In einem Land vor unserer Zeit

Bonaventura

Mitglied
Wir stolpern. Die Asphaltstrasse ist an den Raendern unbefestigt. Sandwege dienen als Buergersteige. Strassenlaternen gibt es hier nicht, die Stadt Jos in Nordnigeria ist Provinz, obgleich die Hauptstadt des Bundeslandes Plateau State. Der schwache Strahl der Taschenlampe hilft nur wenig. Aber immer noch besser als kein Licht. Vereinzelt fahren Autos vorbei, erst blenden uns die Scheinwerfe, dann helfen sie wenige Sekunden lang den Weg zu erhellen. Wir wollen das neue Jahr 2005 in der Kirche begruessen.
Der Weihrauchduft weist uns schon von weitem den Weg zum Kircheneingang. Neben dem Eingang zum Kirchenpark steigen dicke hohe Weihrauchsaeulen aus einer ausladenden Schale vom Boden zum Himmel hoch. Die Neonroehren ueber dem Tor beleuchten die Einfahrt. Die Kirche besitzt einen eigenen Generator. Denn sogar heute, am Silvesterabend nimmt NEPA keine Ruecksicht auf ihre Benutzer. NEPA gibt Leben und nimmt es. NEPA weckt auf, NEPA kann einschlaefern. NEPA laesst den Strom des Lebens fliessen oder nicht. Ohne NEPA ist alles schwach, leblos, langweilig, tot. NEPA hat Macht ueber uns Buerger. Ueber unsere Kuehlschraenke, Gefriertruhen, Fernsehapparate, CD-Spieler, Computer, und damit ueber unsere Laune. NEPA verwandelt erleuchtete Raeume von einer Sekunde zur anderen in schwarze Hoehlen
NEPA ist die Nigerian Electric Power Authority, das staatliche Elektrizitaetswerk.

Wir treten in den hell erleuchteten Vorraum der St. Pirans Anglican Church.
Good evening, gruessen wir. When does the service start?
Die junge Nigerianerin im blauen Wollponcho ordnet die Liederblaetter, Bibellesebuecher fuer 2005 und Grusskarten auf dem grossen Tisch.
Good evening, you are very welcome, it starts at 10 p.m.
Wir reichen uns die die Haende zur Begruessung, laecheln. So eine herzliche Begruessung fuer uns die Fremden, weissen Frauen, die Batures, wie es in der Haussa Sprache heisst. In Jos, im Plateau State, im Norden Nigerias, lebt seit jeher ein Voelkergemisch, viele Sprachen werden hier gesprochen, Haussa dominiert, offizielle Amtssprache ist Englisch, noch von der Kolonialzeit uebrig geblieben. 1851 bis 1960, dem Jahr der Unabhaengigkeit.
Europaeer, Portugiesen, kamen bereits 1472 an die Westkueste in diese Region, die 1914 Nigeria genannt wurde. Die Grenzen wurden diesem Teil der Welt bereits in der Berliner Konferenz der Weltmaechte 1884/85 zugewiesen, wie auch anderen Kolonien.

Am Nachmittag dieses Silvestertages blicken wir von 1200m Hoehe von den Shere Hills im Jos Plateau ueber das weite Land. Wir sitzen auf einem riesigen flachen Granitfelsen und spielen das Spiel: was siehst du da drueben in den Felsformationen? So vieles sehen wir, Gesichter, menschliche und Tierfiguren. Die Schoenheit dieser Landschaft ist, wie ein Klischee sagt: atemberaubend. Manchmal ist ein Klischee eben am zutreffendsten. Vollkommen unberuehrt, eine Urlandschaft, wir schauen und sprechen nicht mehr. Unter uns liegen die Granitbrocken, gross und klein, riesig, wie von Gigantenhand fallengelassen und liegengeblieben. Und niemand mehr kann sie verruecken. Bizarre leuchtend gruen belaubte Baeume wachsen aus Felsspalten. Wie lang muessen die Wurzeln sein, um aus dem Grundwasser zu schluerfen, das Blueten an die Zweige zaubert. Graeser, Straeucher, an denen Kapselfruechte haengen, strecken sich der Sonne entgegen. Habichte kreisen ueber dem dunkelblauen, wolkenlosen Himmel. Es ist
heiss, 35 Grad, aber wir schwitzen keinen Tropfen, so trocken ist die Luft.
Ich blicke ueber die Ebene unter uns. sehe die rote Erde zwischen dem grauen Granit. Hierhin flohen viele Voelker dieser Gegend in die rauhen Berge, um den Sklavenjaegern zu entgehen. Um nicht den Steuereintreibern der Kolonialregierung Englands von ihrem Wenigen noch abzugegen. Um nicht ihre Frauen den Vergewaltigern auszuliefern. Und um ihre Kultur und Religion von den Zwaengen zu schuetzen und vor den fremden Einfluessen zu bewahren.
Geschichte atmet aus den Steinen. Dies ist eine alte Landschaft, wir sind in einem Land vor unserer Zeit, heute am Silvestertag auf den Shere Hills. Es wuerde gar nicht ueberraschen, wenn sich der Kopf eines Triceratops um die Ecke schieben wuerde. Aber es sind Schmetterlinge, die um die Ecke gaukeln, zwischen den Disteln und rotbluehenden Strauchpflanzen tanzen. Ich kenne ihre Namen nicht.

Nur wir haben an diesem Nachmittag den Berg bestiegen, Irmgard, Sammy, Botho und ich.

Wir haben uns eine Kirchenbank hinten gesucht, dann koennen wir gehen, wann wir moechten, der Gottesdienst soll bis fuenf Uhr morgens dauern.
Wir sind bei den ersten Besuchern, mehr und mehr stroemen jetzt in die Kirche. Viele sind festlich gekleidet in die bunten langen Kleider der vielfaeltigen Mode Nigerias. Die Haare werden von passenden Tuechern bedeckt. Kunstvoll werden sie um die Haare gewickelt. Juengere Maedchen und Jungen, Schueler und Studenten, tragen Jeans, Sweatshirts mit Kapuze, Kappen auf dem Kopf und Wolldecken unter dem Arm. Nachts wird die Luft hier empfindlich kalt, bis zu 4 Grad. Puenktlich beginnt der Gottesdienst. Hier in Nordnigeria bildet Jos eine Enklave der Christen mitten in einer sonst islamisch dominierten Gegend. Hier kommt es schon mal zu Auseinandersetzungen, das hoeren wir dann bei uns in den Nachrichten.
2007 wird in Nigeria ein neuer Staatspraesident gewaehlt. Die vielen Ethnien stehen schon in den Startloechern, um Prasidentschaftskandidaten zu praesentieren. Ein Rennen wird stattfinden unter den ungefaehr dreissig nigerianischen Parteien.

Um Mitternacht verlassen wir die Kirche, belebt von den lebendigen Gesaengen der Choere und Soli. Viele Menschen gingen nach vorn, begannen mit PRAISE THE LORD und erzaehlten von den guten und weniger guten Dingen, die ihnen 2004 gebracht hat. Auch fuer 2005 erbitten wir Gottes Hilfe.

Immer noch steigt der duftende Weihrauch zum Himmel, ein Traeger der Gesaenge und Bitten. Der Weg zurueck erscheint uns leichter und schneller, wie alle Wege zurueck.

Ruhig liegt unser Hotel, die Bar schliesst gerade, wir bekommen noch ein Guinness Stout, ein starkes Getraenk.

Wir stossen an auf ein starkes Neues Jahr.

Prosit Neujahr!
 
E

El Lobo

Gast
Ein Text, der berührt, er erinnert mich an die Probleme mit der staatlichen E-Gesellschaft in der Dom. Republik. Dort ist es ähnlich, nur sicherlich nicht ganz so drastisch.

LG El Lobo
 



 
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