Irgendwas fehlt immer

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HelenaSofie

Mitglied
Manchmal fehlt etwas

Meiner Schwester fehlt Eisen. Oma hatte das festgestellt. Seitdem gab es einmal in der Woche Spinat. Ich mochte den grünen Matsch nicht, musste ihn aber essen. Was für meine Schwester gut sei, das würde mir auch nicht schaden, bestimmte Oma. Von da an zerdrückte ich an den Spinattagen zunächst einmal die Kartoffeln auf meinem Teller. Dann mengte ich den Spinat darunter. Jetzt schmeckte er nicht mehr so bitter und war auch nicht mehr grasgrün.
Einige Zeit später fehlte meiner Mutter Eiweiß. Das hatte der Hausarzt festgestellt und nicht die Oma. Wieder wurde der Essensplan etwas umgestellt. Zum Frühstück gab es nun für jeden zusätzlich ein Glas Milch und etwas Quark. Nachdem ich mehrmals vergeblich versucht hatte, meine Milch heimlich ins Spülbecken zu schütten, gab ich es auf und trank jedes Mal das Glas mit geschlossenen Augen in einem Zuge aus.

Im Spinat war dann wohl doch nicht genug Eisen, denn meiner Schwester fehlte immer noch etwas davon und Mutter hatte auch noch nicht genug Eiweiß. Deshalb wurde der Speiseplan noch einmal überarbeitet. Jeden Freitag gab es nun Eier in Senfsoße, Rote Bete und Salzkartoffeln. Rote Bete wegen dem Eisen und Eier wegen Eiweiß. So hatten beide etwas davon.
Der erste Tag mit Eier in Senfsoße war für mich noch schlimmer als der Spinattag. Zuerst nahm sich jeder Kartoffeln und dann ein Ei mit etwas Senfsoße auf den Teller. Alles war noch in Ordnung. Aber dann kam Rote Bete dazu. Man konnte sich anstrengen wie man wollte, immer hatte man neben den roten Scheiben auch noch rote Brühe auf dem Teller. Und dann ging es los. Zuerst waren es nur feine rote Bahnen in der weißgelben Senfsoße. Aber mit jeder Gabelfüllung vermengte sich das Ganze immer mehr und es entstand eine rosafarbene Creme auf dem Teller. Ich mochte eine solche rosa Creme, die an Himbeerpudding erinnerte, aber ganz anders schmeckte, nicht auf meinem Teller haben. Ich musste etwas unternehmen. Mein Vorschlag, die Rote Bete in einem Sieb unter dem Wasserhahn abzuspülen und dann mit Haushaltsrolle abzutrocknen, fand bei meiner Mutter keinen Anklang. Also änderte ich meine Vorgehensweise und konzentrierte mich auf meinen Teller. Ich nahm mir zuerst Kartoffeln, zerdrückte diese und baute mit dem Brei eine breite Mauer quer über den Teller. Auf die eine Seite kam nun das Ei mit der Senfsoße, auf die andere die Rote Bete. Dann aß ich zuerst das Ei mit etwas zerdrückter Kartoffel, dann die Rote Bete genau so. Ich machte das vorsichtig, denn die Mauer musste ja dicht bleiben. Die Kartoffeln am Schluss pur zu essen, war zwar etwas trocken, aber es ging. Seitdem esse ich aber keinen Himbeerpudding mehr.
Längere Zeit blieb der Speiseplan nun unverändert und ich hatte mich schon daran gewöhnt.

Aber dann musste doch noch etwas Neues festgestellt werden und das auch noch in einem ganz ungünstigen Moment. Es war kurz vor Weihnachten. Ich war gerade dabei, in Mutters Schlafzimmer den Schrank zu öffnen, in dem gewöhnlich die Weihnachtsgeschenke versteckt waren, um mich von deren Vorhandensein zu überzeugen, als Mutter im Türrahmen stand.
„Dir fehlt Geduld, du hast zu wenig Geduld.“ Ausgerechnet vor Weihnachten musste sie das feststellen. Wie weggeblasen war meine Weihnachtsvorfreude. Ich sah schon wieder eine Änderung im Essensplan voraus und das würde, wie ich ja aus Erfahrung wusste, nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich ist in Rotkohl und Rosenkohl nicht viel Geduld! Das war in den folgenden Tagen mein einziger Wunsch. Es tat sich aber nichts. Keine Änderung im Essensplan. Hatte Mutter vergessen, dass ich nicht genug Geduld habe? War es doch nicht so schlimm oder gab es kein Mittel dafür? Ich tat aber nichts, um sie an meinen Geduldmangel zu erinnern.

Nach Weihnachten kam unsere Nachbarin mit ihrer Tochter zum Kaffeetrinken. Ich spielte mit den beiden Mädchen Mensch ärgere dich nicht. Die zwei brauchten immer so lange, bis sie wussten, mit welchem Stein sie rücken sollten. Deshalb riet ich den beiden zu etwas mehr Beeilung. Da hörte ich meine Mutter zur Nachbarin sagen: „Dem Jungen fehlt Geduld. Er hat zu wenig Geduld.“
Das hatte gerade noch gefehlt. Die ganze Zeit hatte Mutter nichts dagegen unternommen und dann spricht sie einfach mit wildfremden Leuten, die das überhaupt nichts angeht, darüber.
Am nächsten Tag erzählte ich dafür dem verdutzten Briefträger, dass sie zu wenig Eiweiß hat.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Und warum schreibt man sowas anonym? Darauf kann, darf, nein muss man stolz sein!
Die Geschichte startet stark, ist gut aufgebaut, kein bisschen zu knapp oder zu ausschweifend beschrieben, das Kopfkino springt an und die Schlusspointe ist so doof, dass die schon wieder gut ist.

Gruss

Jürgen

P.S.: Ich fürchte, sie ist autobiographisch, aber auch da sehe ich keinen Grund zur Scham. Namentlich einstellen und den verdienten Ruhm einfahren!
 

HelenaSofie

Mitglied
Manchmal fehlt etwas

Hallo Jürgen,

du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich mich über deinen Kommentar gefreut habe!
Bisher habe ich ganz andere Geschichten geschrieben. Diesen Text hier habe ich mir in Humor und Satire vorgestellt. Da er aber der erste in dieser Richtung für mich ist, war ich sehr, sehr unsicher.

Danke und liebe Grüße
A
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
Gern geschehen, da sind aber auch kleine Perlen des Humors drin, wie z.B.: "Einige Zeit später fehlte meiner Mutter Eiweiß. Das hatte der Hausarzt festgestellt und nicht die Oma."... :D
 

HelenaSofie

Mitglied
Manchmal fehlt etwas

Ja, der Titel gefällt mir auch besser. Er passt gut zum ersten Satz und es stehen nicht M M untereinander. Ich werde den Text wahrscheinlich in Humor und Satire einstellen lassen.

Danke!
 

HelenaSofie

Mitglied
Irgendwas fehlt immer

Meiner Schwester fehlt Eisen. Oma hatte das festgestellt. Seitdem gab es einmal in der Woche Spinat. Ich mochte den grünen Matsch nicht, musste ihn aber essen. Was für meine Schwester gut sei, das würde mir auch nicht schaden, bestimmte Oma. Von da an zerdrückte ich an den Spinattagen zunächst einmal die Kartoffeln auf meinem Teller. Dann mengte ich den Spinat darunter. Jetzt schmeckte er nicht mehr so bitter und war auch nicht mehr grasgrün.
Einige Zeit später fehlte meiner Mutter Eiweiß. Das hatte der Hausarzt festgestellt und nicht die Oma. Wieder wurde der Essensplan etwas umgestellt. Zum Frühstück gab es nun für jeden zusätzlich ein Glas Milch und etwas Quark. Nachdem ich mehrmals vergeblich versucht hatte, meine Milch heimlich ins Spülbecken zu schütten, gab ich es auf und trank jedes Mal das Glas mit geschlossenen Augen in einem Zuge aus.

Im Spinat war dann wohl doch nicht genug Eisen, denn meiner Schwester fehlte immer noch etwas davon und Mutter hatte auch noch nicht genug Eiweiß. Deshalb wurde der Speiseplan noch einmal überarbeitet. Jeden Freitag gab es nun Eier in Senfsoße, Rote Bete und Salzkartoffeln. Rote Bete wegen dem Eisen und Eier wegen Eiweiß. So hatten beide etwas davon.
Der erste Tag mit Eier in Senfsoße war für mich noch schlimmer als der Spinattag. Zuerst nahm sich jeder Kartoffeln und dann ein Ei mit etwas Senfsoße auf den Teller. Alles war noch in Ordnung. Aber dann kam Rote Bete dazu. Man konnte sich anstrengen wie man wollte, immer hatte man neben den roten Scheiben auch noch rote Brühe auf dem Teller. Und dann ging es los. Zuerst waren es nur feine rote Bahnen in der weißgelben Senfsoße. Aber mit jeder Gabelfüllung vermengte sich das Ganze immer mehr und es entstand eine rosafarbene Creme auf dem Teller. Ich mochte eine solche rosa Creme, die an Himbeerpudding erinnerte, aber ganz anders schmeckte, nicht auf meinem Teller haben. Ich musste etwas unternehmen. Mein Vorschlag, die Rote Bete in einem Sieb unter dem Wasserhahn abzuspülen und dann mit Haushaltsrolle abzutrocknen, fand bei meiner Mutter keinen Anklang. Also änderte ich meine Vorgehensweise und konzentrierte mich auf meinen Teller. Ich nahm mir zuerst Kartoffeln, zerdrückte diese und baute mit dem Brei eine breite Mauer quer über den Teller. Auf die eine Seite kam nun das Ei mit der Senfsoße, auf die andere die Rote Bete. Dann aß ich zuerst das Ei mit etwas zerdrückter Kartoffel, dann die Rote Bete genau so. Ich machte das vorsichtig, denn die Mauer musste ja dicht bleiben. Die Kartoffeln am Schluss pur zu essen, war zwar etwas trocken, aber es ging. Seitdem esse ich aber keinen Himbeerpudding mehr.
Längere Zeit blieb der Speiseplan nun unverändert und ich hatte mich schon daran gewöhnt.

Aber dann musste doch noch etwas Neues festgestellt werden und das auch noch in einem ganz ungünstigen Moment. Es war kurz vor Weihnachten. Ich war gerade dabei, in Mutters Schlafzimmer den Schrank zu öffnen, in dem gewöhnlich die Weihnachtsgeschenke versteckt waren, um mich von deren Vorhandensein zu überzeugen, als Mutter im Türrahmen stand.
„Dir fehlt Geduld, du hast zu wenig Geduld.“ Ausgerechnet vor Weihnachten musste sie das feststellen. Wie weggeblasen war meine Weihnachtsvorfreude. Ich sah schon wieder eine Änderung im Essensplan voraus und das würde, wie ich ja aus Erfahrung wusste, nichts Gutes bedeuten. Hoffentlich ist in Rotkohl und Rosenkohl nicht viel Geduld! Das war in den folgenden Tagen mein einziger Wunsch. Es tat sich aber nichts. Keine Änderung im Essensplan. Hatte Mutter vergessen, dass ich nicht genug Geduld habe? War es doch nicht so schlimm oder gab es kein Mittel dafür? Ich tat aber nichts, um sie an meinen Geduldmangel zu erinnern.

Nach Weihnachten kam unsere Nachbarin mit ihrer Tochter zum Kaffeetrinken. Ich spielte mit den beiden Mädchen Mensch ärgere dich nicht. Die zwei brauchten immer so lange, bis sie wussten, mit welchem Stein sie rücken sollten. Deshalb riet ich den beiden zu etwas mehr Beeilung. Da hörte ich meine Mutter zur Nachbarin sagen: „Dem Jungen fehlt Geduld. Er hat zu wenig Geduld.“
Das hatte gerade noch gefehlt. Die ganze Zeit hatte Mutter nichts dagegen unternommen und dann spricht sie einfach mit wildfremden Leuten, die das überhaupt nichts angeht, darüber.
Am nächsten Tag erzählte ich dafür dem verdutzten Briefträger, dass sie zu wenig Eiweiß hat.
 

JoteS

Foren-Redakteur
Teammitglied
...aber Vorsicht, vielleicht begeistert der Text mich nur deshalb so, weil er Kindheitserinnerungen in mir wachruft (z.B. die, in der meine Schwester nach ausgiebigem Genuss von Rote Bete gaaaanz dringend musste und hinter Nachbars Garage einen tiefroten Kegel setzte :D ).

Nein, mir gefällt die lustig-nüchterne und präzise Beschreibung der Essrituale. Die ist einfach gelungen und sehr sehr lustig.

Gruss

Jürgen
 

HelenaSofie

Mitglied
Manchmal fehlt etwas

anbas,
danke fürs Lesen und deine Bewertung

Ich frage mich, was mit den Bewertungen und den Kommentaren geschieht,wenn ich den Text in Humor und Satire einstelle?
Eine kurze Antwort würde mir bei der Entscheidung sehr helfen.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
jap, Technik oder Zeder können das. Text und Kommentare bleiben erhalten, nur der Anonymus-Name wird ersetzt.
 

knychen

Mitglied
sauber!
alles, was ich sagen könnte, steht schon weiter oben.
nur den nickname "anonymus" find ich unpassend.
gruß aus berlin.
knychen
 

HelenaSofie

Mitglied
Ciconia,
danke fürs Bewerten und einen lieben Gruß

molly,
dir auch ein schönes erstes Herbstwochenende mit viel Sonnenstrahlen.
Habe mich gefreut!

HelenaSofie
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hehe, das ist gut! Schön hintergründig und mit verstecktem Witz. Natürlich ruft der Text Kindheitserinnerungen wach und sogar heutige...aber Du hast alles in eine nahezu perfekte Form gebracht. Plus Seitenhieben auf Mutter und Oma.
(Was koche ich heute? Grübel....)
Very amused grüßt Doc
 

HelenaSofie

Mitglied
Hallo herziblatti,
hallo anbas,

freut mich sehr, dass ihr den Text entdeckt und so bewertet habt.


anonym,

danke fürs Lesen und Bewerten

Liebe Grüße an euch
HelenaSofie
 

HelenaSofie

Mitglied
Liebe Doc,

große Freude über deinen Kommentar und die Bewertung. Danke. Für mich ist "Humor und Satire" Neuland und daher ein ziemliches Wagnis gewesen.
Deshalb freue ich mich so, dass der Text gut angekommen ist.

Herzliche Grüße
HelenaSofie
 



 
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