Irrer Abend

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Bursch

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Es war eine Abfolge, ein Dreiklang, eine Sequenz von Überraschungen. Sich steigernd, in Vorgang drei kulminierend.
Bernhard mochte dieses "Herbst-City-Fest" nicht. Zwar gönnte er dem örtlichen Einzelhandel den Event, der ausschließlich der Umsatzsteigerung galt und die schlichte Kopie einer entsprechenden Veranstaltung des ungeliebten Nachbarorts darstellte. Schließlich war er selbst Unternehmer. Ansonsten aber war das Ganze ihm und seiner Frau einfach nur lästig.
Sie liebten ihre Citywohnung im vierten Stock. Fanden auch allezeit Parkplätze für ihre beiden Autos. Nur an den vermaledeiten fünf Tagen "City-Fest" nicht. Selbst die Seitenstraßen waren zugeparkt, Schausteller- und Händlergefährte allerorten, überhaupt ein einziger Rummel, den er auch an diesem Abend in Kauf nehmen musste auf seinem längeren Marsch.
Der Tag war nicht nur gut, er war blendend. Morgens rief ihn seine Tochter an: "Examen bestanden, Papa! Mit Auszeichnung!" Nachmittags kam die Auftragsbestätigung eines italienischen Geschäftspartners, die er sehnlichst erwartet hatte. Sie bedeutete fünf Monate Produktionsauslastung, er würde neue Leute einstellen müssen.
Bernhard hatte seine Frau informiert und sie aufgefordert, sich "in Schale zu werfen", es gehe am Abend außer der Reihe zum besten Italiener der Stadt, es gebe einiges zu feiern.
Vor lauter Prüfung des Großauftrags hatte er sich aber verspätet und sah sich nach quälerischer Parkplatzsuche gezwungen, zu hetzen durch den "City-Rummel".
Als er an einem Verkaufsstand mit Mützen und Schals wegen des Gedrängels seinen Schritt verlangsamen musste, blickte er nicht so genau hin, sondern foppte auf gut Glück den jungen Verkäufer hinter der Theke: "Na, für Ihr Angebot ist es ja doch wohl entschieden zu warm, wie?"
Rechts hinter ihm lachte jemand schallend. Er drehte sich um und hatte den echten Verkäufer vor sich. Der, den er von der Seite angesprochen hatte, konnte ihm nicht antworten. "Sie haben mit meiner Puppe gesprochen."
Tatsächlich stand dort, oder besser saß eine Schaufensterpuppe hinter der Theke, eine männliche, eine ohne Unterleib, die man auf eine Kiste platziert und mit Wollmütze und Schal drapiert hatte.
"Machen Sie sich keinen Kopf", forderte der reale Händler, "Sie sind heute bestimmt der fünfte, der drauf reinfällt. Ist mir doch mal was gelungen."
Leicht düpiert setzte Bernhard seinen drängelnden Weg fort, erreichte den kleinen Platz, von dem unter anderem seine Wohnstraße abzweigte. Er näherte sich dem großen Brunnen zur Rechten, dem man zwei Jahre zuvor unter reichlich Pomp die lebensgroße Bronzeplastik des ehemaligen Bürgermeisters Lenzen beigesellt hatte, da geschah Überraschung Nummer zwei. Man könnte auch von einem veritablen Schrecken sprechen, der ihn für Augenblicke erfasste.
Wieder hatte er nur oberflächlich hingesehen und wollte es nicht glauben: die Plastik war auf einmal lebendig.
Ein Straßenpantomime war von Kopf bis Fuß in bronzene Farbe getaucht, hatte sich fünf Meter von der tatsächlichen Gestalt aus Metall aufgebaut und narrte seit Stunden die Passanten.
"Verdammt!" entfuhr es Bernhard. "Das gibt's doch nicht!"
Was war denn los an diesem Abend?
Er erblickte den Wein- und Spirituosenstand am Beginn seiner Straße und beschloss, alle Verwirrung augenblicklich mit etwas Hochprozentigem weg zu spülen.
So seine Absicht. Und das Resultat?
Er ergreift sein Gläschen, nippt dran, zieht sich einige Schritte zurück zwischen besagten Wein- und dessen Nachbarstand und kippt das Getränk hinunter. Es tut ihm gut, er atmet tief durch. Bestellt vor Begeisterung ein zweites Gläschen, zieht sich wieder zurück, lässt sich diesmal Zeit.
Auf der Staßenseite gegenüber steht eine Verlosung. Keine von den großen, die hätte hier keinen Platz gefunden. Eine der kleineren, bescheideneren Sorte. Immerhin ist allerlei Plüschtier im Angebot, kleines, aber auch großes. Bären, Pokemons, Löwen. Sowie, beinahe lebensgroß, Tiger. Drei weiße Tiger. Prächtig nebeneinander gereiht, würdig, fast majestätisch. Der Hauptgewinn.
Bernhard hebt sein Glas und prostet den dreien ironisch zu, wie wenn sie es nachvollziehen könnten, wie wenn sie ihn sähen. Da geschieht es. Der in der Mitte mutiert ganz unvermittelt von totem Stoff zu Leben.
Bernhard traut seinen Augen nicht, er blickt sein geleertes zweites Glas an. Was hat man ihm da reingekippt? Er blickt wieder über die Straße: keine Frage, das Vieh hat gerade, kaum merklich zwar, aber doch sein Haupt gewendet und richtet seine Augen auf ihn. Findet ihn aber offensichtlich wenig aufregend und beginnt, sich nach Katzenart die rechte Pfote zu lecken. Abendtoilette, denkt Bernhard. Sowie: er kann doch hier unmöglich der einzige sein, der das alles wahrnimmt.
Ist er auch nicht. Zwei junge Mädchen, die gerade dabei waren, ihre Lose auf möglichen Gewinn hin abzuklopfen, werfen schreiend die erworbenen Zettelchen von sich und vollführen einen hysterischen Slalom durch die Menge.
Das war die Einleitung. Zu einer Panik, die das beschauliche Mittelstädtchen in Jahrhunderten so nicht erlebt hatte. Kreischende Jung- und ältere Damen, kopflose Herren, zuvörderst die vom Verlosungsstand selbst, Bedienpersonal sämtlicher umliegender Verkaufsstände, die halbe Stadt in Aufruhr. Beobachter in umliegenden Fenstern trugen das Ihre bei sowie mit dem Handy fuchtelnde Hysteriker auf Balkonen.
Nur einer war die Ruhe selbst: Bernhard. Griff eigenmächtig zu einer der Cognacflaschen im menschenleer gewordenen Verkaufsstand und genehmigte sich die Nummer drei. Prostete erneut dem weißen Tiger zu und hielt Zwiesprache mit ihm. Lautlos, aber intensiv.
Natürlich ließ auch das Tier sich nicht aus der Ruhe bringen, es scherte sich nicht um die Albernheiten reihum. Was seinen Unmut erregte, war sein rechter Vordertreter. Offenbar war da zu lange zu wenig geschehen in Sachen Körperhygiene, aber das ließ sich ja nachholen.
"Prachtvoll", raunte Bernhard wiederholt. "Wirklich majestätisch."
Er wollte es nicht wahr haben, aber es war bereits da, dieses Tatütata aus weiter Ferne, das sich rasch näherte.
Was ging vor? Sein Unterbewusstsein antwortete: sie sind im Anmarsch. Die Abgesandten dieser dummbeutligen, dieser einseitig gepolten Menschheit, die den Begriff verloren hat für einfach alles. Du musst etwas unternehmen, Junge. Wahrscheinlich hast du das hier alles evoziert. Also konzentrier dich, proste ihm noch einmal zu, dem Prachtkerl da drüben. Fordere, wünsche es aus tieftser Seele, dass er so schnell, wie er sich verlebendigte, auch wieder heimkehrt in sein Reich, sie hinter sich lässt, diese heillose Menschheit. Sonst tun sie ihm ein Leid.
Bernhard schließt die Augen, trotz Alkohol die Konzentration in Person. Er bittet, er betet. Und er schafft es. Die Natur folgt.
Zwei Sekunden, bevor die Beamten ihre Magazine abfeuern auf das schwarz-weiß gestreifte Tier, ist es wieder aus Stoff. Steif, der Blick starr geradeaus gerichtet.
Ein Stofftier erschießen diese Irren. Es fließt kein Tröpfchen Blut. Sie töten etwas, das längst tot ist.
Bernhard zieht sich zurück, eilt seiner Wohnung entgegen. Schmunzelt zuerst, dann lacht er laut. Hat das Ganze in Sekunden abgestreift, freut sich auf das Essen mit seiner Frau. Menno, denkt er, was für einTag, was für ein Abend!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Bursch,

in der Tat ein irrer Abend. Den Teil finde ich sehr gelungen. Vorher ein paar Ungereimtheiten. Cityanwohner haben normalerweise einen Ausweis für entsprechende Parkplätze. Die anderen - Besucher, Händler - finden nie einen!

Diese Riesenplüschtiere als Hauptgewinne sind übrigens fürchterlich. Wer stellt die sich irgendwo hin?
:)

VG,
DS
 

Bursch

Mitglied
Hallo DocSchneider
Hallo poetix,

komme wegen Anders-beschäftigt erst jetzt dazu zu danken und zu antworten.
Lustige Parallelität der Gedanken @DocSchneider: habe unmittelbar nach Veröffentlichung auch überlegt, wer um alles in der Welt stellt sich so einen Stofftiger in die Wohnung? Und wohin? Üben die "Dinner for one", eher schlecht als recht, oder wie?:)
Jedenfalls bestreitest du nicht, dass es die Tierchen als Trophäe seit etlichen Jahren gibt? So wie überdimensionierte Teddybären, die auf der Kirmes heute größer sind als die, die sie abschleppen.

Andererseits Hauptsache, die "irre" Geschichte kommt als solche herüber. Da reicht auch knappes Feedback wie das von poetix.
"Dichten" soll Spaß machen,

findet mit Vor-Weihnachtsgruß
Bursch.
 



 
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