H
HFleiss
Gast
Anfang der neunziger Jahre hatte ich noch Arbeit, in einer staatlichen Institution, die sich mit Bildern befasste, die in den unzähligen Berliner Museen hingen. Zu dieser Stelle war ich wie die Jungfrau zum Kind gekommen: Vorübergehend, nachdem mein Betrieb abgewickelt worden war, arbeitete ich bei einer Zeitarbeitsfirma, schiskojenno – was sollte es, auf den Stolz ist gepfiffen. Ich war geprüfte Sekretärin und wurde als Hilfskraft eingestellt. Aber ich war es aus der DDR nicht gewohnt, untätig herumzusitzen und darauf zu warten, dass mir eine Erleuchtung käme. Ich bewarb mich, ich wollte künftig eine anständige Stelle haben, eine gutbezahlte, wenn ich für sie auch überqualifiziert war und mich bei meiner Tätigkeit voraussichtlich etwas langweilen würde. Die lebenslange Vorstellung, dass Arbeit mehr als Geldverdienen war, wich der Erkenntnis, dass man zuerst einmal seine Grundbedürfnisse wie Wohnen, Essen und Kleiden befriedigen musste. Bis es dann endlich bei den Bildern klappte, ich hatte mich mit einem Leistungsschreiben gegen sechsundfünfzig andere, hoffnungsfrohe Frauen durchgesetzt, mit schlechtem Gewissen. Ich war eine verhältnismäßig gutbezahlte Sekretärin geworden.
Meine Dienststelle befand sich in Westberlin, am Halleschen Ufer. Vom äußersten Berliner Osten fuhr ich täglich mit der U-Bahn in das Herz Berlins. Im Berufsverkehr herrschte Enge in der Bahn, kaum dass ich morgens einen Sitzplatz erwischte. Nach Dienstsschluss sah es nicht wesentlich anders aus, alle Sitzplätze waren besetzt, hier und da standen einige Leute im Gang herum, und an den Türen führten Jugendliche lebhafte, laute Gespräche. Manchmal stiegen Musiker ein. Einer, abenteuerlich gekleidet mit seinem Stetson-Hut, den ich mittlerweile wie einen alten Bekannten begrüßte, offensichtlich ein Amerikaner, sang Pete-Seeger-Lieder zur Gitarre. Die Gesichter verhärteten sich, und wenn er mit seinem Münzbecher durch den Gang kam, blieb er leer. Nur ich warf ein paar Münzen hinein. Überschwenglich bedankte er sich, auf Englisch, sein Deutsch war wohl nicht besonders ausgefeilt. Während der drei Jahre Fahrt in der U-Bahn lernte ich allerhand abenteuerliche Musikergestalten kennen: Russen, die das berühmte „Schwarze Augen“ mit Sehnsucht im Leibe spielten, ganze Bands vom Balkan, die Volkslieder sangen, und englischsingende werktätige deutsche Einzelsänger, weniger geübt, auch mit weniger Lautstärke. Das Liedersingen in der U-Bahn wurde irgendwann verboten, manche Leute fühlten sich belästigt, aber niemand scherte sich um das Verbot. Ich fuhr gern mit der U 1, schon wegen der Musiker.
Aber ich sah auch eine andere Art des Bettelns. Die „Motz“-Verkäufer hielten immer einen mitleidheischenden Spruch bereit, um die uninteressierten Bahnfahrer zum Kauf der Obdachlosenzeitung zu animieren, und da man diese Sprüche fast täglich hörte, überhörte man sie mit der Zeit. Selten wurde der obdachlose Zeitungsverkäufer ein Exemplar gedruckten Elends los. Manchmal, wenn ich Kleingeld in der Jacke fand, nahm ich ihm eine Zeitung ab und schlug sie auf. Ich fühlte die missbilligenden Blicke ringsum wie Nadelstiche, demonstrativ holten einige Mitfahrer ihre FAZ oder „Welt“ heraus. „taz“-Leser, stellte ich fest, konnten sich nicht so recht entscheiden, ob sie der einsamen „Motz“-Leserin einen freundlichen Blick schenken sollten.
Einmal aber erschrak ich. Eine junge Frau war zugestiegen, nicht sehr säuberlich gekleidet, ungepflegt, mit schlechten Zähnen, rötlichen Flecken im Gesicht. Sie trug eine farblose Jacke mit Halbärmeln, der Unterarm war eine einzige offene Wunde. Sie stellte sich auf den Perron zwischen den Türen und begann zu sprechen: „Ich habe Aids und werde nicht mehr lange leben. Man hat mir die Sozialhilfe gesperrt. Ich lebe auf der Straße, würde aber gern in einer Obdachlosen-WG wohnen. Aber ich kann die Miete nicht bezahlen. Deshalb muss ich sie mir zusammenbetteln. Bitte entschuldigen Sie.“ Sie kam durch den Gang, blickte niemanden an und hielt nur ein leeres Kästchen in der Hand. „Moment, junge Frau“, sagte ich, holte mein Portemonnaie heraus und stellte fest, dass es nur einen Zehnmarkschein enthielt. Ich hielt ihr das Geld hin. Fassungslos sah sie mich an, sie trat sogar einen Schritt zurück. „Bitte“, sagte ich, mir wurde die Sache peinlich. „Ich habe es nicht anders“, entschuldigte ich mich.
„Aber das kann ich doch gar nicht annehmen“, wehrte sie ab. „Bitte, nehmen Sie es. Sie brauchen es mehr als ich“, beruhigte ich sie. Zögernd ergriff sie das Geld und versteckte es dann mit hastigen Bewegungen an ihrer Brust. „Danke vielmals, danke, danke.“ Ich glaube, sie hatte sich vor mir sogar verbeugt. Es war eine schreckliche Szene, und seit diesem Tag ging ich nie mehr ohne Kleingeld in der Jackentasche aus dem Haus.
Meine gutbezahlte Stelle wurde ich übrigens genauso schnell los, wie ich zu ihr gekommen war. Schade. Aber noch schwerer, als auf das Gehalt zu verzichten, fiel es mir, nun nicht mehr mit der U 1 zu fahren, meine Bahnbekanntschaften während der Fahrt zu beobachten, mich über sie zu amüsieren oder auch mal einen traurigen Blick zu verstecken. Die junge Frau habe ich niemals wiedergetroffen.
Meine Dienststelle befand sich in Westberlin, am Halleschen Ufer. Vom äußersten Berliner Osten fuhr ich täglich mit der U-Bahn in das Herz Berlins. Im Berufsverkehr herrschte Enge in der Bahn, kaum dass ich morgens einen Sitzplatz erwischte. Nach Dienstsschluss sah es nicht wesentlich anders aus, alle Sitzplätze waren besetzt, hier und da standen einige Leute im Gang herum, und an den Türen führten Jugendliche lebhafte, laute Gespräche. Manchmal stiegen Musiker ein. Einer, abenteuerlich gekleidet mit seinem Stetson-Hut, den ich mittlerweile wie einen alten Bekannten begrüßte, offensichtlich ein Amerikaner, sang Pete-Seeger-Lieder zur Gitarre. Die Gesichter verhärteten sich, und wenn er mit seinem Münzbecher durch den Gang kam, blieb er leer. Nur ich warf ein paar Münzen hinein. Überschwenglich bedankte er sich, auf Englisch, sein Deutsch war wohl nicht besonders ausgefeilt. Während der drei Jahre Fahrt in der U-Bahn lernte ich allerhand abenteuerliche Musikergestalten kennen: Russen, die das berühmte „Schwarze Augen“ mit Sehnsucht im Leibe spielten, ganze Bands vom Balkan, die Volkslieder sangen, und englischsingende werktätige deutsche Einzelsänger, weniger geübt, auch mit weniger Lautstärke. Das Liedersingen in der U-Bahn wurde irgendwann verboten, manche Leute fühlten sich belästigt, aber niemand scherte sich um das Verbot. Ich fuhr gern mit der U 1, schon wegen der Musiker.
Aber ich sah auch eine andere Art des Bettelns. Die „Motz“-Verkäufer hielten immer einen mitleidheischenden Spruch bereit, um die uninteressierten Bahnfahrer zum Kauf der Obdachlosenzeitung zu animieren, und da man diese Sprüche fast täglich hörte, überhörte man sie mit der Zeit. Selten wurde der obdachlose Zeitungsverkäufer ein Exemplar gedruckten Elends los. Manchmal, wenn ich Kleingeld in der Jacke fand, nahm ich ihm eine Zeitung ab und schlug sie auf. Ich fühlte die missbilligenden Blicke ringsum wie Nadelstiche, demonstrativ holten einige Mitfahrer ihre FAZ oder „Welt“ heraus. „taz“-Leser, stellte ich fest, konnten sich nicht so recht entscheiden, ob sie der einsamen „Motz“-Leserin einen freundlichen Blick schenken sollten.
Einmal aber erschrak ich. Eine junge Frau war zugestiegen, nicht sehr säuberlich gekleidet, ungepflegt, mit schlechten Zähnen, rötlichen Flecken im Gesicht. Sie trug eine farblose Jacke mit Halbärmeln, der Unterarm war eine einzige offene Wunde. Sie stellte sich auf den Perron zwischen den Türen und begann zu sprechen: „Ich habe Aids und werde nicht mehr lange leben. Man hat mir die Sozialhilfe gesperrt. Ich lebe auf der Straße, würde aber gern in einer Obdachlosen-WG wohnen. Aber ich kann die Miete nicht bezahlen. Deshalb muss ich sie mir zusammenbetteln. Bitte entschuldigen Sie.“ Sie kam durch den Gang, blickte niemanden an und hielt nur ein leeres Kästchen in der Hand. „Moment, junge Frau“, sagte ich, holte mein Portemonnaie heraus und stellte fest, dass es nur einen Zehnmarkschein enthielt. Ich hielt ihr das Geld hin. Fassungslos sah sie mich an, sie trat sogar einen Schritt zurück. „Bitte“, sagte ich, mir wurde die Sache peinlich. „Ich habe es nicht anders“, entschuldigte ich mich.
„Aber das kann ich doch gar nicht annehmen“, wehrte sie ab. „Bitte, nehmen Sie es. Sie brauchen es mehr als ich“, beruhigte ich sie. Zögernd ergriff sie das Geld und versteckte es dann mit hastigen Bewegungen an ihrer Brust. „Danke vielmals, danke, danke.“ Ich glaube, sie hatte sich vor mir sogar verbeugt. Es war eine schreckliche Szene, und seit diesem Tag ging ich nie mehr ohne Kleingeld in der Jackentasche aus dem Haus.
Meine gutbezahlte Stelle wurde ich übrigens genauso schnell los, wie ich zu ihr gekommen war. Schade. Aber noch schwerer, als auf das Gehalt zu verzichten, fiel es mir, nun nicht mehr mit der U 1 zu fahren, meine Bahnbekanntschaften während der Fahrt zu beobachten, mich über sie zu amüsieren oder auch mal einen traurigen Blick zu verstecken. Die junge Frau habe ich niemals wiedergetroffen.