Ithaka

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Sunyata

Mitglied
Das Wetterleuchten erhellte die dunkle Front, die sich langsam vor die Sonne zog, als er mit federnden Schritten die Stufen des Einwohnermeldeamts hinunter schritt. Er sog die klare Frühjahrsluft ein, sah sich seine neue Heimat an und sinnierte einen Moment, welchen Ort man als Nächstes aufsuchen sollte.
Einen neuen Anzug zu kaufen, wäre eine gute Idee. Schließlich lebte David ja jetzt in einer neuen Stadt, hatte endlich jenen neuen Job, den er sich immer gewünscht hatte, und da wäre ein neues, ein besseres Outfit doch passend.
Er könnte auch schon mal sein viel größeres Büro einrichten, sodass es ein bisschen persönlicher wäre. Gleichzeitig würde man auch ein paar seiner zukünftigen Kollegen kennenlernen.
Am meisten reizte es ihn jedoch, anstatt des Busses den Fußweg zu wählen, um die für ihn noch unbekannte Umgebung kennenzulernen.
David überquerte die Straße und ging nach links, weniger, weil er vermutete, dass dies der kürzeste Weg sei, sondern weil es dort so schien, als gäbe es mehr zu entdecken.
Alles um ihn war ungewohnt, unbekannt und ungemein aufregend. David war schon in vielen ihm fremden Städten gewesen, aber diese war anders: Hier würde er bleiben, hier war er, wo er immer sein wollte. Jahrelang hatte er hart gearbeitet, um sich seinen Traum zu erfüllen. Nun war er auf die Position befördert worden, die er immer anpeilte, das Streben hat nun ein Ende, hier würde er endlich Ruhe finden und die Früchte seines Erfolges genießen.
Alle seine Träume waren erfüllt.
Er war am Ziel seines Lebens angekommen.
Sein Herz war leicht und sein Kopf klar. David vermutete, dass er unentwegt lächelte, denn sein Gesicht spannte bereits.
Nach einigen hundert Metern bog David rechts ab, um urplötzlich vor einem Glaspalast zu stehen. Der Kristallquader passte nicht wirklich zwischen die Jugendstilhäuser, aber er kam ihm gerade recht. David wollte sich nämlich eine Lektüre kaufen, am Besten gleich eine, die zu seiner Stimmung passte. Er durchschritt die warme Luftwand, das letzte Äquivalent zu einer Tür bei diesen Konsumgiganten, und betrat den Büchertempel. In seiner ursprünglichen Heimat gab es nur kleine, gemütliche Buchstuben. Nun stand er in einem viergeschossigen, kalt anmutenden Monstrum.
Noch ehe David sich orientieren konnte, wurde er durch Pfeile am Boden – als ob man sich auf seine eigenen Fähigkeiten nicht verlassen könnte – direkt zu den Bestsellern geleitet.
Bereits von weiter Ferne konnte er die Menschenmassen erkennen, die sich an diesem Freitagabend zwischen den populärsten Romanen und Sachbüchern und vor allem den riesigen Wühltischen für „Sonderangebote“ drängten – jenen Büchern, die nur unter zwei Euro einen Leser finden, der sie jedoch nicht wegen ihres Inhalts, sondern ihres Preises schätzt.
Die Menschen um David herum konnten seine Stimmung nicht trüben, denn das ließ er gar nicht zu. Er ließ es auch nicht zu, dass die 20 Bücher in dunklem Einband zu seiner Linken mit immer dem gleichen Thema – Mord und Totschlag – ihn in irgendeiner Weise daran erinnerten, wie grausam Menschen sein können.
Stattdessen sah er nach links, zu dem Regal mit Büchern in warmen Farben, andere auch in grün und mit den Gesichtern sympathisch erscheinender Menschen darauf, manche hatten auch Pflanzen oder Gemälde abgebildet. Die Titel waren in grellen Farben gedruckt, dazu noch groß, dick und oftmals mit einem oder mehreren Ausrufezeichen. Da die Bücher ihm wohlgesonnen schienen, trat er einen, vielleicht waren es auch mehrere Schritte, heran und schaute sie sich genauer an.
Die Vielfalt der Titel überraschte ihn, mit den meisten konnte er nichts anfangen, und einige verwirrten ihn zutiefst, wie „Power – Meditation. Umfassende Erleuchtung in drei Minuten“, ganz abgesehen von „Was zu sagen ist, wenn man mit sich selbst spricht“. Ein Titel machte ihn dann doch stutzig: „Die ultimative Karriere Bibel: Definitiv alles, was Sie für Ihren beruflichen Erfolg unbedingt wissen müssen“. David dachte sich, dass es vielleicht sinnvoll wäre, gleich von Anfang an einen guten Eindruck bei seinem Traumjob zu hinterlassen. Dieses Buch könnte ihm dabei helfen. Er las den Klappentext und wusste, dass er es kaufen musste: „Hören Sie auf sich zu fragen, weshalb Sie für jede Sprosse auf der Karriereleiter so lange brauchen. Lesen Sie dieses Buch und verwandeln Sie die Leiter zu einem Fahrstuhl! …“
David las den Klappentext nicht zu Ende. Ihm war klar geworden, dass die jahrelange Plagerei, die er unternahm, um seinen Traum zu erfüllen, nicht notwendig gewesen war. Hätte er die „Karriere Bibel“ einige Jahre früher gelesen, wäre er schon seit einer halben Ewigkeit so glücklich wie jetzt.
Oder wie bis gerade eben, denn diese Erkenntnis bedrückte ihn nun sehr. Nach weiterem beruflichen Aufstieg dürstete es ihn nicht, trotzdem nahm er ein Exemplar und trug es zur Kasse, doch es wog viel schwerer in seiner Hand, als es eigentlich war, denn an David zog gleichzeitig die Schuld gegenüber seinem früherem Ich.
Der Erwerber hatte keine Ahnung, ob er noch genauso fröhlich aussah wie vorhin oder ob sich seine verschlechterte Stimmung bereits in seinem Antlitz niedergeschlagen hatte, aber er vermutete, dass sein Gesicht wahrscheinlich eine Mischung aus beidem darstellte, jedenfalls wirkte die Kassiererin verstört, als sie ihn sah.
David kramte in seiner Hosentasche und gelangte, als er eine Handvoll Scheine, Münzen, Bustickets und Schlüssel herauszog, zur Überzeugung, dass Brieftaschen eigentlich doch vorteilhafter sind. Er bezahlte und wurde von der Person hinter sich weggeschubst. Beinahe hätte er auch noch etwas von dem Kram in seiner Hand verloren. Leicht genervt drängte er sich an der Schlange, bestehend aus Menschen aller Alters- und Sozialklassen, vorbei.
Wieder zurück in der Fußgängerzone, erfasste ihn ein schwüler Windhauch, und tintenschwarze Wolken verdeckten jeden Blick zur Abendsonne. Ein Grollen aus der Ferne schreckte als Ruf der Natur in der leblosen Betonumgebung die spendablen Abendeinkäufer auf.
David erinnerte sich der Zuversicht und des Glücks, von dem er noch vor wenigen Minuten erfüllt war, als er hier stand, und beschloss, nicht weiter über mögliche Fehler in der Vergangenheit nachzudenken. Zwar konnte er sich nicht ganz von seinen Selbstzweifeln lösen, doch ging es ihm zumindest etwas besser.
In Erwartung eines baldigen Frühjahrsturms wollte David möglichst schnell in seine neue, viel hellere und schönere Wohnung zurück und in Ruhe über dieses Buch nachdenken, welches ihn nun doch nicht mehr losließ. Aber er war nicht mehr sicher, aus welcher Richtung er gekommen war oder wo sich die nächste Haltestelle seiner Buslinie befand.
Wenn schöneres Wetter gewesen wäre, hätte ihm das Entdecken großen Spaß bereitet, aber er hatte weder seinen meerblauen Schirm noch seine holzfarbene Jacke dabei.
David irrte umher, lief in alle vier Himmelsrichtungen, schaute in jede Seitengasse und versuchte, Straßenzüge oder Geschäfte wiederzuerkennen. Er war sich sicher, dass seine Bushaltestelle direkt neben einer Filiale einer Kaffeehauskette gelegen war, aber es schien davon an jeder Ecke welche zu geben. Immer wenn er eine fand, suchte er ihre Umgebung ab, fand aber seine Busstation nicht.
Auch andere Haltestellen begegneten David, aber auch sie führten ihn nur in die falsche Richtung, denn sie gehörten einer anderen Linie an.
Endlich, beim vierten standardisiertem Kaffeeladen, dem es offensichtlich an Kunden mangelte, war sein Irrweg zu Ende, denn er fand ein Wartehäuschen seiner Route. Ein Omnibus war gerade weggefahren, natürlich jener, der in die richtige Richtung fuhr. Der Wartende stellte sich unter, denn gerade begann es kleine Wassertropfen vom Himmel zu regnen. Seine Füße schmerzen, deshalb wollte er sich eigentlich setzen, jedoch waren alle blauen und vermutlich beschmierten Plastiksitzschalen von dubiosen Personen besetzt.
Nach zehn Minuten kam endlich der nächste Bus. Er war bereits ziemlich stark angefüllt. David hatte einen Sitzplatz ausgemacht, aber er war zu langsam, besser gesagt zu freundlich, denn er wurde unsanft weggeschoben und musste sich an einer Stange festhalten.
Als der Omnibus losfuhr, stach ihm noch ein tiefrotes Plakat am Wartehäuschen ins Auge, das er zuvor nicht bemerkt hatte: „Immer noch allein? Die Uhr tickt! http://www.e-singles.de“
Ein heller Blitz und ein gleich darauf folgender markerschütternder Donner kündigten den Beginn des Frühjahrssturms an. Davids Herz schlug schneller, seine Gedanken wurden von der Angst, etwas verpasst zu haben, verfolgt und kreisten gehetzt um dieses Plakat. Lange war er mit der Art, wie er lebte, zufrieden, für kurze Zeit sogar glücklich. Ihm machte das allein sein nichts aus, es war im sogar eigentlich lieber, und nie dachte er daran, dass sich das ändern sollte.
Bis heute.
Nun fürchtete David, dass er sein Verhalten bereuen könnte. Womöglich dann, wenn er beginnen würde, seine Einsamkeit zu spüren – in einem Alter, in dem seine Chancen, daran etwas zu ändern, schlecht ständen.
Würde er dann sein damaliges Ich hassen? Würde er in bitterer Einsamkeit zu Tode siechen? Würde sich niemand mehr an ihn erinnern?
Die Bustüren hatten sich mittlerweile mehrmals geöffnet und geschlossen, wobei deutlich mehr Menschen ein- als ausstiegen. Inzwischen wirkte eine Sardellenbüchse im Vergleich zum Innenraum des Omnibusses wie eine Großraumhalle. Viele Leute hielten sich nicht mehr fest, sondern ließen sich von den umgebenden Menschenmassen auffangen. Natürlich hielt dies einen Fahrradfahrer, der auf der Flucht vor vom Himmel fallenden Wassertropfen war, nicht davon ab, sich mitsamt seines Drahtesels in die Menge hineinzuquetschen, und niemand wagte es, dem Mann mit der wild entschlossenen Miene vorzuschlagen, auf den nächsten Bus zu warten.
Wenn David es sich leisten könnte – er hatte leider die „Karriere Bibel“ ja noch nicht gelesen – so würde er Taxi fahren. Geld macht zwar nicht glücklich, jedoch weint es sich in einem Taxi deutlich besser.
Angst trübte seinen Geist wie pechschwarzer Nebel. Er fühlte sich unzufrieden. Ihm kam es vor, als besäße er nichts, als hätte er nichts erreicht, als würde er vor einem unendlich hohen Berg stehen, den es zu erklimmen galt. Noch nie fühlte sich David von seinem Glück so weit weg wie jetzt.
Beinahe hätte der Nachdenkliche vergessen auszusteigen, sodass er versuchte, sich so schnell wie möglich durch die ekelhaft riechende Menge zu kämpfen. Als er auf dem Gehsteig stand, bereute er es wiederum, nicht noch eine Runde mitgefahren zu sein. Ein starker, eisiger Wind klatschte ihm eimerweise Wasser ins Gesicht. Er rannte in die Richtung, wo er seine neue Wohnung vermutete. Hier hoffte der Getriebene Ruhe und neuen Mut zu finden angesichts der Rückschläge, die er heute erleiden musste. Er wusste nicht, was ihn stärker antrieb: der Sturm oder seine Hoffnung auf Zuflucht vor der Welt. Die Aussicht auf Wärme und Geborgenheit gab ihm einen letzten Kraftschub.
Durchnässt sprang er in die offenstehende Tür des Hauses Nummer zehn und kämpfte sich mit letzter Kraft in den 6. Stock. Erneut bereute der Treppensteiger, dass er dieses Buch in der Tüte, die er bei sich trug, nicht viel eher gefunden hatte. Dann hätte er sich jetzt eine Wohnung mit Aufzug leisten können.
David war vollkommen entkräftet und ahnte, dass er grausig aussehen musste.
Der Schmerz an seinen Füßen und in seinem Herzen gab ihm das Gefühl, im Nirgendwo angelangt zu sein.
Die „Karriere Bibel“ schwamm im grellroten Plastikbeutel, umgeben von kaltem Regenwasser.
Vor seiner Wohnungstür angelangt warf David die „Karriere Bibel“ in die Ecke unter der Klingel.
Er kramte wieder in seiner Hosentasche, fand nur durchweichte Scheine und glitschiges Hartgeld. Kurz darauf suchte er auch in den anderen Taschen.
Erfolglos.
Verzweifelt und am Ende seiner Kräfte setzte er sich auf den Boden, lehnte sich an die fest verschlossene Tür und verfluchte die Götter.
 

Carmen Engel

Mitglied
Hallo Sunyata,

ich weiß nicht so recht, worin es in Deinem Text gehen soll. Ich bin auch ganz ehrlich, nach der Hälfte bin ich nur noch drüber geflogen in der Hoffnung, jetzt passiert endlich was. Für mich ist der Text eine ellenlange Beschreibung. Der Protagonist hat ein Problem, aber welches genau? Dass er allein ist? Das er die Karriere Bibel noch nicht gelesen hat? Das er in einer neuen Stadt wohnt? Worum geht es genau???
Am Ende nennst Du Deinen Protagonisten "der Getriebene", der "Treppensteiger". Das hat ihn mir noch mehr entfremdet.

Ich finde, der Text kann gut um die Hälfte gekürzt werden. Und ich würde mich freuen, genauer heraus gearbeitet zu bekommen, worum es geht.

Viele Grüße
Carmen
 

Sunyata

Mitglied
Hallo Carmen,

das Konzept der Geschichte ist folgendes:
Der Text baut einen Widerspruch auf zwischen äußerer Ankunft (Umzug in eine neue Stadt, ein neues Leben, genauso, wie es erträumt wurde) und innerer Verirrung, durch Bedürfnisse, die nicht existieren, aber von außen geschaffen werden. Der Protagonist hat kein Problem - es werden ihm Probleme eingeflüstert. Er entfremdet sich damit von seiner realen Situation. Auf gleiche Weise soll sich der Leser von ihm gegen Ende auch entfremden - was offensichtlich bei dir funktioniert hat.
Konzeptionell habe ich dabei nicht nur im Titel und in einigen Anspielungen auf die Odyssee Bezug genommen. Wie Odysseus am Ende in seiner Heimat Ithaka ankommt, tut dies der Protagonist hier auch. Man kann es aber auch ganz anders lesen. Am Anfang ist er zufrieden, am Ziel. Durch Verführungen in die Irre geführt, verliert er sich, und verflucht am Ende die Götter. Also quasi eine umgekehrte Odyssee.
Den Hinweis, man könnte den Text straffen, habe ich bereits einmal erhalten. Ich bin ein großer Freund ausführlicher Beschreibungen, dafür ist eine Kurzgeschichte aber vllt nicht das richtige Medium. Hier ging es mir auch eher darum, einmal die Eisbergtheorie umzusetzen.
 

Sunyata

Mitglied
Das Wetterleuchten erhellte die dunkle Front, die sich langsam vor die Sonne zog, als er mit federnden Schritten die Stufen des Einwohnermeldeamts hinunter schritt. Er sog die klare Frühjahrsluft ein, sah sich seine neue Heimat an und sinnierte einen Moment, welchen Ort man als Nächstes aufsuchen sollte.
Einen neuen Anzug zu kaufen, wäre eine gute Idee. Schließlich lebte David ja jetzt in einer neuen Stadt, hatte endlich jenen neuen Job, den er sich immer gewünscht hatte, und da wäre ein neues, ein besseres Outfit doch passend.
Er könnte auch schon mal sein viel größeres Büro einrichten, sodass es ein bisschen persönlicher wäre. Gleichzeitig würde man auch ein paar seiner zukünftigen Kollegen kennenlernen.
Am meisten reizte es ihn jedoch, anstatt des Busses den Fußweg zu wählen, um die für ihn noch unbekannte Umgebung kennenzulernen.
David überquerte die Straße und ging nach links, weniger, weil er vermutete, dass dies der kürzeste Weg sei, sondern weil es dort so schien, als gäbe es mehr zu entdecken.
Alles um ihn war ungewohnt, unbekannt und ungemein aufregend. David war schon in vielen ihm fremden Städten gewesen, aber diese war anders: Hier würde er bleiben, hier war er, wo er immer sein wollte. Jahrelang hatte er hart gearbeitet, um sich seinen Traum zu erfüllen. Nun war er auf die Position befördert worden, die er immer anpeilte, das Streben hat nun ein Ende, hier würde er endlich Ruhe finden und die Früchte seines Erfolges genießen.
Alle seine Träume waren erfüllt.
Er war am Ziel seines Lebens angekommen.
Sein Herz war leicht und sein Kopf klar. David vermutete, dass er unentwegt lächelte, denn sein Gesicht spannte bereits.
Nach einigen hundert Metern bog David rechts ab, um urplötzlich vor einem Glaspalast zu stehen. Der Kristallquader passte nicht wirklich zwischen die Jugendstilhäuser, aber er kam ihm gerade recht. David wollte sich nämlich eine Lektüre kaufen, am Besten gleich eine, die zu seiner Stimmung passte. Er durchschritt die warme Luftwand, das letzte Äquivalent zu einer Tür bei diesen Konsumgiganten, und betrat den Büchertempel. In seiner ursprünglichen Heimat gab es nur kleine, gemütliche Buchstuben. Nun stand er in einem viergeschossigen, kalt anmutenden Monstrum.
Noch ehe David sich orientieren konnte, wurde er durch Pfeile am Boden – als ob man sich auf seine eigenen Fähigkeiten nicht verlassen könnte – direkt zu den Bestsellern geleitet.
Bereits von weiter Ferne konnte er die Menschenmassen erkennen, die sich an diesem Freitagabend zwischen den populärsten Romanen und Sachbüchern und vor allem den riesigen Wühltischen für „Sonderangebote“ drängten – jenen Büchern, die nur unter zwei Euro einen Leser finden, der sie jedoch nicht wegen ihres Inhalts, sondern ihres Preises schätzt.
Die Menschen um David herum konnten seine Stimmung nicht trüben, denn das ließ er gar nicht zu. Er ließ es auch nicht zu, dass die 20 Bücher in dunklem Einband zu seiner Linken mit immer dem gleichen Thema – Mord und Totschlag – ihn in irgendeiner Weise daran erinnerten, wie grausam Menschen sein können.
Stattdessen sah er nach links, zu dem Regal mit Büchern in warmen Farben, andere auch in grün und mit den Gesichtern sympathisch erscheinender Menschen darauf, manche hatten auch Pflanzen oder Gemälde abgebildet. Die Titel waren in grellen Farben gedruckt, dazu noch groß, dick und oftmals mit einem oder mehreren Ausrufezeichen. Da die Bücher ihm wohlgesonnen schienen, trat er einen, vielleicht waren es auch mehrere Schritte, heran und schaute sie sich genauer an.
Die Vielfalt der Titel überraschte ihn, mit den meisten konnte er nichts anfangen, und einige verwirrten ihn zutiefst, wie „Power – Meditation. Umfassende Erleuchtung in drei Minuten“, ganz abgesehen von „Was zu sagen ist, wenn man mit sich selbst spricht“. Ein Titel machte ihn dann doch stutzig: „Die ultimative Karriere Bibel: Definitiv alles, was Sie für Ihren beruflichen Erfolg unbedingt wissen müssen“. David dachte sich, dass es vielleicht sinnvoll wäre, gleich von Anfang an einen guten Eindruck bei seinem Traumjob zu hinterlassen. Dieses Buch könnte ihm dabei helfen. Er las den Klappentext und wusste, dass er es kaufen musste: „Hören Sie auf sich zu fragen, weshalb Sie für jede Sprosse auf der Karriereleiter so lange brauchen. Lesen Sie dieses Buch und verwandeln Sie die Leiter zu einem Fahrstuhl! …“
David las den Klappentext nicht zu Ende. Ihm war klar geworden, dass die jahrelange Plagerei, die er unternahm, um seinen Traum zu erfüllen, nicht notwendig gewesen war. Hätte er die „Karriere Bibel“ einige Jahre früher gelesen, wäre er schon seit einer halben Ewigkeit so glücklich wie jetzt.
Oder wie bis gerade eben, denn diese Erkenntnis bedrückte ihn nun sehr. Nach weiterem beruflichen Aufstieg dürstete es ihn nicht, trotzdem nahm er ein Exemplar und trug es zur Kasse, doch es wog viel schwerer in seiner Hand, als es eigentlich war, denn an David zog gleichzeitig die Schuld gegenüber seinem früherem Ich.
Der Erwerber hatte keine Ahnung, ob er noch genauso fröhlich aussah wie vorhin oder ob sich seine verschlechterte Stimmung bereits in seinem Antlitz niedergeschlagen hatte, aber er vermutete, dass sein Gesicht wahrscheinlich eine Mischung aus beidem darstellte, jedenfalls wirkte die Kassiererin verstört, als sie ihn sah.
David kramte in seiner Hosentasche und gelangte, als er eine Handvoll Scheine, Münzen, Bustickets und Schlüssel herauszog, zur Überzeugung, dass Brieftaschen eigentlich doch vorteilhafter sind. Er bezahlte und wurde von der Person hinter sich weggeschubst. Beinahe hätte er auch noch etwas von dem Kram in seiner Hand verloren. Leicht genervt drängte er sich an der Schlange, bestehend aus Menschen aller Alters- und Sozialklassen, vorbei.
Wieder zurück in der Fußgängerzone, erfasste ihn ein schwüler Windhauch, und tintenschwarze Wolken verdeckten jeden Blick zur Abendsonne. Ein Grollen aus der Ferne schreckte als Ruf der Natur in der leblosen Betonumgebung die spendablen Abendeinkäufer auf.
David erinnerte sich der Zuversicht und des Glücks, von dem er noch vor wenigen Minuten erfüllt war, als er hier stand, und beschloss, nicht weiter über mögliche Fehler in der Vergangenheit nachzudenken. Zwar konnte er sich nicht ganz von seinen Selbstzweifeln lösen, doch ging es ihm zumindest etwas besser.
In Erwartung eines baldigen Frühjahrsturms wollte David möglichst schnell in seine neue, viel hellere und schönere Wohnung zurück und in Ruhe über dieses Buch nachdenken, welches ihn nun doch nicht mehr losließ. Aber er war nicht mehr sicher, aus welcher Richtung er gekommen war oder wo sich die nächste Haltestelle seiner Buslinie befand.
Wenn schöneres Wetter gewesen wäre, hätte ihm das Entdecken großen Spaß bereitet, aber er hatte weder seinen meerblauen Schirm noch seine holzfarbene Jacke dabei.
David irrte umher, lief in alle vier Himmelsrichtungen, schaute in jede Seitengasse und versuchte, Straßenzüge oder Geschäfte wiederzuerkennen. Er war sich sicher, dass seine Bushaltestelle direkt neben einer Filiale einer Kaffeehauskette gelegen war, aber es schien davon an jeder Ecke welche zu geben. Immer wenn er eine fand, suchte er ihre Umgebung ab, fand aber seine Busstation nicht.
Auch andere Haltestellen begegneten David, aber auch sie führten ihn nur in die falsche Richtung, denn sie gehörten einer anderen Linie an.
Endlich, beim vierten standardisiertem Kaffeeladen, dem es offensichtlich an Kunden mangelte, war sein Irrweg zu Ende, denn er fand ein Wartehäuschen seiner Route. Ein Omnibus war gerade weggefahren, natürlich jener, der in die richtige Richtung fuhr. Der Wartende stellte sich unter, denn gerade begann es kleine Wassertropfen vom Himmel zu regnen. Seine Füße schmerzen, deshalb wollte er sich eigentlich setzen, jedoch waren alle blauen und vermutlich beschmierten Plastiksitzschalen von dubiosen Personen besetzt.
Nach zehn Minuten kam endlich der nächste Bus. Er war bereits ziemlich stark angefüllt. David hatte einen Sitzplatz ausgemacht, aber er war zu langsam, besser gesagt zu freundlich, denn er wurde unsanft weggeschoben und musste sich an einer Stange festhalten.
Als der Omnibus losfuhr, stach ihm noch ein tiefrotes Plakat am Wartehäuschen ins Auge, das er zuvor nicht bemerkt hatte: „Immer noch allein? Die Uhr tickt! http://www.e-singles.de“
Ein heller Blitz und ein gleich darauf folgender markerschütternder Donner kündigten den Beginn des Frühjahrssturms an. Davids Herz schlug schneller, seine Gedanken wurden von der Angst, etwas verpasst zu haben, verfolgt und kreisten gehetzt um dieses Plakat. Lange war er mit der Art, wie er lebte, zufrieden, für kurze Zeit sogar glücklich. Ihm machte das allein sein nichts aus, es war im sogar eigentlich lieber, und nie dachte er daran, dass sich das ändern sollte.
Bis heute.
Nun fürchtete David, dass er sein Verhalten bereuen könnte. Womöglich dann, wenn er beginnen würde, seine Einsamkeit zu spüren – in einem Alter, in dem seine Chancen, daran etwas zu ändern, schlecht ständen.
Würde er dann sein damaliges Ich hassen? Würde er in bitterer Einsamkeit zu Tode siechen? Würde sich niemand mehr an ihn erinnern?
Die Bustüren hatten sich mittlerweile mehrmals geöffnet und geschlossen, wobei deutlich mehr Menschen ein- als ausstiegen. Inzwischen wirkte eine Sardellenbüchse im Vergleich zum Innenraum des Omnibusses wie eine Großraumhalle. Viele Leute hielten sich nicht mehr fest, sondern ließen sich von den umgebenden Menschenmassen auffangen. Natürlich hielt dies einen Fahrradfahrer, der auf der Flucht vor vom Himmel fallenden Wassertropfen war, nicht davon ab, sich mitsamt seines Drahtesels in die Menge hineinzuquetschen, und niemand wagte es, dem Mann mit der wild entschlossenen Miene vorzuschlagen, auf den nächsten Bus zu warten.
Wenn David es sich leisten könnte – er hatte leider die „Karriere Bibel“ ja noch nicht gelesen – so würde er Taxi fahren. Geld macht zwar nicht glücklich, jedoch weint es sich in einem Taxi deutlich besser.
Angst trübte seinen Geist wie pechschwarzer Nebel. Er fühlte sich unzufrieden. Ihm kam es vor, als besäße er nichts, als hätte er nichts erreicht, als würde er vor einem unendlich hohen Berg stehen, den es zu erklimmen galt. Noch nie fühlte sich David von seinem Glück so weit weg wie jetzt.
Beinahe hätte der Nachdenkliche vergessen auszusteigen, sodass er versuchte, sich so schnell wie möglich durch die ekelhaft riechende Menge zu kämpfen. Als er auf dem Gehsteig stand, bereute er es wiederum, nicht noch eine Runde mitgefahren zu sein. Ein starker, eisiger Wind klatschte ihm eimerweise Wasser ins Gesicht. Er rannte in die Richtung, wo er seine neue Wohnung vermutete. Hier hoffte der Getriebene Ruhe und neuen Mut zu finden angesichts der Rückschläge, die er heute erleiden musste. Er wusste nicht, was ihn stärker antrieb: der Sturm oder seine Hoffnung auf Zuflucht vor der Welt. Die Aussicht auf Wärme und Geborgenheit gab ihm einen letzten Kraftschub.
Durchnässt sprang er in die offenstehende Tür des Hauses Nummer zehn und kämpfte sich mit letzter Kraft in den 6. Stock. Erneut bereute der Treppensteiger, dass er dieses Buch in der Tüte, die er bei sich trug, nicht viel eher gefunden hatte. Dann hätte er sich jetzt eine Wohnung mit Aufzug leisten können.
David war vollkommen entkräftet und ahnte, dass er grausig aussehen musste.
Der Schmerz an seinen Füßen und in seinem Herzen gab ihm das Gefühl, im Nirgendwo angelangt zu sein.
Die „Karriere Bibel“ schwamm im grellroten Plastikbeutel, umgeben von kaltem Regenwasser.
Vor seiner Wohnungstür angelangt warf David die „Karriere Bibel“ in die Ecke unter der Klingel.
Er kramte wieder in seiner Hosentasche, fand nur durchweichte Scheine und glitschiges Hartgeld. Kurz darauf suchte er auch in den anderen Taschen.
Erfolglos.
Verzweifelt und am Ende seiner Kräfte setzte er sich auf den Boden, lehnte sich an die fest verschlossene Tür und verfluchte die Götter.
 

molly

Mitglied
Hallo Sunyata

Auch wenn Du ein großer Freund ausführlicher Beschreibungen bist, könntest Du Deinen Text doch von vielen "Füllwörtern" und "war" befreien, und umständliche Sätze klar ausdrücken.

Was ich mich frage: Kann ein Job das Ziel des Lebens sein?
David redet mit niemand, also flüstert ihm niemand etwas ein.
Wenn die Verkäuferin ihn "verstört" anschaut, muss er grimmig geblickt haben.
Das Drama scheint doch zu sein, dass er den Wohnungsschlüssel verloren hat.

Ich wünsche Dir noch einen schönen Adventsonntag.

Viele Grüße

molly

Ich habe jetzt nur mal einen kleine Teil des Textes näher angeschaut:

Das Wetterleuchten erhellte die dunkle Front, die sich langsam vor die Sonne zog, als er mit federnden Schritten die Stufen des Einwohnermeldeamts hinunter schritt. Er sog die klare Frühjahrsluft ein, sah sich seine neue Heimat an und sinnierte einen Moment, welchen Ort (man) er als Nächstes aufsuchen sollte.

Einen [strike]neue[/strike]n Anzug zu kaufen, wäre eine gute Idee. Schließlich lebte David ja jetzt in einer [strike]neuen[/strike] anderen Stadt, hatte endlich jenen neuen Job, den er sich immer gewünscht hatte. ( und da wäre ein neues, ein besseres Outfit doch passend.) zuviel "Neu"

Er könnte auch[strike] schon mal[/strike] sein [strike]viel größeres [/strike]Büro einrichten, so dass es [strike]ein bisschen[/strike] persönlicher wäre. Gleichzeitig würde [strike]man [/strike] er auch [strike]ein paar[/strike] einige seiner zukünftigen Kollegen kennenlernen. (Am Freitag Abend?)

Am meisten reizte es ihn jedoch, anstatt des Busses den Fußweg zu wählen, um die [strike]für ihn[/strike] noch unbekannte Umgebung kennenzulernen.

David überquerte die Straße und ging nach links, weniger, weil er vermutete, dass dies der kürzeste Weg sei, sondern weil es [strike]dort so [/strike]schien, als gäbe es dort mehr zu entdecken.

Alles um ihn war ungewohnt, unbekannt und ungemein aufregend. David war schon in vielen ihm fremden Städten gewesen, aber diese war anders: Hier würde er bleiben, hier war er, wo er immer sein wollte. Jahrelang hatte er hart gearbeitet, um sich seinen Traum zu erfüllen. Nun war er auf die Position befördert worden, die er immer anpeilte, das Streben hat nun ein Ende, hier würde er endlich Ruhe finden und die Früchte seines Erfolges genießen.

Alle seine Träume waren erfüllt. (Wirklich alle Träume?)
Er war am Ziel seines Lebens angekommen. ????????????????????????
Sein Herz war leicht und sein Kopf klar. David vermutete, dass er unentwegt lächelte, denn sein Gesicht spannte bereits.
Diesen Absatz nochmal genau überdenken und die vielen „War“ durch andere Wörter ersetzen.

Nach einigen hundert Metern bog David rechts ab und stand plötzlich vor einem Glaspalast. Der Kristallquader passte nicht [strike]wirklich[/strike] zwischen die Jugendstilhäuser, aber er kam ihm gerade recht. David wollte sich[strike] nämlich [/strike]eine Lektüre kaufen (Keinen neuen Anzug mehr?),
am besten gleich eine, die zu seiner Stimmung passte. Er [strike]durchschritt die warme Luftwand, das letzte Äquivalent zu einer Tür bei diesen Konsumgiganten, und [/strike]betrat den Büchertempel und stand in einem viergeschossigen, kalt anmutenden Monstrum. In seiner ursprünglichen Heimat gab es nur kleine, gemütliche Buchstuben.

Noch ehe David sich orientieren konnte, wurde er durch Pfeile am Boden[strike] – als ob man sich auf seine eigenen Fähigkeiten nicht verlassen könnte –[/strike] direkt zu den Bestsellern geleitet.
 

Sunyata

Mitglied
Hallo molly,

ja, an der ein oder anderen Stelle ist sicherlich noch ein Feinschliff möglich.

Tatsächlich ist es eine Typfrage, ob man eine solche Haltung nachvollziehen kann oder nicht. Der Text soll schon einen gewissen gesellschaftskritischen Schlag haben. Ich kenne sehr viele Leute, die einen sehr guten Job als ihr Ziel sehen. Die Hauptfigur soll nicht unbedingt eine Identifikationsfigur sein.
"Einflüstern" war im übertragenen Sinne gemeint.
Die Sache mit dem Wohnungsschlüssel ist eher etwas, was das Fass zum überlaufen bringt. So etwas passiert und ist kein Drama. Die Umstände bedingen die Wahrnehmung.
 



 
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