Ist geritzt
Ihre Beine baumelten über den winzigen Lichtern, die weiß und rot unter ihr hindurchfuhren. Das mussten achtzig Meter sein, vielleicht auch nur fünfzig, genug in jedem Fall. Ihre Arme lagen auf den Oberschenkeln, bedeckt von den langen Ärmeln des Kapuzenshirts, weil es dann keine dämlichen Fragen und schiefen Blicke wegen der Schrammen gab. Sie lehnte mit dem Rücken am Geländer, hielt sich nicht fest, wartete auf einen Windzug, der fest genug war, sie von ihrem Absatz zu heben. Und wie immer kam keiner.
Das, was sie hinabzog, war nicht stark genug, um die Schlinge zu überwinden, die sich immer um ihre Brust legte, wenn sie hier saß oder im Bett lag oder am Schreibtisch auf eine Seite starrte, ohne die Buchstaben auseinanderhalten zu können. Sie wünschte sich einen Knopf, den man drücken konnte und der einen ausschaltete, für immer oder bis es eine neue Welt gab. Eine ohne Arschlöcher. Ohne werbefinanzierte Belanglosigkeit. Aber vermutlich hatte jede Welt ihre Schattenseite, damit sie darin leben konnte, musste.
Jedes „Wie gehts?“, das sie nicht beantworten konnte, all die Fragen nach Gründen für irgendein Scheitern oder Nicht-versuchen, das viele Wegdrehen, wenn die Gespräche anstrengend wurden addierten sich zu dem Druck im Kopf, der sich wie ein Schnellkochtopf anfühlte, bis sie etwas von dem roten Dampf abließ, der ihren Arm herunterlief und sie ein paar Minuten leben ließ. Eine Kerbe für jeden Moment der Erleichterung, Entspannung, Versöhnung.
Sie sah auf ihre Zehen, deren Nägel sie am Nachmittag lackiert hatte, für niemanden. Wenn ihre Freundin sie jetzt hier hätte sitzen sehen, wäre sie wieder ausgerastet. Darauf konnte sie verzichten. Was sollte man mit einer Freundin, die nur über Jungs sprach oder über die Frisuren anderer oder deren Beine, den Arsch oder zu flache oder zu große Titten? Bei ihr war jeder Zeh zu lang, zu kurz, zu breit, zu dürr, die Haare zu dick, zu fettig, zu glatt, die Beine krumm, die Brüste zu klein und der Hintern … irgendwas war mit dem bestimmt auch. Sie spreizte ihre Zehen, versuchte die weiße und die rote Bahn dazwischen hindurchführen zu lassen, aber sie konnte sich nicht auf zwei Punkte gleichzeitig konzentrieren. Die rote Linie fand sie schöner, weil sie irgendwie wegführte.
„Hey, wie geht’s?“
Ihre Hände knallten gegen das Geländer und krallten sich daran fest, während sie sich umblickte. Ein Kopf erschien über ihr, einer, den sie nicht kannte.
„Scheiße, hast du mich erschreckt!“ Sie klang sauer. Der Körper, zu dem der Kopf gehörte, schwang sich über das Geländer. Ihr Mund stand offen, auch noch, als er schon auf dem Absatz gelandet war, auf dem sie saß. Er machte einen winzigen Hüpfer, ließ die Beine am Beton vorbei nach unten fallen und glitt am Geländer entlang, bis er unsanft auf seinem Hintern landete.
„Coole Aussicht. Bist du öfter hier?“
„Alter ...“ Sie vergaß, ihren Mund zu schließen, sah an dem Kerl hoch und runter und hielt sich weiter am Geländer fest.
„Was machst du so, wenn du nicht auf Talbrücken rumhängst?“
„Was geht dich das an?“, dachte sie. „Nichts“, antwortete sie stattdessen, „was soll man schon machen?“
„Keine Ahnung. Was man so macht. Du könntest reiten, Volleyball spielen ...“ Der Kerl hatte extrem gute Laune, richtig ekelhaft. „... Mädelsabend, ins Kino gehen, Flirten … Hast du einen Freund?“
„Wird das jetzt 'ne Anmache?“, dachte sie und sah ihn an, als kämen Tentakel aus seinem Mund.
„Nein? Kein Freund? Willst du keinen oder will dich keiner?“ Jetzt wurde der auch noch frech.
„Was soll ich mit einem Freund?!“ Sie klang genervt. „Alles, was ich brauche, ist ein Schlafsack, in den ich mich verkriechen kann und der mich unsichtbar und die Welt unhörbar macht.“
„Und einen Freund, der ihn zuhält ... von innen ... vielleicht?“
„Ja, und der dich umarmt, um an deinen Hintern zu kommen und in den du dich nicht einrollen kannst, weil er dann nicht mehr an deine Brüste kommt.“
„Tja, da ist wohl was dran. Ich würde dir nicht an die Brüste gehen, sind nicht mein Fall.“
„Hä? Du hast sie doch noch nie gesehen ...“
„Na ja“, er hob die Schultern, sah beiläufig zur Seite, „muss ich auch nicht.“
„Wirst du auch nicht!“ Der war ja richtig dreist!
„Hattest du vor, zu springen und jetzt wartest du darauf, dass es einfach passiert?“ Die Frage stellte er mit der gleichen gutgelaunten Stimme und sie schlug in ihrem Kopf ein wie ein Bombenhagel, der kurzzeitig alle Synapsen ausschaltete und ganz langsam wieder hochfahren ließ, als würde man ihr Hirn aus einem Wackelpudding ziehen. Sie sah ihn an, schweigend, ratlos, machtlos, weil sie nicht einmal heulen konnte, ohne Luft.
„Soll ich dich stoßen?“ Die Frage zog langsam durch ihre Haut, als sei die semipermeabel und lasse nur den freundlichen Teil draußen. Das war kein nettes Angebot, das klang nur wie eins.
„Solltest du nicht irgend so einen Scheiß fragen wie 'Wollen wir zusammen springen?'“
„Bin ich bekloppt? Ich spring doch da nicht runter! Da bin ich ja mausetot! Mir gehts super, das Leben ist geil, ich halte mich von den größten Arschlöchern fern. Was weiß ich, was morgen passiert? Da gehe ich doch nicht heute schon freiwillig.“
„Und wenn dieselbe Scheiße passiert wie heute? Wie gestern? Wie jeden Tag?“
„Tut sie ja nicht. Ich wette heute hat irgendwo auf der Welt jemand einen fiesen Unfall gehabt, wo er so richtig zermatscht wurde!“ Er strahlte förmlich und schien sich eine konkrete Szene vorzustellen. „Und irgendwo anders hatte eine bildschöne Frau den Sex ihres Lebens mit ihrem Traummann und hat ihm das Jawort gegeben.“ Sie drehte angewidert den Kopf zur Seite.
„Du könntest auch Fußballfan sein. Einmal die Woche grölst du dummes Zeug bis du heiser bist, dann säufst du dir einen an, entweder weil deine Mannschaft gewonnen hat, oder weil sie verloren hat und du den Trainer feuern würdest oder die faulen Säcke auf dem Feld. Das hat Struktur! Das ist gut! Ein Antidepressivum, sozusagen. Einmal die Woche die volle Dröhnung, ansonsten Ehe, Kinder, Sportschau, mit Kollegen über Fußball quatschen und ein Facebook-Profil mit Trikot anlegen.“
„Und wenn man nicht auf Fußball steht?“ Sie versuchte nicht einmal zu verbergen, wie sie das Thema langweilte.
„Dann … bringt das leider überhaupt nichts.“ Er hörte sich nicht so an, als fände er das entmutigend.
„Schade, dass es keine Briefe mehr gibt“, sagte er und klang nachdenklich, „da konntest du getrost eine Woche an der Antwort feilen, weil das Ding sowieso eine Ewigkeit unterwegs war. Und du konntest neu anfangen, streichen, an die Seite kritzeln, ergänzende Rotweinflecken einbringen und dann hattest du Tage Zeit, auf eine Antwort zu warten. Und ab dem dritten Brieffreund wurde das stressig! Heute … kannst du froh sein, wenn sich jemand nicht ignoriert fühlt, weil du nach einem Tag nicht auf seine E-Mail geantwortet hast ...“
„Oder einer Stunde“, ergänzte sie. „Social Media ist noch schlimmer. Alle haben ständig ihr Smartphone im Anschlag und posten den Stuhlgang ihres verblendeten Egos in Form von Sätzen, die ich ihnen am Ende ihres Lebens gerne vorhalten würde, um ihnen zu zeigen, dass sie all das auch hätten lassen können, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre oder der Welt gefehlt hätte.“
Sie griff fester ins Geländer, ohne jede Angst, mit wenig Wut, die aber wenigstens eine kleine Welle auf der Oberfläche erzeugte, wo sonst nur ein See war, in dem sie sich spiegelte, ob sie wollte oder nicht. „Aber man rennt ja selber jedem Like hinterher, für den ganzen Morast, der sich in einem befindet und der irgendwie raus muss, ohne jemandem mit Absicht ins Gesicht zu fliegen. Diese ständigen Fragen, was der Sinn von all dem ist, warum einen immer genau die verlassen, bei denen es am meisten wehtut, warum die, die einem wehtun, einem leidtun, wieso immer alles schiefgeht, was schiefgehen kann und was bei all den Leuten kaputt ist, die das nicht sehen.“
„Und immer, wenn dich jemand fragt, wie es dir geht, sagst du, dass alles gut ist.“
„Ja, genau!“ Sie hatte zu spät erkannt, dass das kein Bekenntnis war. Sie sackte wieder zusammen, weil sie wieder allein war in ihrer Welt.
„Manchmal sind Freunde genau das, was sie zu sein scheinen,“, sagte er, „die gleichen Konflikte, dieselben Fragen, nur außerhalb deines Körpers und deshalb rauben sie dir nicht die Atemluft. Die Welt in deinem Kopf ist auch real. Nicht nur für dich. Es sei denn, du lässt sie da drin.“
„Die will keiner sehen.“ Sie schüttelte den Kopf, glaubte, dass die rote Linie etwas lückenhafter wurde. Es waren wieder mehr weg als auf dem Weg, saßen an Küchentischen oder vor Fernsehern, tranken Wein, obwohl sie keine Briefe schrieben und stellten sich zu wenige Fragen, um ein Leben damit zu füllen.
„Wie wäre es mit einer Ausstellung deiner Welt?“, platzte er in ihre Gedanken, „Eine Vernissage für 'Mit dem Tretboot durch den Sumpf deiner Gedanken' oder vielleicht irgendwas mit Wackelpudding.“
„So eine Art Freakshow? Da wäre ich dabei. Aber da macht euch auf was gefasst. Das wird nichts für schwache Nerven. Da gilt Vorkasse.“
„Iiiiist geritzt“, stimmte er zu und hielt ihr seine Hand zur Besiegelung hin.
„Meinst du, das interessiert irgendeine Sau, was in den Köpfen der anderen vorgeht?“
Sie fuhr mit dem Nagel ihres Daumens über den des Zeigefingers, ertastete die kleine Unebenheit darin und änderte nichts an ihr, auch nicht nach drei Versuchen.
Nach einer Minute fiel ihr ein, dass er ihr eine Antwort schuldig war oder sie ihm einen Händedruck oder beides. Sie sah nach links, auf das Geländer, das sich scheinbar endlos über das Tal spannte. Ihr Blick ging nach unten, suchte einen fallenden Körper, fand keinen und landete wieder beim Geländer.
Sie schlenderte über die Brücke, blickte auf ihr Smartphone und stolperte über ein paar ungeschickt platzierte Blumen. Um diese Zeit konnte sie ins Bett gehen, das war nicht zu früh. Vielleicht würde sie ihr Notebook mitnehmen. Für ein paar Zeilen. Nach dem Senden konnte sie es ausschalten, als hätte sie einen Brief geschrieben, der seine Zeit brauchte.
„'Ist geritzt' … sehr witzig“, dachte sie und musste ein bisschen grinsen.