In the end

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Charlene

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Ich bin auf dem Weg zum Friedhof. Meine Oma ist vor kurzem gestorben. Das Schreckliche daran ist, dass ich nicht weiß, ob ich darüber traurig oder erleichtert sein soll.

Trudchen war meine einzige Oma, meine andere starb vor meiner Geburt und ich war fast jedes Wochenende bei ihr. Sie wohnte in einem großen Haus, fast schon einer Villa mit einem riesigen Garten, in dem sie jede freie Minute herumwerkelte. Dabei trug sie immer einen grünen Schlapphut und ich bekam eine rote Schürze umgebunden, wenn ich ihr half. Waren wir dann mit der Gartenarbeit fertig, setzten wir uns im Sommer auf die Terrasse und redeten. Oder ich lieh ihr meine Bravo, weil sie wissen wollte, was gerade „in“ war.
„Ich möchte doch immer up to date sein!“, sagte sie lachend, wenn ich sie mit ihrer Schwärmerei für Brad Pitt aufzog. Auch sonst war Trudchen keine typische Großmutter. Sie war groß, schlank, ihre langen Haare waren schwarz gefärbt und sie hatte immer eine Dauerwelle.
„Ich bin keine sechzehn mehr, wie du. Mir schauen die Männer nicht hinterher weil ich hübsch bin. Also muss ich schwerere Geschütze auffahren.“ War ihre Standartantwort, wenn ich sie auf ihr Outfit ansprach. Meistens hatte sie die schwarzen, langen Locken zu einem Pferdeschwanz gebunden, das Gesicht geschminkt, große Kreolen, ein mit Pailletten besticktes T-Shirt und Jeans. Sie sah wirklich nicht aus, wie eine 75-Jährige.
Samstag war unser Shoppingtag. Wir ließen keinen Laden aus und Trudchen kaufte mir die Kleidung, die sie am liebsten selbst getragen hätte. In den Schuhläden schüttelten die Verkäuferinnen nur noch den Kopf, wenn sie mit hochhackigen Pumps durch den Laden stolzierte. Sie kaufte sie zwar nicht, aber ich verließ nie das Geschäft ohne mindestens ein neues Paar neuer Schuhe. Alles in allem war Oma ziemlich durchgedreht und witzig.
Einmal gingen wir extra in die Stadt, weil gerade die neue CD von Linkin Park herausgekommen war und ich sie unbedingt am gleichen Tag haben musste. Allerdings stand sie noch nicht im Regal. Als ich die Verkäuferin, eine arrogante Tussi, die sich ihre roten Fingernägel feilte, fragte, zuckte die nur mit den Schultern. Das konnte Trudchen natürlich nicht dulden und baute sich vor der Verkäuferin in ihrer ganzen Größe auf, bis diese endlich gelangweilt ihren Blick hob und Oma Kaugummi kauend ansah.
„Meine Enkelin Natalie möchte die neue CD von Linkin Park!“, sagte Trudchen mit Nachdruck.
„Der Park is‘ um die Ecke, nich‘ hier!“, gab die Tussi zurück und widmete sich wieder dem Studium ihrer Fingernägel.
„Jetzt hör mir mal zu, Mädchen. Entweder du schaffst mir innerhalb von einer Minute die CD her, oder ich beschwere mich. Dann kannst du dir gleich einen neuen Job suchen, dein Chef ist zufällig mein lieber Schwiegersohn.“ Omas Lächeln war zuckersüß und wurde immer breiter, als die Verkäuferin vor Schreck ihre Feile fallen ließ und hastig aufstand.
„Schwiegersohn?“, fragte ich. Mein Vater arbeitete nicht hier!
„Eine kleine Notlüge, Natalie.“, tat Trudchen ab und grinste. Die ganze Angelegenheit bereitete ihr tierisches Vergnügen.
Das war vor einem halben Jahr. Dann hatte sie diesen Schlaganfall und alles änderte sich.
Oma lag lange im Krankenhaus, wusste nicht mehr, wo sie war, konnte nicht mehr richtig sprechen, war halbseitig gelähmt. Kurz, es war einfach schrecklich.
Als sie endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kam sie in ein Pflegeheim in unserer Nähe. Meine Eltern kümmerten sich um sie, so oft sie Zeit hatten und ich besuchte sie jeden Tag nach der Schule. Früher hätte sie sich vehement dagegen gewehrt, in einem Doppelzimmer untergebracht zu werden, aber jetzt lag sie nur teilnahmslos in ihrem Bett. Sie trug immer ein weißes Nachthemd, ihre schwarzen Haare wurden am Ansatz allmählich grau. Das erste Mal überhaupt, bemerkte ich die vielen Falten in ihrem Gesicht. Oma konnte sich kaum mehr bewegen, an Gehen war nicht zu denken. Die meiste Zeit war sie geistig verwirrt. Sie wusste nicht wo sie war, manchmal auch nicht, wer sie selbst war. Mich erkannte sie kein einziges Mal. Oma konnte nicht mehr selbst essen, musste gefüttert werden. Aufs Klo konnte sie auch nicht alleine, meistens trug sie Windeln.
Irgendwann wurde mir das alles zu viel. Ich hörte auf, sie zu besuchen. Deswegen hatte ich ein ziemlich schlechtes Gewissen, verdrängte meine Oma so gut es ging. Aber allein der Gedanke an sie machte mich traurig. Es gab Nächte, in denen ich die ganze Zeit nur weinte.
Dann ist Trudchen gestorben. Allein. Niemand war bei ihr. Der Arzt sagt, sie ist einfach eingeschlafen. Und ich glaube das. Sonst fühle ich mich noch schlechter, wenn ich an sie denke, weil es mir vorkommt, als hätte ich sie im Stich gelassen.
Der Schock über ihren Tod war groß, aber mein erster Gedanke war: „Gott sei Dank! Es ist vorbei!“ Vielleicht ist das ja auch richtig. Vielleicht war es gut, dass sie gestorben ist und nicht mehr leiden muss.

Ich bleibe vor Omas Grab stehen und lege den Blumenstrauß hin. Für Oma ist es besser so. In dem Pflegeheim, das war nicht wirklich sie, ich glaube bei dem Schlaganfall ist schon ein Teil von ihr gestorben, nur die Hülle war noch da.
Omas Tod hat meine Einstellung zum Alter verändert. Vorher dachte ich immer, man wird alt und stirbt irgendwann. Jetzt habe ich Angst davor. Angst, so zu werden wie Trudchen. Aber auch Hoffnung. Denn in dem Altersheim gab es Leute, die nicht so hilflos waren und würdig alt wurden.
 

Rainer

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hallo charlene,

eine traurig-schöne geschichte hast du da zu papier gebracht. da ich glaube, daß sie (teilweise) autobiografische züge trägt, erlaube ich mir einige anmerkungen:
Jetzt habe ich Angst davor. Angst, so zu werden wie Trudchen. Aber auch Hoffnung. Denn in dem Altersheim gab es Leute, die nicht so hilflos waren und würdig alt wurden.
diesen abschnitt schreibe ich deiner vermuteten jugend zu, durch meinen intensiven umgang mit sehr alten menschen habe ich da ähnliche erfahrungen. du solltest keine angst davor haben zu werden wie die großmutter. der lebensabschnitt den du beschreibst war in meinen augen sehr erfüllt für sie, ich denke, ihr hat es spaß gemacht. viele alte leute leben ihre letzten jahre nur noch in erinnerung an vergangene zeiten, das macht sie alt und grau. die oma war aber sehr bunt, vermutlich lebenslustig und vital.
die hilflosigkeit nach dem schlaganfall ist nun mal so, aber sie wurde ,denke ich, nicht zu tode gepflegt, wie es leider oft der fall ist.
würdig alt werden - in meinen augen ist sie würdig alt geworden, wenn auch nicht konservativ würdig (z. B. beim kaffekränzchen). sie ist geblieben, was sie schon immer war/wie sie immer sein wollte.
sie ist vielleicht nicht wirklich würdig gestorben, da hat deine protagonistin ihren anteil dran, denn sie hat die oma in ihren letzten tagen nicht gewürdigt - eine erfahrung aus der man (du) lernen kann.

stilistisch nur ein vorschlag. statt
Trudchen war meine einzige Oma, meine andere starb vor meiner Geburt und ich war fast jedes Wochenende bei ihr.
vielleicht besser:
fast jedes wochenende besuchte ich oma trudchen. sie war meine einzige oma, die andere großmutter starb, bevor ich geboren wurde. trudchen wohnte...

gruß

rainer
 



 
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