Irina

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Mondfrau

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Irina

Meine Vorurteile rissen mich mit, als ich sie das erste Mal sah. Schöne Frau - Konkurrenz, laute Frau - was für ein Benehmen! Duzte mich gleich, ich duzte zurück. Von oben bis unten tätowiert, blaue runde Augen blickten aus rundem Gesicht.

Die erste Unterhaltung drehte sich um Gesichtsenthaarung und Zahnpflege. Wir zeigten uns gegenseitig die Zähne und die enthaarten Oberlippen.

„Wie alt bist du?“ fragte sie.
„42, und du?“
„40“
„Hast du Kinder?“
„Nein, ich hab´ ´nen Hund.“
„Ich habe drei Kinder, schon groß, ab 40 fängt das Leben neu an.“
„Hab´ meinen Kerl einen Tag vor meinem vierzigsten Geburtstag rausgeschmissen, ging mir auf die Nerven. Ich hab´ im Garten geackert, drei Teiche gesäubert, einen Holzschuppen abgerissen, während er nur zierlich in sein Notebook tippte.“
„Richtig so, fang neu an!“
„Bin seit 2000 Rentnerin. Hatte ´ne schwere Bandscheiben-OP, war drei Monate im Rollstuhl. Musste erst wieder lernen zu laufen. Hab´ damals in Weissensee gewohnt, im Krankenhaus Friedrichshain haben sie mich operiert. Musste täglich meine Mutter rufen, weil ich nicht alleine klar kam. Jetzt sind wir ´raus aufs Land gezogen, ich habe in Eberswalde eine Heilpraktikerin kennen gelernt. Die hat mir alles über Kräuter beigebracht. Ich sag dir, das Johanneskrautöl hat mich geheilt. Mein Vater hat seit Kindertagen ein Furunkel am Nacken. Kennst du Beinwell? Das sind so runde Blätter. Die glatte Seite heilt, die Unterseite zieht raus.
Mein Vater sollte operiert werden, mit Beinwell wurde alles rausgezogen, sogar der Chirurg war begeistert.“
„O. K. Ich habe auch Kräuter im Garten: Tymian, Salbei, roter Sonnenhut und Minze. Kennst du türkische Joghurtsuppe mit Minze? Zwei Liter Brühe mit etwas Reis kochen, 250 Gramm Joghurt mit drei Eigelb verrühren, in die Suppe geben. Minze klein hacken, in Butter braten, über die Suppe geben.“
„Ich liebe Minze, ich wollte immer eine in meinem Garten haben, genauso wie Frauenmantel. Meine Heilpraktikerin hat immer gesagt, die Kräuter, die der Mensch braucht, werden ihn finden. Auf einmal hatte ich Minze und Frauenmantel im Garten. Sie hatten mich gefunden.
Ich war letztes Jahr in Grönland, ich möchte sofort wieder hin!“
„Ist doch kalt da, ich mag lieber die Wärme!“
„Du hast die Kälte nicht gespürt, es ist wunderbar mit ´nem Hundeschlitten über das Eis zu fahren. Die Menschen allerdings, die haben es nicht leicht dort. Stell´ dir vor, die Tochter unseres Hauswirtes muss für ihre Ausbildung nach Sao Paulo ziehen, ihr Bruder war in Paris. Viele haben Alkoholprobleme, es gibt keine Schamanen mehr, die Amtssprache ist dänisch, die Leute dort sprechen Ostgrönländisch, in der Schule wird Westgrönländisch gesprochen. Das kommt alles nur durch die Zwangschristianisierung. Sie haben Inuit die Köpfe abgeschlagen und auf Pfähle gespießt, um die Leute zu warnen, die nicht zum Christentum übertreten wollten. Ich hasse das Christentum, das soll Gott sein, hör´ bloß auf! Warte! Ich muss noch bezahlen, 35 Euro für die Lichtmaschine.“

Sie reicht mir das Geld, anschließend die Hand, drückt sie herzlich und sagt: „War schön mit dir!“ Ich sage artig: „Ich habe mich auch sehr gefreut.“ Mit einem Lächeln und einem Schwung wie ein Tornado rauscht sie hinaus.
 



 
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