung zu treffen, ist für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Helfen, abhalten, rufen, sprechen, laufen, denken…

Da beugt sich der auf der Brücke über das Geländer. Nur so, als ob er an der Außenseite etwas nachkontrollieren wollte. Eine völlig harmlose, fast gelangweilt wirkende Körperbewegung. Jeden Moment könnte er sich aufrichten, die Achseln zucken, als hätte er nicht gefunden was er gesucht hätte, und von dannen gehen. Der andere reißt sich aus seinen wirren Überlegungsansätzen und setzt sich ohne ein konkretes Vorhaben in Bewegung. Er weiß nicht genau, was er tut oder auch nur tun soll. Unwillkommene Philosophie dringt in sein Gehirn ein: Hat er das Recht, in ein anderes Leben einzugreifen? Mit welchen Argumenten will er einen freien Entschluss verhindern?

Den Oberkörper weit vorgelehnt, heben die Füße des Dunklen schon leicht vom Boden ab. Noch immer wirkt er vollkommen unangestrengt, wie ein Kind am Spielplatz. Unkonzentriert, beiläufig, wie es ein Turner am Reck vor dem Felgabschwung niemals tun würde. Federleicht und frei sieht er aus, in einer eleganten Schwebe über dem Angelpunkt seines Lebens. Vor schwingen, zurück schwingen. Wie ein Kippschalter zwischen Licht und Finsternis, Hitze und Kälte. Ein Schrei ertönt.

Der andere hat gebrüllt, während er auf ihn zu läuft. Er sieht den Mann in der Schwebe, im Graubereich zwischen Darauf und Hinunter, und denkt an den Punkt, an dem es keine Rückkehr mehr gibt, kein Zurückwippen auf den sicheren Boden. Dieser Punkt wird längst erreicht sein, wenn er physisch in die Situation eingreifen kann. Daher brüllt er. Kein Wort, einen simplen Laut. Vielleicht genügend für ein bisschen Irritation, ein bisschen mehr Zeit. Als hielte der Schrei den Kippenden am Hosenzipfel fest.

Kies auf der Straße lässt den Laufenden beinahe auf die Straße klatschen. Er taumelt, für einen Moment in ähnlichem Graubereich wie der andere auf der Brücke. Falle ich, so fallen wir gemeinsam, schießt es ihm durch den Kopf. Doch die Hand schon am Boden, findet der Schlaflose wieder das Gleichgewicht und starrt auf den leeren Fleck unter der Laterne. Richtet sich auf und versucht, wieder zu Atem und zu klaren Gedanken zu kommen. Ist es möglich, dass der Mann in den Sekunden der Unaufmerksamkeit zurück geschwungen wäre und das Weite gesucht hätte?

Er geht auf die Stelle unter der Laterne zu. Wenn die Befürchtungen zuträfen, läge unten im Flussbett ein zerschmetterter Mensch. Ein simpler Blick nach unten würde die Lage klären: Rettung oder Versagen. Er streicht über das Geländer, versucht vergeblich, aufgrund der Temperatur herauszufinden, wo vor kurzem noch eine Hand gelegen sein muss. Er spürt lediglich die etwas kühlere Luft, die von dem Rinnsal nach oben dringt. Wie sieht ein Mann aus, der aus beträchtlicher Höhe mit dem Kopf voran auf Stein aufschlägt? Hat ein anderer Mensch das Recht, ihn anzusehen, nachdem er ihn vielleicht überstürzt von der Brücke gebrüllt hat?

So viel Sinnloses ist den ganzen vergangenen Tag über passiert. Doch ausgerechnet das Sinnloseste, nämlich das Auslöschen von Wirklichkeit und der Möglichkeit, etwas in sinnlos und sinnvoll einzuteilen, ausgerechnet das erscheint am Nachhaltigsten. Just die Verweigerung der weiteren Sinnsuche, das Negieren der eigenen Existenz ist die überzeugendste Antwort auf die Sinnsuche selbst. Die Flucht vor einer hitzig-leeren Welt führt zwangsläufig in das kühle Nichts. Zumindest für den, der sich mündig genug dafür fühlt. Der Schlaflose blickt nicht nach unten, löst sich vom Geländer und geht.
 

Ohrenschützer

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Über den Sinn des Unsinns

In memoriam Helmut Hübler, dessen Todestag sich nunmehr zum zwanzigsten Mal jährt. Sein Leben war krankheitsbedingt eine Qual - sein bester Freund konnte es ihm nicht übel nehmen, dass er sich selbst erlösen wollte. Seine zweitbesten Freunde schon.
 



 
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