Intermezzo auf Samtpfoten

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Zoepfer

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Alles war anders geworden in diesem Sommer. Ich hatte das kleine Unternehmen, das ich vor fast 20 Jahren mit gegründet hatte, meine Familie und mein Haus im östlichen Ruhrgebiet zurück gelassen und war an den Bodensee aufgebrochen – buchstäblich „zu neuen Ufern“. Neben meiner Frau und den Töchtern waren auch unsere Haustiere daheim geblieben, der Collie-Mix Boris und unsere beiden Katzen Mandy und Kira.
Weil ich nicht wusste, wie sich meine erste Festanstellung seit sehr vielen Jahren entwickeln würde, hatte ich mich entschlossen, mir zunächst keine Wohnung zu nehmen, sondern einen unserer Oldtimer-Wohnwagen als Quartier zu nutzen. Damit stellte ich mich in der Nähe meines künftigen Arbeitsortes vorläufig auf einen Waldparkplatz.
In den folgenden Tagen gab es so viel Neues zu erfahren und zu lernen, dass ich auch am Feierabend kaum Gelegenheit hatte, mir meines Alleinseins bewusst zu werden. Doch nach recht kurzer Zeit begann ich, mich nach lebendiger Gesellschaft zu sehnen. Doch keines unserer aktuellen Haustiere war das Leben im Wohnwagen gewöhnt – die Katzen sowieso nicht, und Boris hatte bereits bei unserem ersten gemeinsamen Camping-Oldtimertreffen gezeigt, dass er nichts davon hielt, in dem Caravan für längere Zeit allein zurück gelassen zu werden.
Es muss am Dienstag in meiner zweiten Woche auf jenem Parkplatz gewesen sein, als ich, kaum dass ich nach der Arbeit aus dem Auto gestiegen war, im angrenzenden Waldstück hinter meinem Wohnwagen ein klagendes Maunzen hörte. Ich setzte mich sofort in die entsprechende Richtung in Bewegung
„Ja, wo bist du denn?“ fragte ich ins Unterholz hinein. „Komm zu mir!“ Und schon erschien aus dem dichten Gesträuch ein grau getigertes Kätzchen. Es schien noch ziemlich jung zu sein, stammte wohl aus dem jüngst vergangenen Frühjahr. Das Tierchen kam ohne Zögern auf mich zu und strich mir um die Beine. Es sah ziemlich dünn aus, das Fell war struppig.
„Na, du bist mir ja eine Flocke!“ Ich beugte mich hinunter, um das Kätzchen zu streicheln, und spürte dabei die Rippen, die durch sein Fell stachen.
„Du hast doch bestimmt Hunger! Komm mal mit!“ Daraufhin folgte mir das Tier ohne Zögern zum Wohnwagen.
Nun war ich auf tierischen Besuch nicht eingerichtet und hatte deshalb auch kein Futter greifbar. Also inspizierte ich den Inhalt meines kleinen Kühlschranks. Eine Scheibe Schinken und etwas Käse mussten vorerst genügen. Das Kätzchen fiel mit Heißhunger über die Gabe her, kaum dass ich sie ihm auf einer Untertasse hingestellt hatte. Danach kam die Katze zu mir auf die Sitzbank neben der Küchenzeile und ließ sich streicheln. Ihr Schnurren zeigte mir, dass sie sich wohl fühlte. Einige Zeit später allerdings sprang sie von der Bank und begann, nach einem Ausgang zu suchen.
Weil ich sie nicht gegen ihren Willen festhalten wollte, hob ich das Gitter von dem Kehrloch vor der Eingangstür des Wohnwagens ab und zeigte ihr, dass sie dort hinaus schlüpfen konnte. Weg war sie…
An diesem Abend sah ich das Tier nicht wieder. Ich las noch eine Weile, ging dann aber zu Bett und löschte schließlich das Licht, denn am Morgen musste ich früh aufstehen. Irgendwann in der Nacht weckte mich eine ungewohnte Bewegung neben mir, und ich hörte leises Schnurren. Flocke, wie ich die Katze inzwischen nannte, war zurück.
Am Morgen verließ Flocke mit mir den Wohnwagen und verschwand im Wald. Als ich sie nach meiner Rückkehr von der Arbeit rief, kam sie sofort aus einem nahen Gebüsch angelaufen und freute sich augenscheinlich, mich wieder zu sehen. Ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte!
Inzwischen hatte ich sowohl Trockenfutter als auch Weichfutter in Dosen besorgt und auch Katzenstreu gekauft, um dem Kätzchen eine Toilette aus einem flachen Pappkarton und einem hinein gelegten Müllbeutel zu bereiten. Schließlich sollte sich meine neue Mitbewohnerin wohl fühlen und nicht gezwungen sein, bei Sauwetter ihr Geschäft draußen verrichten zu müssen.
An diesem Abend leistete mir Flocke Gesellschaft, verließ aber irgendwann in der Nacht den Wohnwagen. Auch am Morgen, bevor ich zur Arbeit aufbrach, ließ sie sich nicht blicken. Ich begann mich bereits um sie zu sorgen, doch das war zu diesem Zeitpunkt völlig unbegründet. Als ich nach Feierabend zu meinem mobilen Domizil zurückkehrte, erwartete Flocke mich bereits, auf dem Polster der Sitzgruppe liegend, zusammen gerollt wie ein grauschwarzes Kissen. Nachdem ich sie gefüttert hatte, forderte sie ihre Streicheleinheiten ein und putzte sich ausgiebig. Schließlich wollte die Katze nach draußen. Ich folgte ihr, weil mich natürlich interessierte, ob sie nicht doch ein Zuhause hatte. Doch Flocke blieb in der Nähe, und so machte ich mich zu Fuß zu der alten Mühle im Tal unterhalb des Parkplatzes auf. Das war das einzige bewohnte Gebäude im weiten Umkreis, aber dort kannte oder vermisste niemand ein grau-schwarzes Kätzchen. Flockes Herkunft blieb also im Dunklen.
Dann kam das Wochenende, und damit stellte sich die Frage, was mit meiner vierpfotigen Mitbewohnerin geschehen sollte, während ich mehr als 600 Kilometer weit heim zu meiner Familie fuhr. Sie zweieinhalb Tage lang allein zu lassen, erschien mir nach der kurzen Zeit nicht sinnvoll. Einen Transportkorb besaß ich nicht, aber ein Katzengeschirr samt Leine fand sich noch im Wohnwagen – eine Hinterlassenschaft unseres ehemaligen „Reisekaters“ Balou, der uns jahrelang zu Oldtimer-Campingtreffen und in den Urlaub begleitet hatte. Dieses Geschirr ließ sich Flocke widerstandslos umlegen. Als ich sie am Freitag Nachmittag ins Auto trug, nahm sie auch das gleichmütig hin. Das Kätzchen rollte sich sofort unter dem Beifahrersitz zusammen und verschlief die komplette Fahrt nach Norden.
Zuhause machte Flocke ebenfalls wenig Schwierigkeiten. Sie erwies sich als verträglich mit unseren vierbeinigen Hausgenossen und verärgerte lediglich unsere rote Mandy dadurch, dass sie darauf bestand, in meinem Bett zu nächtigen – was unsere rote alte Dame seit langem als ihr eigenes Privileg betrachtet. Auf der Rückfahrt am Sonntag Nachmittag war Flocke genau so unauffällig wie zwei Tage zuvor.
Am Montag war wieder alles wie inzwischen gewohnt. Flocke benahm sich, als wären wir überhaupt nicht unterwegs gewesen. Sie schien den Wohnwagen als ihr Zuhause und mich als ihre Bezugsperson vollkommen akzeptiert zu haben. Ich freute mich sehr, dass mir das Schicksal eine so unkomplizierte vierbeinige Gefährtin gebracht hatte.
Doch es sollte alles anders kommen. Am Dienstag Morgen verließen Flocke und ich gemeinsam den Wohnwagen. Ich hatte mich inzwischen um einen dauerhaften Stellplatz bemüht und war in direkter Umgebung meines neuen Arbeitgebers fündig geworden. Im Laufe der Woche wollte ich umsiedeln. Als ich am Dienstag nach der Arbeit zum Wohnwagen zurück kehrte, war Flocke nicht zu sehen. Sie kam auch nicht, als ich sie rief, weder sofort noch später am Abend. Auch in der Nacht blieb sie aus. Traurig und besorgt führ ich am nächsten Morgen zur Arbeit. Nach meiner Rückkehr begann ich erneut, nach Flocke zu suchen – leider ohne Erfolg. Das Einzige, das ich fand, war ein Haufen Katzenstreu hinter einem Baum am Parkplatz.
Daraus entstand bei mir die Vermutung, dass Camper auf der Heimreise, die selbst eine Katze dabei hatten, Flocke entdeckt und für herrenlos gehalten haben mussten. Vermutlich haben sie meine kleine Gefährtin in dem Glauben mitgenommen, etwas Gutes zu tun. Jedenfalls habe ich sie nie wieder gesehen.
Obwohl sie nur eine Woche lang ihr Leben mit mir geteilt hat, hat diese Katze eine Spur in meinem Herzen hinterlassen. Ich denke noch des öfteren an meine Flocke und hoffe, es ist ihr gut ergangen – wohin auch immer das Schicksal sie verschlagen haben mag!
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Schnief

Als Liebhaber von schnurrenden Herausforderungen aller Art habe ich deine kleine Geschichte mit großem Interesse und noch größerer Anteilnahme gelesen. Kätzchen sind ja geradezu prädestiniert für Geschichten, die sich leicht und spannend erzählen lassen.

Machen wir es kurz:

Schreibstil: verständlich und sauber.
Story: gut nachvollziehbar, mit leichter Tendenz zur Durchschaubarkeit.
Pointe: traurig, aber hoffnungsgebend.
Vorlesepotential: für kleine Kinder ab 8, große Kinder ab 80 und Erwachsene, die noch unverroht und sensibel auch die kleinen Dramen des Alltags genießen können.

Fazit: Durchaus gelungen – mein Kompliment

Grüße vom Ironbiber
 



 
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