In der Wartezone

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Silbenstaub

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Bürgeramt, Yorckstraße 4-11, Berlin-Kreuzberg, 14.15 Uhr

Im Warteraum des Bürgeramtes ist es voll und laut, und es stinkt. Ich bin auf den Flur hinausgegangen und stehe am Fenster. Regentropfen fließen herab, fließen zusammen und trennen sich. Ich betrachte die Kirche gegenüber, wie sie eingekeilt im Häuserrudel steht und ihre zwei grünen Türme wie Zeigefinger nach oben streckt. In Berlin gibt es keine Weite. Die sakralen Spitzen erinnern mich an die Kleinstadt in Schleswig-Holstein, wo ich geboren wurde. Dort stand das Gotteshaus frei und konnte atmen. Ich konnte es nicht. Jeden Abend, einige Jahre lang, wenn Ben aus der Kanzlei nach Hause kam, warf er die Aktentasche auf die Kommode, den Haustürschlüssel hinterher. Sie landete immer an derselben Stelle, und der Schlüssel versank im weichen Leder. Er suchte in der Wohnung nach mir, umarmte mich kurz, ging in die Küche und trank Grapefruitsaft. Der stand nur für ihn im Kühlschrank. Ben, der gute Ben, nun wird er mich nicht mehr finden.

„Zählst du die Regentropfen, wie viele sind es?“
Eine Stimme wie das Rauschen der Ostsee-Brandung in Moll reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Mann mit Grübchen und ausgeprägten Falten zwischen Nase und Mundwinkeln steht neben mir. Verbunden mit dem lässigen halblangen Haar umgibt ihn eine Aura der Melancholie und eines gelebten Lebens. Ich merke, dass ich ihn anstarre und suche nach Worten:
„Ich habe die Kirche entdeckt und das Reflektieren des Autoscheinwerferlichtes auf dem glänzenden Asphalt und die Regenpfützen, die zittern und weichen, wenn ein Wagen hindurch fährt.“
„Du schaust wohl gerne genau hin. Das mache ich auch“, bemerkt er und mustert mich.
Ich blinzle und warte ungeduldig auf die Fortsetzung. Leise sagt er:
„Deine tiefschwarzen Augenbrauen sind wie Wellen im Meer, sie haben einen Schwung, den ich noch nie gesehen habe. Und große Füße hast du, die so gar nicht zu dir passen. Mit diesen Füßen kannst du mit festen Schritten durch das Leben schreiten, Kontinente entdecken und die Erde umrunden.“
Er lächelt. Oder täusche ich mich, und er verzieht nur den Mund?
„Was du alles siehst“, spreche ich stockend, willst du flirten?“
„Ja klar, du nicht?“
„Welche Wartenummer hast du?“, fragt er noch.
„367.“ Ich zeige ihm den kleinen Zettel in meiner Hand. Ich hatte ihn schon zerknüllt.
„Eben war 281 dran, bei mir steht 366, wir haben also Zeit.“
Er grinst mich an und möchte wissen, was ich hier erledigen will.
„Ich muss meine neue Wohnung anmelden.“
„Bist du erst jetzt nach Berlin gezogen?“
„Vor zehn Tagen, ich möchte einen Lebenstraum verwirklichen und eine Schmuckwerkstatt aufbauen und meine eigene Kreation herausbringen.“
Ich spähe den Flur entlang, als ob dort etwas lauern würde, dass mich von meinem Plan abhalten könnte.
„Gehört die Kette, die du um den Hals trägst, zu den neuen Modellen?“
Ich nicke.
„Darf ich sie aus der Nähe anschauen?“
Ich nicke schon wieder. Sei kein Wackeldackel, Jane, denke ich, als er auf mich zukommt und den silbernen Anhänger greift. Absichtlich oder unabsichtlich streift seine Hand über meinen Hals. Wärme kriecht in jeden Winkel meines Körpers. Schnell wende ich mich ab und zeichne mit dem Finger ein Muster auf die beschlagene Scheibe.
„So wird er aussehen, der Schmuck“, erkläre ich und lehne mich an die Wand.
„Das gefällt mir gut“, erwidert er und blickt nicht das Muster, sondern mich an, „sehr mutig von dir, neu anzufangen. Das kann auch schiefgehen.“
„Ich versuche es eben“, ich runzle die Stirn, „und du bist schon länger in der Stadt?“
„Ich bin sogar hier geboren. In Charlottenburg in einer geräumigen Sechs-Zimmer-Wohnung mit großer Badewanne und Balkon und Stuck an den Decken.“
Ein Schatten huscht über seine graugrünen Augen, während er weiterspricht:
„Meine Eltern, beide Lehrer, hatten wenig Zeit. Ich war an einer anderen Schule als sie, soviel Glück hatte meine Schwester nicht. Aber sie ist wild, und ich bin zahm.“
„Das glaub ich nicht“, unterbreche ich ihn und lache.
„Jetzt lebe ich aber nicht immer in Berlin, bin viel unterwegs“, fügt er noch hinzu und
betrachtet seine Schuhspitzen und boxt spielerisch auf das Plakat mit den Hinweisen zur Ausgabe der Reisedokumente.
„Ich stamme aus Bad Oldesloe, mein Vater war der Schuhmachermeister am Ort. Ich wuchs in seiner Werkstatt auf mit dem Duft nach Leder und Klebstoffen“, erzähle ich, „im Sommer war ich meistens draußen und bin durch die Felder gelaufen.“
„Das kann ich mir gut vorstellen, wie deine Haare im Wind wehten und die Weizenhalme Platz machten, wenn du angefegt kamst. Ich heiße übrigens Daniel.“
„Und ich Jane.“
Fast hätte ich ihm die Hand hingestreckt, aber das hätte nicht gepasst, und ich schaue wieder aus dem Fenster. Er steht dicht neben mir und legt einen Arm um mich und streicht mit seinen Fingerspitzen wie ein durstiger Wanderer über die Hügel und Täler meines Gesichts. Der Daumen fährt über meine Unterlippe. Eine Achterbahnfahrt in jede Pore meines Körpers. Sein Geruch ist mir merkwürdig vertraut, nach Meerwasser, das ans Ufer schwappt.
„Mir gefällt, dass du keinen Bart trägst, so wie alle anderen“, sage ich. Es klingt rau. Im selben Moment bereue ich, was ich gesprochen und dass ich gesprochen habe.
Sein Kuss ist sanft. Das hätte ich nicht erwartet. Daniels Lippen berühren meine zaghaft, fast feige. Ich lege die Arme um seinen Hals. Sie sind ganz schwer geworden. Meine Füße sind leicht, ich spüre sie kaum. Mein Herz schlägt schnell und laut, und ich male mir aus, wie es durch den Flur hallt und durch das gesamte Gebäude.
Aber nur für einen Moment verliert es seinen Rhythmus, und ich löse mich aus der Umarmung. Eine unsichtbare Mauer hatte sich aufgebaut.
Der Regen trommelt auf die Scheibe und strömt in breiten Streifen herab.
„Warum bist du im Bürgeramt?“, frage ich.
Daniel wirft einen Blick auf die Schlieren, streicht seine dunklen Haare aus dem Gesicht und sieht mich dann wieder an. Seine Augen sind eine Nuance dunkler geworden. Ich halte kurz den Atem an, beobachte ihn und warte.
„Ich hole meinen neuen Reisepass ab.“
Er schaut zur Seite und reibt sich die Nase.
„Du holst deinen neuen Pass ab“, ich betone jede Silbe und beiße auf meine Lippen und schaue zum Wartebereich, „du fährst also weg?“
Seine Stimme kratzt wie Sandpapier auf meiner Haut, als er sagt, „ja, ja, morgen schon. Nach New York.“ Er zögert. Viel zu lange. „Dort lebt meine Frau.“
„Und deine drei Kinder“, platze ich heraus und unterdrücke ein schrilles Lachen.
Daniel lächelt nicht mehr. „Nein, eine Tochter, neun Jahre alt.“
Im Flur zieht es. Einige Fenster sind gekippt und lassen die herbstliche Luft herein. Mich fröstelt und ich sage:
„Lass uns zurück in den Warteraum gehen, damit wir den Aufruf nicht verpassen.“
In der stickigen Luft der bürokratischen Ewigkeit sitzen zehn Leute auf den grauen Plastikstühlen in Schalenform. Mit einem Klackgeräusch springt die Nummernanzeige an der Wand um. Zehn Köpfe schnellen nach oben, neun sacken zurück auf die Brust und starren ins Smartphone. Einer steht auf und verlässt den Raum.
Wir sitzen nebeneinander und schweigen eine Weile.
„Was machst du eigentlich beruflich?“, frage ich.
„Ich bin Schriftsteller.“
„Ein erfolgreicher?“
„Nicht immer.“ Er zuckt mit den Schultern.
„Vielleicht habe ich schon etwas von dir gelesen.“
„Eventuell, möchtest du ein Buch?“
„Allerdings.“
Er holt eine gebundene Ausgabe aus seinem Stoffbeutel. Ich erkenne auf dem Umschlag das Foto eines einsamen Schiffes auf hoher See. Er schreibt eine Widmung auf die erste Seite. Ich schaue nicht hin. Er reicht mir das Buch, und ich stecke es in meine Tasche.
Klack. 366.
Er steht auf und streichelt über meine langen Haare. Gedankenverloren wirkt er, als er eine Strähne zwischen die Finger nimmt. Er geht mit kraftlosen Schritten zur Tür. Kurz verharrt er am Ausgang, als ob er unschlüssig sei. Daniel schaut sich nicht noch einmal um.

Bürgeramt, Yorckstraße 4-11, Berlin-Kreuzberg, 16.25 Uhr

Ich habe das Gefühl, dass ich verreist war und gerade angekommen bin in diesem Raum. Wie in einem Flughafenterminal. Mir fallen ungewöhnliche Ornamente und verrückte Linien ein. In meinem Kopf geht es zu wie in einem Bienenstock.
Ich muss noch einen Moment warten. Die Nummer 367 erscheint. Meine Wohnung wird angemeldet. Jetzt ist es getan. Jetzt ist es endgültig. Nun fängt das Neue an. Ich gehe vor die Tür, und der Regen hat aufgehört. Die Autos hupen und Menschen hasten an mir vorbei auf dem Weg zur U-Bahn. Ich stelle mich in einen Hauseingang und hole das Buch hervor. Die Widmung werde ich erst zu Hause lesen. Ich schlage das erste Kapitel auf:

„Als erstes fielen mir ihre Augenbrauen auf, auf ihnen hätte ich Wellenreiten können. Ihre Füße waren groß und passten nicht zu ihrem Äußeren, darum liebte ich sie. Mary trat in meine Welt ein, ganz selbstverständlich und so, als ob sie schon immer dazugehört hätte...“
 

Lord Nelson

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Hallo Silbenstaub,

hab diese Geschichte mit Genuss gelesen. Die kleinen Gesten und Empfindungen machen die unspektakuläre Begegnung berührend. Mir hätte die Geschichte auch ohne den sauguten Schluss sehr gut gefallen - der war natürlich noch ein völlig überraschendes Zuckerl "obendrauf".

Liebe Grüße
Lord Nelson
 

Silbenstaub

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Hallo Lord Nelson,
freut mich, dass dir diese eher unaufgeregte Geschichte gefallen hat. Sie war zum einen von dem Warum-Wann-Wie-Schreiben-Thread inspiriert, zum anderen drängte mich meine Schreibgruppe zum Schreiben einer Lovestory. Dieses Genre werde ich aber nun nicht vorrangig weiterverfolgen…;-)
By the way, du hattest mal erwähnt, auch in einer solchen Gruppe mitzuwirken, würde mich interessieren, wie ihr das so macht.
LG Silbenstaub
 

Lord Nelson

Mitglied
Hallo Silbenstaub,

Ich bin mittlerweile in mehreren Schreib- und Lesegruppen:

Mir persönlich am wichtigsten ist eine feste Runde von sieben Personen. Wir geben uns von Monat zu Monat ein gemeinsames Thema vor (wem gerade etwas einfällt, darf es bestimmen), treffen uns dann privat bei Kaffee und Kuchen und lesen uns gegenseitig unsere Texte vor. Diese Treffen sind von häufigen Lachsalven begleitet, die Diskussionen und Kritiken manchmal aber auch ernst und kontrovers bis fast zur Missstimmung.
Mich fasziniert immer wieder, wie unterschiedlich die Interpretationen eines Themas ausfallen können, welches mir selbst zuvor sehr eindeutig erschien.

Eine etwas größere Runde von elf Personen trifft sich ebenfalls einmal pro Monat in einer privaten Wohnung. Jeder, der Lust hat, kann einen beliebigen eigenen Text lesen, nur manchmal gibt es notwendigerweise ein Zeitlimit. Die Kritiken sind hier konstruktiv, allerdings stets wohlmeinend (wenn ich da Schrott vorlese, erfahre ich zwar wie ich ihn verbessern könnte, aber nicht dass es sich um Schrott handelt).

Daneben gibt es noch einen weiteren Lesekreise in ähnlichem Stil wie den letztgenannten, allerdings in öffentlichen Lokalen, wo entweder der Geräuschpegel das Lesen anstrengend macht, oder einen umgekehrt die neugierig gespitzten Ohren an den Nebentischen etwas hemmen. Da bin ich aus zeitlichen Gründen kaum noch dabei.

Interessant ist auch eine Leserunde, in der wir uns (der harte Kern misst 9 Personen), ebenfalls einmal pro Monat gegenseitig unsere Lieblingsbücher vorstellen. Die Vorstellungen waren bisher sehr gut ausgearbeitet und interessant vorgetragen, die Bücherauswahl sehr bunt.

Wer es sich antun mag, kann auch Freitags in einer öffentlichen Einrichtung unserer Stadt lesen. Ein paar literarisch versierte Selbstdarsteller prügeln da im Anschluss mit überzogenen und teils auch sehr schwer nachvollziehbaren Kritiken auf die Autoren ein. Das nervt schon die Zuschauer, den Autor sicherlich entsprechend mehr.

Wie läuft das denn bei euch ab? Ihr scheint ja auch einen gewissen Rahmen vorzugeben.

LG Lord Nelson
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Lord Nelson, du bist ja sehr aktiv! Der Freitagstermin hört sich eher unentspannt an.
Ich bin nur in einer Gruppe, zu der im Moment fest vier Personen gehören. Wir treffen uns alle vier oder fünf Wochen. Ca. eine Woche vorher schicken wir die Texte herum, damit wir beim Treffen gleich ohne das Vorlesen anfangen können. Wir geben uns auch von Mal zu Mal ein Thema vor, z.B. „Die Diagnose“, „Reiseerlebnis“, Lovestory mit 200 Wörtern max. (daraus entstand dann der Wunsch nach mehr). Bei uns wird auch eher „nett“ kritisiert, vielleicht zu nett. Allerdings „streite“ ich mich jedes Mal mit einer Teilnehmerin, wir sind in allen Punkten immer völlig unterschiedlicher Ansicht.
Da wir fast alle beruflich aus den Bereichen „Bildende Kunst/Medien“ kommen plus einer Ärztin, gibt es für das nächste Treffen eine zeitgenössische gegenständliche Grafik, zu der eine Kurzgeschichte geschrieben werden soll. Bin sehr gespannt, was dabei herauskommt.
Kuchen und Lachsalven gibt es bei uns auch, und nicht zu knapp, da wir alle das Ganze nicht verkniffen sehen und zum Glück von dem Geschreibsel nicht leben wollen.
LG Silbenstaub
 

Lord Nelson

Mitglied
Hi Silbenstaub,

Sich die Texte vorab zu senden, wäre auch einmal zu überlegen. Allerdings möchte ich das direkte Feedback beim Vorlesen nicht missen. Lacher, Aufstöhnen oder gespannte Stille an gewissen Stellen sind auch wichtige Rückmeldungen!

Wir sind überwiegend literarische Laien.

Zu der Idee mit der Grafik fällt mir ein, es gibt noch eine weitere Gruppe, die aber nur sporadisch tagt. Etwa sechs Leute wählen sich aus gefühlt hunderten der sehr phantasievoll gestalteten Karten des Spiels "Dixit" je eine aus, die einen inspiriert. Dann lassen wir exakt eine Stunde lang die Griffel kratzen / Tastaturen klappern, und lesen anschließend nacheinander vor. Diese Art der Inspiration holt, gemessen am Zeitaufwand, erstaunliche Ergebnisse aus den Teilnehmern heraus. Der Vorteil ist, man verzettelt sich angesichts des Zeitlimits nicht so leicht.

LG Lord Nelson
 



 
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