In Würde gefallen

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philipp

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In Würde gefallen

Es ist Herbst, heftiger Regen prasselt auf das Dachfenster und weckt mich auf. Es ist 6:30 Uhr und in meinem Kopf dröhnt ein pochender Schmerz. Leichte Schwindelgefühle desorientieren mich. Ich wanke zur Küche und koche mir einen Kaffee – einen billigen Instant-Kaffee, denn der ist günstig und grausam.

Es ist der erste Tag in meinem neuen Job und ich habe den neuen Anfang gestern Abend gebührend gefeiert. Jetzt brauche ich Wasser. Mein Mund ist eine Baumwollscheune.

Eine Stunde lang nippe ich Kaffee und schaue mir das Morgenmagazin an. Früher habe ich die ersten Momente des Wachwerdens, des Auftauens, im Internet verbracht, die Online-Zeitung gelesen oder die ersten E-Mails beantwortet.
Das Internet musste ich abbestellen. Ich habe mein Leben kostenoptimiert, wie ich es bis vor 5 Monaten noch bezeichnet hätte. Jetzt habe ich andere Bezeichnungen dafür. Worte, die es besser treffen: Reduzierung des Überflüssigen, oder einfach nur: Anpassung an die Arbeitslosigkeit. Es ist hart, denn ich war einen schnellen und überreizten Lebensstil gewöhnt. Ich war alleinstehend, hatte ein ansehnliches Jahreseinkommen aber nur wenige Verpflichtungen. Ich war ein Shooting Star der ‚New Economy’. Innerhalb von 3 Jahren stieg ich vom Berufsanfänger zum Abteilungsleiter auf. So nannten wir es natürlich nicht, wir hatten unsere eigenen, anglizistisch veredelten Titel: Account Director, Management Supervisor, Strategic Consultants. Ich war ein Management Supervisor und durfte mit 29 Jahren eine Abteilung mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren beaufsichtigen.

Es ist 7:30 Uhr. Ich stehe von meinem Küchentisch auf, um mich anzuziehen. Ich bin mir nicht sicher, was die richtige Dienstkleidung für meinen neuen Job ist.
Es sollte dezent sein, aber auch ein wenig provozierend.

Ich muss Aufmerksamkeit erwecken, nicht nur im ersten Augenblick, aber vor allem genau dann. Denn in meinem neuen Job wird der erste Kontakt wichtig sein, jedes Mal wieder. Ich werde viele Leute nur kurz treffen und muss sicherstellen, dass ich in den wenigen Sekunden sofort den richtigen Eindruck hinterlasse.
Nicht zu aufdringlich, aber auch nicht zu gewöhnlich.

Leger, ein wenig abgetragen – ein altes Hemd mit abgeriebenen Kragen und eine Hose mit Fransen an den abgelaufenen Hosenbeinenden – das ist meine neue Berufskleidung.
Gegen 8:00 Uhr verlasse ich meine enge, stickige Dachwohnung, die ich vor 2 Monaten bezogen habe und gehe zur U-Bahn, um meinen neuen Job zu beginnen. Nicht der Job meiner Träume. Aber das, was ich der Allgemeinheit bieten kann, in diesen harten Zeiten. Oder zumindest das, was die Gesellschaft momentan als Job für mich übrig hat. Wofür die Gesellschaft vielleicht noch ein wenig Geld übrig hat.
Die meisten meiner Freunde sind talentierter als ich. Sie können Dinge, die auch in schweren Zeiten Leute begeistern können.

Ich habe ein Wirtschaftsstudium absolviert, wie viele andere meines Jahrgangs. Aber im Gegensatz zu meinen jetzigen Freunden können meine ehemaligen Kommilitonen und ich nichts zum Allgemeinwohl beitragen, wenn es darauf ankommt. Wir Wirtschaftsexperten sind momentan nicht mehr gefragt. Es interessiert keinen mehr, ob wir vor einigen Jahren noch Abteilungen geleitet haben oder ob wir in der Lage waren, ganze Unternehmen aus dem Boden zu stampfen, um sie wenige Jahre später wieder einzudampfen. Wir waren die ‚New Economy’. Jetzt bemühen wir uns um einen Platz in der Real Economy. Wo die Nachfrage den Erfolg bestimmt.
Leider kann ich nichts bieten, wonach jetzt noch gefragt wird. Also frage ich nach. Ich frage nach Geld.

Ich stehe am Gleis der Linie 1 und warte nervös auf die U-Bahn. Es ist mein erstes Mal, und die Blicke der Umstehenden Mitfahrer streifen alle unsicher an mir vorbei, kein Blick scheint mich wirklich zu treffen.
Die U-Bahn kommt, ich steige ein. Dies ist der Moment, vor dem ich mich die letzten 2 Monate gefürchtet habe. Ich bin jetzt auf der Bühne, mein Auftritt beginnt. Aber ich bin nicht so talentiert wie die meisten meiner jetzigen Freunde. Ich kann kein Musikinstrument spielen. Ich kann keine Gedichte aufsagen, ich habe nicht die Geduld, irgendwo in der Nähe einer Sehenswürdigkeit Postkarten zu verkaufen, ich habe nicht den Mut, die Leute mit gefälschten Gutscheinen zu betrügen.

Ich muss mich auf das reduzieren, was ich kann: Meine Geschichte erzählen. Und das kann ich sogar sehr gut, wie ich finde. Es fiel mir nie schwer, meine eigene Geschichte zu erzählen. Nur muss ich sie heute auf andere Weise erzählen, als ich das die Jahre zuvor getan habe. Denn ich habe eine andere Zielgruppe. Ich muss nicht mehr mit denen konkurrieren, die vielleicht eine noch bessere Geschichte zu erzählen haben. Ich muss eine Geschichte erzählen, die noch armseliger klingt als alles, was meine Zielgruppe bisher gehört hat. Nur wenn mir das gelingt, bekomme ich heute meinen Lohn.

Ich stelle mich in die Mitte des U-Bahn Wagens und erzähle meine Geschichte. Ich schmücke Details aus, die ich so nicht erlebt habe. Ich hebe mein armseliges Schicksal hervor, untertreibe, was meine ehemalige Position in der ‚New Economy’ betrifft und übertreibe, was die Unmenschlichkeiten beim Rauswurf angeht.

Betretene Gesichter. Die meisten Pendler in der U-Bahn schauen auf die Taschen auf ihrem Schoss, auf ihre Schuhe, oder aus dem Fenster, obwohl wir schon seit mehreren Stationen unterirdisch fahren und es nichts zu sehen gibt.
Ich beende meine Rede und bedanke mich im Voraus für die Spenden. Ich habe nicht den Mut, den Leuten direkt ins Gesicht zu schauen und halte ihnen nur vorsichtig meinen McDonalds Becher hin. Die meisten Personen reagieren nicht. Sie schaffen es, mich zu ignorieren, als ob ich ein Tier wäre, dass sie belästigt, durch das sie sich unwohl fühlen, und nur die Sekunden zählen, bis ich sie endlich in Ruhe lasse und weitergehe. Es schmerzt, es tut weh. Diese Reaktionen wurden mir von meinen jetzigen Freunden prophezeit, aber es bedrückt mich, es ist grausam.

Ich bin fast am Ende des Wagens, als mir eine Dame einen Euro in den Becher steckt. Diese Geste baut mich auf. Mit dem neuen Bewusstsein, dass es doch noch Leute gibt, die helfen, verspüre ich Lust, den anderen Leuten den Tag zu versauern. Kurz bevor ich den Wagen durch die hinterste Tür wieder verlasse, rufe ich noch laut: „Vielen Dank an die EINE Person in diesem Wagen, die so großzügig war, einem armen Menschen zu helfen!“

Den Einstieg habe ich geschafft, aber ich habe heute keine Lust, mich noch mal dieser bedrückenden Situation auszusetzen. Die allgemeine Ignoranz und Ablehnung war zu niederschmetternd. Ich kann den Leuten keine Musik bieten. Ich kann keine Gedichte aufsagen. Ich muss meine Geschichte erzählen. Es war mir klar, dass es schwierig wird, denn Geschichten wie meine gibt es viele. Die meisten Leute in der U-Bahn kennen wahrscheinlich Personen wie mich und haben es satt, auch auf dem Weg zur Arbeit über Schicksale wie meines zu hören.
Aber heute habe ich einen Euro bekommen, und dazu noch viel gelernt. Morgen werde ich einen weiteren Euro bekommen, vielleicht auch mehr. Und irgendwann wird dieser Job Routine, so wie die meisten normalen Jobs.
 



 
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