Jede Woche

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fynn

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Schon die Nacht vorher schlief sie schlecht. Die Angst, dass sie den Wecker überhören könnte, ließ sie nur in einen leichten Dämmerschlaf sinken, aus dem sie bei jedem unerwarteten Geräusch hoch schreckte. Morgens wachte sie auf, quälte sich ins Bad und wurde erst durch das laute Dröhnen der Musik so halbwegs munter. Mit der Munterkeit kamen auch sofort die Knoten im Bauch und die Zweifel, ob es nicht ein großer Fehler wäre wieder hinzufahren.

Wie jede Woche schlug sie die Signale ihres Bauchs in den Wind und machte sich auf den Weg. Sie erinnert sich daran, wie es letzte Woche gewesen war, wie es beinahe jede Woche war, sah sich auf dem Stuhl sitzen, in der Tasche der kleine Hase, der die Angst vertreiben sollte, auf dem Gesicht der Versuch eines Lächelns, das Unverwundbarkeit signalisieren sollte. Und wie gern wäre sie unverletzbar gewesen! Sie saß da und wurde immer verzweifelter. Die Worte blieben alle in ihrer Brust stecken, nur ab und zu lösten sich kleine Brocken von dem großen Felsen der ihr die Luft zum Atmen nahm. Sie wollte reden, konnte die Frau das nicht verstehen? Aber es war alles zu gefährlich. Sie fühlte sich so schuldig. Was aber, wenn sie von ihrem Gegenüber nun eine Bestätigung dieser Schuld bekommen hätte? Was hätte sie noch tun können, wenn sie gehört hätte, dass alles an ihr gelegen hätte, dass sie alles hätte verhindern können? Sie hätte sich sofort das Leben nehmen müssen und sie wollte doch leben. „Den Schmerz zulassen“ das sagt sich so leicht, doch wer von den Menschen die so etwas sagen, ist schon einmal ins Bodenlose gesprungen – mit dem Glauben, dass da kein Netz ist, das ihn auffängt?

Dann war da noch die Angst vor dem Verlust ihrer Grenzen. Wenn du mich berührst, dann löse ich mich auf, dabei hatte sie so eine Sehnsucht nach Nähe und konnte doch den Graben nicht überwinden, den sie zwischen sich und der Anderen geschaffen hatte. Sie traute sich noch nicht einmal zu sagen, dass sie gerne kam, selbst wenn es jedes mal wieder eine Qual war, weil sie über so viele Dinge einfach nicht reden konnte. Wie bittest du um Hilfe, wenn es nichts geben darf, mit dem du nicht alleine zurechtkommen könntest? Wie kannst du „ja“ sagen, wenn du nicht „nein“ sagen darfst?

Sie durfte sich auf nichts einlassen, denn das hätte ein Eingeständnis ihrer Bedürftigkeit bedeutet und das, so hatte sie gelernt, wurde sofort ausgenutzt, um sie zu verletzen und zu demütigen. Trotzdem konnte sie die Hoffnung nicht aufgeben, denn ohne diese Hoffnung wäre ihr das Leben unerträglich gewesen. Deshalb ging sie immer wieder hin. Jede Woche.
 



 
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