Jacob und William

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Jacob wird unsanft von seinem klingelnden Handy aus dem Schlaf geweckt. Er schaut auf das Display: Es ist William. So früh am morgen? Als er abnimmt, wird er hektisch von seinem besten Freund gefragt, wo er sei.
„Im Bett“, murmelt Jacob verschlafen.
Es folgt eine Standpauke und schon ist Jacob auf dem Weg zum London Heathrow, wo er bereits ungeduldig erwartet wird.
„Wieso muss ich auch so einen verplanten Kumpel haben, he?“
William grinst seinen Freund an und nimmt ihn in den Schwitzkasten unter seinen Arm. Die beiden Boxer liefern sich ein kurzes Luftszenario, bevor es in die Hallen des Flughafens geht.

In Santiago de Chile ist es gerade Siesta, als die beiden Briten aus dem Flugzeug steigen. Die Hitze schlägt ihnen wie eine unsichtbare Boxhand entgegen und sobald sie im Hotel angekommen sind, wechseln die Männer ihre Outfits von Winterkleidung zu kurzen Sommershorts.
Ihren ersten Tag in Chile wollen die Freunde am Strand genießen und allen Stress vergessen, der sie in letzter Zeit verfolgt hat - zumindest fast vergessen. Denn Jacob und William sind nicht aus Urlaubsgründen nach Südamerika geflogen.
William hat seit einem Jahr einen Gehirntumor, welcher nicht mehr behandelt oder gar geheilt werden kann. Die Zeit tickt in seinem Kopf und in seinem Körper. Er wird von Tag zu Tag schwächer und dünner. Ihm fällt es weniger auf als seinem Freund Jacob, welcher es nicht mehr ertragen konnte und ihnen diesen Flug gebucht hatte. William wünscht sich, seit er 14 Jahre alt ist, einmal nach Chile zu reisen. Das steht nun seit 16 Jahren in Jacobs Freundschaftsbuch und er erinnert sich gerne an den Tag, an dem sein Kindergartenfreund die Seite ausgefüllt hat. Die beiden brauchten eine Pause und dieser Ort war dafür genau das Richtige. Keiner wusste mehr, wie lang William noch leben würde. Und Jacob fand das die beste Lösung, um sich von seinem Freund richtig zu verabschieden und mit ihm so viel Zeit wie mögich zu verbringen; auch wenn sie zusammen wieder nach England fliegen.
Als Jacob unauffällig zu seinem Freund neben sich schielt, liegt dieser lässig auf dem Handtuch mit Sonnenbrille und seinen Kopfhörern. Allerdings kennt er William gut und er sieht ihm an, wie sehr er sich bemüht, wach zu bleiben und nicht das Gesicht vor Schmerzen zu verziehen.
„Hast du heute schon deine Tabletten genommen, Will?“
William beobachtet ihn cool von der Seite. Dann sieht er ein, dass das nicht viel Sinn macht und gibt nach. Langsam und mühsam schüttelt er den Kopf.
„Dann hol' sie gefälligst. Du brauchst sie, Mann!“
William will vom Thema ablenken. „Schau dir diese Schnitte da drüben an, die hat eine Figur. Wow!“
Jacob lacht, er will William jetzt nicht die Stimmung vermiesen.
„Na worauf wartest du noch? Geh, hol sie dir!“, ruft er ihm zu und klopft ihm auf die Schulter. Nicht zu fest, denn er will seinem Freund nicht noch mehr Schmerzen bereiten.
„Wie sehe ich aus?“, William rückt seine Perücke zurecht.
„Wie ein echter Mann. Top schaust du aus.“, Jacob spricht ihm gut zu und meint es sogar ernst. Er ist erstaunt, wie entspannt sich sein Freund gerade zeigt und sein gutes Aussehen hat er trotz dem Angriff der Krankheit nicht verloren.
„Ich würde auch gerne heiraten und mit meiner Frau alt werden.“, seufzt William und legt sich zurück auf sein Handtuch.
Jacob schaut ihn traurig an.
„Hör auf damit. Das ist nicht lustig.“

Nachdem die Männer nach einer Weile anfangen, wie Hühnchen in der Sonne zu braten, steht Jacob auf und nimmt seinen Geldbeutel aus dem Rucksack.
„Ich hol' mir 'nen Drink. Willst Du auch was?“
„Cuba Libre, bitte.“
William schmunzelt seinen Freund an, doch der bleibt ernst.
„Und jetzt wirklich?“
William blickt über das funkelnde, blaue Meer zum Horizont. „Einen Sex-on-the-Beach.“
Jacob schüttelt den Kopf und zieht seine rechte Augenbraue hoch. Er ist schon am Losgehen, da hält ihn William am Fußgelenk fest.
„He Mann, entspann' Dich mal. Ich weiß, Du machst dir Sorgen, aber das brauchst Du nicht. Wir machen uns hier eine schöne Zeit. Best Buddies für immer! Wo ist mein Partyhase geblieben? Mein Frauenheld? Wirst Du etwa alt?“, William grinst gegen die Sonne, in die Richtung, in der er seinen Freund vermutet.
Jacob geht in die Hocke und schaut William lange in die Augen. Dann dreht er sich zum Meer.
„Das ist leichter gesagt, als getan. Ich brauche Dich und Du brauchst mich. Und ich werde mir trotzdem weiter Sorgen machen. Will, ich würde alles dafür geben, dass es Dir besser geht. Das weißt Du?!“
„Ich weiß. Du bist zu gut für die Welt. Du würdest sogar mit mir tauschen, wenn du könntest- und wenn ich es Dir erlauben würde. Genieße einfach dein Leben und sei froh darüber, dass noch so viele Erfahrungen vor dir liegen“, William boxt seinem Freund gekonnt in die Seite.
„Aber nicht ohne Dich.“, Jacob betrachtet seinen Schatten im Sand.
„Hey Bruder, jetzt fang' mir bloß nicht an zu weinen. Sei ein Mann“, William lächelt aufmunternd seinem Gegenüber zu und beide stehen auf.
Sie nehmen sich lange in den Arm. Und leise rollt eine Träne über Jacobs und Williams Gesichter.
Jacob löst sich als Erster aus Williams Umarmung und macht sich auf zur Strandbar.
„Alles wird gut werden“, ruft sein Freund ihm nach und Jacob lächelt erschöpft die Sonne an. „Danke, Jacob“, fügt William noch in einem Flüstern hinzu, aber das hört sein Freund nicht mehr.

„William! Wiii-lli-aaaam!“
Jacobs Rufe werden zu ängstlichen Schreien, er läuft den Strand mit einem Wasser für seinen kranken Freund in der einen und einem Vodka in der anderen Hand auf und ab. Doch William ist wie vom Erdboden verschluckt. Langsam droht Jacobs Stimme zu versagen. Er versucht, sich zu konzentrieren. Soll er jetzt schon die Wasserwacht informieren oder ist sein Freund einfach nur auf die Toilette oder Spazieren gegangen? Doch nach fast einer Stunde gibt er die Suche auf. William würde nicht ohne ein Wort gehen; das steht ihm nicht. Also auf zur Wasserwacht.
Drei Männer unterstützen Jacob nun bei der Suche und ein weiterer Rettungsschwimmer macht sich auf ins Wasser, um dort weiter zu suchen. Eine weitere Stunde vergeht und William ist nicht aufzufinden. Zwei Boote fahren nun die Küste ab und immer weiter hinaus aufs offene Meer.
„Nada“, die Kollegen am Strand leiten die Funksprüche vom Meer weiter an Jacob, „lo siento mucho.“
'Ja, mir tut es auch leid.', Jacobs Gedanken werden immer unklarer und Schreie und Sätze schwirren in seinem Kopf durcheinander. Er beginnt, zu realisieren, dass sein Freund verschwunden ist. Dass er ihn verloren hat. Dass alle Hoffnung nun erloschen ist. Und dass ein Leben ohne William kein Leben mehr ist. Ihm wurden alle Farben und Töne genommen. Jacob schaut mit leerem Blick aufs Meer und in seinen Ohren rauscht und piepst es.
'Das war es also? So schnell geht das? Wahrscheinlich hat er es so gewollt. Nicht mit Schläuchen am Körper im Krankenhaus sterben, sondern in Chile alleine mit seinem besten Freund. Alleine im Meer.', denkt Jacob und gräbt seine Füße in den warmen Sand. Er möchte am liebsten jetzt auch einfach verschwinden. Nicht denken und fühlen müssen. Einfach mitgehen mit seinem Freund. Aber für ihn war die Zeit noch nicht gekommen.
Einer der Rettungsschwimmer kommt mit hängenden Schultern auf ihn zugelaufen und Jacob versteht sofort.
„Du kannst mich jetzt doch noch nicht alleine lassen, Will! Du wirst mir fehlen.“
In seinem Kopf ertönt Williams Stimme, die sagt: „Alles wird gut.“ Sie klingt weit entfernt und er denkt an den letzten Moment mit seinem besten Freund.
Jacob legt die rechte Hand auf sein Herz und betrachtet den klaren, hellblauen Himmel. „Alles wird gut“, verspricht er William.
Dann bricht er weinend zusammen in den Sand an einem Strand in Chile.
 

Vagant

Mitglied
Hallo IG, also ich hab's gemocht. Vor allem die Dialoge.
Als Jacob mit den Drinks zurück gekommen ist, und realisiert hat, dass Will nicht mehr am Strand liegt, hätte ich mir etwas mehr von der Konfusion und Ratlosigkeit gewünscht, die ihn nun ergreift. An dieser Stelle bist du für meinen Geschmack etwas zu schnell geworden, und hast die Szene mit wenigen Zeilen narrativen Erzählens gestaltet. Wo du doch den Rest so schön szenisch dargestellt hast. Vielleicht wäre hier ein bisschen innerer Monolog/Bewusstseinsstrom angebracht. Ist aber nur so'n Gedanke von mir. Mir hat's gefallen. Ach so, eine Frage; warum müssen es Engländer sein ?
Vagant.
 



 
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