In diesem Sommer

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
In diesem Sommer war sie zu Hause, es hatte sich plötzlich so ergeben, allein fuhr sie zu ihrem Vater, der auch solo war und dem es schwer fiel, sich zu versorgen. Eigentlich wollte er ihr etwas Gutes tun. Wollte, dass sie nicht kochte, dass sie nichts tat, aber das fiel ihr schwer, also kochte sie doch, aber nur ab und zu.

Er ging mit ihr essen, war stolz auf sie, und kaufte ihr Dinge, die sie gerne hatte, auch das wollte sie nicht, aber er ließ nicht locker und wartete geduldig, bis sie die Umkleidekabine verließ, um die anprobierten Sachen zu begutachten und dann zu bezahlen. Er liebte es, mit der Kassiererin zu scherzen, so trat er sonst gar nicht auf, aber in diesem Sommer doch.

In diesem Sommer besuchte sie auch die Tante, die schon den Vater aufgezogen hatte und auch sie selbst. Die Tante saß fast hundertjährig im Sessel, gefesselt an den Tropf, der ihr die nötige Nahrung gab, konnte nicht mehr rauchen, die Windeln waren ihr zu warm, aber ihr Geist war noch immer hellwach. „Ich will nicht, dass du mich so siehst,“ sagte die Tante, „ich mag nicht mehr, ich will, dass du mich nur noch auf dem Friedhof besuchst, aber nicht mehr in meiner Wohnung.“

Sie erzählte von früher, als sie noch mit dem Vater essen ging, keiner von beiden achtete auf die Linie, die Tante war dick, sie war es immer gewesen, wozu noch später auf die Linie achten, nein, sie aß was sie wollte. Der Vater war immer schlank gewesen, er konnte essen, was er wollte, er nahm nicht ab, sagte er immer.

In diesem Sommer sagte sie zu der Tante: "Du hattest so ein langes Leben, wie ist das, wenn man so alt ist", aber die Tante wies das barsch zurück, das sei Quatsch, ihr Leben sei kurz, ganz kurz gewesen, und sie solle nun ihr Leben genießen, man sehe an ihr, wie schnell es vorbei sei.

In diesem Sommer ging sie täglich die Straße zwischen der Wohnung ihres Vaters und der ihrer Tante und fast immer traf sie ihn, den Priester aus Kindertagen, sie erkannte ihn sofort, er war noch immer groß und schlank und kaum ergraut, aber wie sollte er sie nach zwanzig Jahren erkennen? Sie grüßte ihn immer und er grüßte zurück, vermutlich verwechselte er sie mit ihrer Mutter aus früheren Tagen, denn sie sah inzwischen aus wie ihre Mutter und deshalb sah der Vater sie auch immer wehmütig an. Sie sprach den Priester nicht an, sie wusste nicht warum, aber sie tat es nicht.

Dieser Sommer ging zu Ende und sie musste zurück, zurück in ihr Leben und sie ging noch ein Mal zur Tante und verabschiedete sich, es fiel ihr schwer. Sie behielt das letzte Bild im Auge und Herzen und sah auch den Priester an diesem Tag, er war wie immer in Eile und bemerkte sie nicht. Ihr Vater bedankte sich bei ihr - wofür, es war doch selbstverständlich für sie gewesen, ihm ihre Zeit zu schenken.

Am Tag nach ihrer Rückkehr rief der Vater an, die Tante war am Morgen verstorben, einfach so, einfach eingeschlafen. Er selbst überlebte sie um elf Monate und fünf weitere Monate später verstarb auch der Priester völlig überraschend während einer Reise an einem Herzinfarkt.

Wenn sie heute auf den Friedhof geht, besucht sie alle drei, die diesen Sommer mit ihr geteilt hatten, Tante und Vater ruhen gemeinsam im Familiengrab und sie stellt sich vor, dass sie ein himmlisches Essen genießen, ohne auf die Kalorien zu achten, wie sie es zu Lebzeiten schon nicht taten, und jedes Mal geht sie auch zum Priesterhügel, dort liegen alle Geistlichen vereint und sie fragt sich immer, weshalb sie nicht wenigstens ein einziges Mal ein Wort zu ihm gesagt hat.

In diesem Sommer.
 

FrankK

Mitglied
Hallo @Doc Schneider

Ein schwermütiger Text wird uns hier präsentiert.

Trotz der leichtfüssigen Sprache und dem flotten Stil wirkt der Text bedrückend.

Zusätzlich kommt es zwischendurch zu regelrechten Vollbremsungen an überlangen Sätzen, die wie absichtlich eingebaut daherkommen.
Vollbremsungen an den, für meinen Geschmack, richtigen Stellen. Damit ich als Leser innehalten muss, nachdenken muss und mir auch die Zeit nehme, dies zu tun.

Die Szene mit dem Priester, die so beiläufig daherkommt – gerade so, als wolle die Prota nicht an ihn erinnert werden. Sie besucht ihn am Grab – ja – aber dort bedauert sie auch, das sie kein Wort gesagt hat.
Durch diese Beiläufigkeit wirkt es wichtig, als hätte es in der Vergangenheit ein Geheimnis gegeben, dass sie mit ihm teilte, nun aber nicht mehr zur Sprache bringen kann.


Gerne gelesen.

Grüße aus Westfalen
Frank
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo FrankK,

Du hast den Text richtig verstanden und eingeordnet. Oberflächlich leicht, aber mit Tiefgang dahinter.

Die Prot teilt in meiner Intention kein Geheimnis mit dem Priester, sie wird sich eher der Tatsache bewusst, dass sie eine einmalige Gelegenheit hat verstreichen lassen.

Danke fürs Lesen und Kommentieren,

DS
 



 
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