In memoriam Hänschen Einstein irgendwann 1977-31.12.1999

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Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ich erinnere mich an den Tag, als ich Dich holte: zitternd hast Du in der Transportbox gesessen, Dein Gefieder panisch gesträubt, ein graues Bündel Angst. Und ich war stolz, Du solltest der Klügste werden, nannte Dich Einstein, denn nomen est omen.

Ein Jahr brauchte es, bis Du mir Dein rückhaltloses Vertrauen und alle Zuneigung schenktest, zu der Dein Vogelherz fähig war. Selbstlos bewahrtest Du Deinen geliebten Anteil am Frühstücksei für mich im Kropf, sorgtest aufopferungsvoll dafür, das mein Haupthaar ungezieferfrei blieb. Als mich die Allerliebste verließ, knabberte Dein krummer Schnabel zum zärtlichen Trost an meinem Ohr und brabbelte dabei leise Koseworte.

Manchmal hattest Du Streit mit der Physik. So hast Du nie begriffen, das halbvolle Rotweingläser umfallen, wenn man versucht auf ihnen zu landen.
Keine Angst, ich habe Dir längst alle Flecken vergeben!

Aber Du konntest nachtragend sein.
Drei Tage hast Du nicht mit mir gesprochen, weil ich gelacht habe. Verzeih mir, ich muss auch jetzt noch grinsen, es war einfach zu komisch, wie Du kopfüber an einem Bein hingst, nur um hinein zu beißen und dann erschrocken los zu lassen. Dein Geschimpfe, als Du wieder auf Deinen Ast geklettert bist, gab mir den Rest. Nach diesem Vorfall wollte ich Albert nicht länger diskriminieren und nannte Dich fortan Hänschen Einstein.

Durch mein Ungeschick hast Du mich einmal verlassen. Der fallende Topfdeckel scheuchte Dich vom Küchenboden direkt durch das offene Dachfenster. Wochenlang habe ich Dich gesucht, jede freie Minute mit Nüssen bewaffnet in den umliegenden Wäldern verbracht. Als die Nächte eisig wurden, saß ich in der Dunkelheit vor Deinem Ast, wünschte Dir einen warmen Platz und hatte doch nur Visionen Deines steif gefrorenen kleinen Körpers.
Nach vier Wochen geschah das Wunder: Eine unglaubliche Verkettung von Zufällen führte mich in das Tierheim der Kreisstadt, fünfzehn Kilometer entfernt. Niemals werde ich vergessen, wie Du zu mir flogst, im Moment, da ich den Raum betrat.

Du hattest Dich verändert in den Wochen der Freiheit. Deine spielerische Neugier auf alles Unbekannte hatte ihre Unschuld verloren, Du warst vorsichtig. Es war, als hätte der Überlebenskampf Dich erwachsen gemacht. Nur zu mir war Dein Vertrauen und Deine Liebe grenzenlos.

Erwachsen warst Du jetzt tatsächlich, denn wenige Wochen später legtest Du dein erstes Ei. Du warst eine Dame und ich war platt.

Dann habe ich Dich geblendet.
Nicht mit Absicht, aus eitler Gedankenlosigkeit gefiel mir Dein neuer Standplatz neben der Finkenvoliere mit der Quecksilberdampf-Beleuchtung einfach besser. Als der graue Star sichtbar wurde, war es zu spät. Es dauerte zwei oder drei Jahre, bis Dein Augenlicht völlig erloschen war, das Fliegen hast Du nach vielen schmerzhaften Unfällen schon früher aufgegeben.

Dein Vertrauen und Deine Liebe zu mir waren dennoch ungebrochen. Wann immer Du meine Stimme gehört hast, bist Du von Deinem Käfig geklettert. Wie einen Blindenstock hast Du Deinen Schnabel benutzt, um den Weg zu mir zu finden. Keine Couch war Dir zu hoch, kein Kissen zu steil, nicht einmal Jimmies neugierige Hundenase konnte Dich hindern. Du hast Dich ihm gestellt, mit aufgerissenem Schnabel und gesträubten Gefieder bist Du auf ihn los. Deine Kampfschreie waren beeindruckend, auch für Jimmie.

Du bekamst meine Stimme immer seltener zu hören, hatte ich doch jetzt Familie und Verantwortung, musste ein Geschäft aufbauen. Ich ging früh, kam spät, meist zu müde. Deine Liebe war mir so selbstverständlich geworden, dass ich sie mir nahm, wenn mir gerade danach war; ich war ihrer schon längst nicht mehr wert.
Du wurdest stiller, Deine Wanderungen seltener, gab ich Dir doch kein Ziel mehr. Jahre vergingen, Dein Vertrauen und Deine Liebe waren weiterhin unendlich, die Federn auf dem Käfigboden Zeichen Deiner Sehnsucht. Ich übersah sie.

Es war Heiligabend 1999, Dein Kropf hatte sich entzündet, schwoll zu einer unförmigen Eiterblase. Du hörtest auf zu fressen.
Zum ersten Mal nach langer Zeit gab ich Dir die Aufmerksamkeit, die ich Dir schuldete. Ich sah Deine Magerheit unter der federlosen Haut, das trübe Weiß Deiner blinden Augen. Ich begriff, was ich getan hatte. Voller Angst, zu verlieren, was ich nicht verdient hatte, fuhr ich mit Dir zur Taubenklinik. Es schneite heftig, die Straßen waren kaum passierbar, wir schafften es dennoch.

Als ich den Käfig aus den Decken wickelte und Du in Deinem ganzen Elend sichtbar wurdest, gab der Arzt Dir keine Chancen. Er verlor kein Wort über Deinen Allgemeinzustand. Ich las seine Gedanken, er hatte recht: schuldig.

Am Abend des 26. Dezember bin ich mit Dir noch einmal in der Tierklinik gewesen, Abermals verging ich mich an Dir. Du bekamst eine Aufbauspritze, obwohl ich Dir ansah, dass Du müde warst.

In den folgenden Tagen wollte ich alles wieder gut machen, flehte, dass Du mir die Chance geben würdest. Wieder ging es mir um mich.

Am 31. Dezember, kurz vor Mitternacht, bist Du in meinen Händen gestorben. Dein letzter leiser Krächzer sprach zu mir von Deinem Vertrauen und Deiner Liebe.

Ich schäme mich.
 

Inu

Mitglied
Hallo Rumpelstilzchen

Mich hat die Geschichte sehr berührt.

Es ist, als hättest Du Dir da tatsächlich Kummer und Schuld vom Herzen geschrieben, aber es kommt auch viel Wärme herüber.

Ja, Dein Protagonist?! hat schäbig an dem kleinen Vogel gehandelt, aber eher aus Unbedarftheit und ohne böse Absicht und das merkt man. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein ähnliches, wenn auch nicht ganz so dramatisches Erlebnis mit einem kleinen Canari gehabt und sein Tod geht mir bis heute nicht aus dem Kopf.

Eigentlich beschreibst du hier besonders eindringlich eine Begebenheit, die viele Menschen mit Tieren schon so
ähnlich erlebten.

Die Geschichte ist aber auch sehr packend zu lesen, denke ich. Ich konnte nicht aufhören.

Lieben Gruß
Inu
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Danke Inu, dass memoriam Dich rühren durfte!

In der Tat schrieb das Leben die Geschichte, ich habe nur die Worte dazu gegeben.
Nichts zeugt mehr Tier- und Menschenleid in der Welt, als unsere gedankenlose Egozentrik!
Im Kleinen wie im Großen.
Da nagt man dran.

Stilzte sich mit Nüssen bewaffnet davon, um das von Inu gedankenlos fortgeschreckte zweite 's' zu suchen
 
F

Franktireur

Gast
Beeindruckend

Endlich Ehrlichkeit.
Es gibt daran nichts zu beschönigen, es gibt keine Ausrede, es gibt nur die Erkenntnis, die daraus gezogen wird.
Endlich Ehrlichkeit.
Keine Sentimentalitäten, kein "falsches" Gefühl, keine unzulässige Dramatisierung.
Endlich Ehrlichkeit.

Und mir standen die Tränen in den Augen.
Und das, obwohl ich "abgehärtet" bin.
 



 
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