Inshallah
„Halt die Zeit an“, hatte einmal eine Frau vor vielen Jahren zu ihm gesagt, die ihn sehr geliebt hatte, „bitte halt die Zeit an“, aber er konnte sie damals nicht anhalten.
Es war schon gegen Mittag. Lange hatte er nicht einschlafen können, später als sonst war er aufgewacht, hatte gegen die Decke geschaut, das Zimmer angesehen, als wenn er es nie vorher gesehen hätte oder niemals wieder sehen würde.
Da an der Wand stand das Regal, das er selbst gemacht hatte, voller Bücher. Viele hatte er gelesen.
Er hatte nie verstanden, wie eine Kultur, in der die Schrift, die Mathematik entstanden war, die die Welt über Jahrhunderte beeinflusst und geformt hatte, in Bedeutungslosigkeit versunken war.
Er stand langsam auf, wusch sich und zog sich so an, als würde er zu einem Fest gehen.
Als er in die Küche kam, sah er seine Frau, sie bereitete das Mittagessen vor. Sein Sohn spielte in einer Ecke mit einem Feuerwehrauto.
Sie brachte ihm Kaffee.
Wie schön sie war!
Ja, zum Mittagessen würde er wieder zurück sein.
Er verabschiedete sich, umarmte seinen Sohn und seine Frau, wollte noch etwas sagen, ließ es aber dann.
Er stieg die schmale Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, die letzte Stufe müsste einmal ausgebessert werden, dachte er.
Als er aus der Haustür kam, blendete ihn Licht, er konnte zunächst nur Schatten erkennen.
Die alte Frau aus dem dritten Stock kam ihm entgegen, grüßte ihn, aber er bemerkte sie nicht; sie schüttelte den Kopf und schaute ihm nach.
Er ging in Richtung Wochenmarkt, ging an Geschäften vorbei, hier war er oft zur U-Bahn gegangen, zur Arbeit gefahren, aber heute war alles anders, er sah alles wie durch einen Nebel, alles unscharf, alles bewegte sich wie in Zeitlupe, als wenn sich die Zeit gedehnt hätte.
Leute schauten ihn an, und er sah in ihren Gesichtern, was sie dachten. Für ihn, der Araber war und auch wie ein Araber aussah, war das Leben hier schwieriger geworden.
Patienten wunderten sich, einen Arzt zu sehen, der Ausländer, Araber, war, sie hatten gedacht, „dass die alle bei der Müllabfuhr arbeiten würden“.
Sie schauten ihn misstrauisch an.
Typisch deutsche Vorstellungen, alle Schwarzen sitzen im Urwald auf Bäumen und trommeln, alle Araber sind Händler, betrügen oder sind Terroristen, dachte er.
Jetzt war sein Chef in Pension gegangen, ihn hatte man übergangen, ein jüngerer Deutscher war sein Vorgesetzter geworden. Das hatte ihn nicht sonderlich überrascht. Er hatte eigentlich nichts anderes erwartet.
Anfänglich hatte er sich in eine neue Kultur integrieren wollen, hatte die Sprache gelernt, versucht, sich anzupassen, war dann aber durch die herrschende Überheblichkeit und soziale Kälte abgeschreckt worden, hatte den Schein der sogenannten multikulturellen Gesellschaft erkannt.
In abendländischen Medien wurden Migranten als hilfsbedürftige, defizitäre und pathologische Individuen beschrieben, die von ihrer Doppellast von zwei Kulturen befreit werden müssten.
Auf dem Markt grüßte ihn ein Arbeitskollege, scheißfreundlich, falsch, ein richtiger Arschkriecher.
Schöne Ferien hatte man ihm gestern gewünscht.
Das Gedränge wurde immer größer, überall Menschen, die verkauften und kauften, Blumen, Obst und Gemüse, Gewürze, Töpfe aus Ton.
Es war Samstag.
Er dachte an seine Eltern und Geschwister, sie waren tot, irrtümlich war ihr Haus von einer Bombe getroffen worden, wie es hieß.
Sein Vater war Bauer gewesen, er und seine Mutter hatten sich abgerackert, auf dem Land hatten sie bescheiden gelebt, was in den Städten passierte, davon hatten sie kaum etwas mitbekommen.
Ein paar Schafe und Ziegen hatten sie gehabt, Olivenbäume und einen kleinen Hund.
Aber plötzlich waren Flugzeuge über sie geflogen, zum ersten Mal hatte er Panzer vorbeifahren gesehen, Männer in Uniform aus anderen Ländern waren gekommen und geblieben, zuerst Russen, dann Amerikaner, auch andere Nationen, auch Deutsche.
Er drängte sich durch die Menschenmassen, war jetzt etwa in der Mitte des Marktes. Zwei Polisten liefen an ihm vorbei, sahen ihn kurz an, gingen weiter.
Er griff unter seinen Mantel und fasste die Schnur an.
Ihm wurde erst jetzt richtig bewusst, was er da machen wollte; seine Sicherheit verlor sich ein wenig, er versuchte sich zu beruhigen.
Für seine Familie würde gesorgt werden, sie würden Deutschland verlassen.
Er war jetzt und hier im Einsatz, im Dschihad, im Einsatz für die Sache Gottes.
Ihm waren in der letzten Nacht nicht die beiden Grabesengel erschienen, hatten ihn nicht über seinen Glauben befragt; er würde direkt ins Paradies eingehen.
Er tauschte dieses diesseitige Leben für ein jenseitiges ein, damit die nach ihm kamen, sich nicht mehr fürchten , nicht mehr trauern müssten.
Sein Studium hatte man finanziert, ein Auserwählter war er jetzt, ein Schläfer war er geworden, jederzeit einsatzbereit.
Alles begann sich um ihn herum zu drehen, zu kreisen, er stand im Mittelpunkt, hörte Geräusche, Verkehrslärm, Stimmen, als hätte er Wasser in den Ohren.
Er schaute sich noch einmal um und zog an der Schnur, alles würde zu Ende sein.
Und dann sah er seine Frau und seinen Sohn, sie kamen ihm entgegen, winkten, waren fast bei ihm.
Er versuchte noch, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen und wusste, dass die Zeit dafür nicht mehr ausreichen würde, er konnte sie nicht anhalten.
„Halt die Zeit an“, hatte einmal eine Frau vor vielen Jahren zu ihm gesagt, die ihn sehr geliebt hatte, „bitte halt die Zeit an“, aber er konnte sie damals nicht anhalten.
Es war schon gegen Mittag. Lange hatte er nicht einschlafen können, später als sonst war er aufgewacht, hatte gegen die Decke geschaut, das Zimmer angesehen, als wenn er es nie vorher gesehen hätte oder niemals wieder sehen würde.
Da an der Wand stand das Regal, das er selbst gemacht hatte, voller Bücher. Viele hatte er gelesen.
Er hatte nie verstanden, wie eine Kultur, in der die Schrift, die Mathematik entstanden war, die die Welt über Jahrhunderte beeinflusst und geformt hatte, in Bedeutungslosigkeit versunken war.
Er stand langsam auf, wusch sich und zog sich so an, als würde er zu einem Fest gehen.
Als er in die Küche kam, sah er seine Frau, sie bereitete das Mittagessen vor. Sein Sohn spielte in einer Ecke mit einem Feuerwehrauto.
Sie brachte ihm Kaffee.
Wie schön sie war!
Ja, zum Mittagessen würde er wieder zurück sein.
Er verabschiedete sich, umarmte seinen Sohn und seine Frau, wollte noch etwas sagen, ließ es aber dann.
Er stieg die schmale Treppe aus dem zweiten Stock hinunter, die letzte Stufe müsste einmal ausgebessert werden, dachte er.
Als er aus der Haustür kam, blendete ihn Licht, er konnte zunächst nur Schatten erkennen.
Die alte Frau aus dem dritten Stock kam ihm entgegen, grüßte ihn, aber er bemerkte sie nicht; sie schüttelte den Kopf und schaute ihm nach.
Er ging in Richtung Wochenmarkt, ging an Geschäften vorbei, hier war er oft zur U-Bahn gegangen, zur Arbeit gefahren, aber heute war alles anders, er sah alles wie durch einen Nebel, alles unscharf, alles bewegte sich wie in Zeitlupe, als wenn sich die Zeit gedehnt hätte.
Leute schauten ihn an, und er sah in ihren Gesichtern, was sie dachten. Für ihn, der Araber war und auch wie ein Araber aussah, war das Leben hier schwieriger geworden.
Patienten wunderten sich, einen Arzt zu sehen, der Ausländer, Araber, war, sie hatten gedacht, „dass die alle bei der Müllabfuhr arbeiten würden“.
Sie schauten ihn misstrauisch an.
Typisch deutsche Vorstellungen, alle Schwarzen sitzen im Urwald auf Bäumen und trommeln, alle Araber sind Händler, betrügen oder sind Terroristen, dachte er.
Jetzt war sein Chef in Pension gegangen, ihn hatte man übergangen, ein jüngerer Deutscher war sein Vorgesetzter geworden. Das hatte ihn nicht sonderlich überrascht. Er hatte eigentlich nichts anderes erwartet.
Anfänglich hatte er sich in eine neue Kultur integrieren wollen, hatte die Sprache gelernt, versucht, sich anzupassen, war dann aber durch die herrschende Überheblichkeit und soziale Kälte abgeschreckt worden, hatte den Schein der sogenannten multikulturellen Gesellschaft erkannt.
In abendländischen Medien wurden Migranten als hilfsbedürftige, defizitäre und pathologische Individuen beschrieben, die von ihrer Doppellast von zwei Kulturen befreit werden müssten.
Auf dem Markt grüßte ihn ein Arbeitskollege, scheißfreundlich, falsch, ein richtiger Arschkriecher.
Schöne Ferien hatte man ihm gestern gewünscht.
Das Gedränge wurde immer größer, überall Menschen, die verkauften und kauften, Blumen, Obst und Gemüse, Gewürze, Töpfe aus Ton.
Es war Samstag.
Er dachte an seine Eltern und Geschwister, sie waren tot, irrtümlich war ihr Haus von einer Bombe getroffen worden, wie es hieß.
Sein Vater war Bauer gewesen, er und seine Mutter hatten sich abgerackert, auf dem Land hatten sie bescheiden gelebt, was in den Städten passierte, davon hatten sie kaum etwas mitbekommen.
Ein paar Schafe und Ziegen hatten sie gehabt, Olivenbäume und einen kleinen Hund.
Aber plötzlich waren Flugzeuge über sie geflogen, zum ersten Mal hatte er Panzer vorbeifahren gesehen, Männer in Uniform aus anderen Ländern waren gekommen und geblieben, zuerst Russen, dann Amerikaner, auch andere Nationen, auch Deutsche.
Er drängte sich durch die Menschenmassen, war jetzt etwa in der Mitte des Marktes. Zwei Polisten liefen an ihm vorbei, sahen ihn kurz an, gingen weiter.
Er griff unter seinen Mantel und fasste die Schnur an.
Ihm wurde erst jetzt richtig bewusst, was er da machen wollte; seine Sicherheit verlor sich ein wenig, er versuchte sich zu beruhigen.
Für seine Familie würde gesorgt werden, sie würden Deutschland verlassen.
Er war jetzt und hier im Einsatz, im Dschihad, im Einsatz für die Sache Gottes.
Ihm waren in der letzten Nacht nicht die beiden Grabesengel erschienen, hatten ihn nicht über seinen Glauben befragt; er würde direkt ins Paradies eingehen.
Er tauschte dieses diesseitige Leben für ein jenseitiges ein, damit die nach ihm kamen, sich nicht mehr fürchten , nicht mehr trauern müssten.
Sein Studium hatte man finanziert, ein Auserwählter war er jetzt, ein Schläfer war er geworden, jederzeit einsatzbereit.
Alles begann sich um ihn herum zu drehen, zu kreisen, er stand im Mittelpunkt, hörte Geräusche, Verkehrslärm, Stimmen, als hätte er Wasser in den Ohren.
Er schaute sich noch einmal um und zog an der Schnur, alles würde zu Ende sein.
Und dann sah er seine Frau und seinen Sohn, sie kamen ihm entgegen, winkten, waren fast bei ihm.
Er versuchte noch, in die entgegengesetzte Richtung zu rennen und wusste, dass die Zeit dafür nicht mehr ausreichen würde, er konnte sie nicht anhalten.