Jeden Tag ein Stück von dir

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Retep

Mitglied
Jeden Tag ein Stück von dir


Das fing langsam an. Ich nahm das zunächst gar nicht wahr. Das ist normal, ich werde eben älter, bin jetzt sechzig, dachte ich.
Namen hatte ich noch nie gut behalten können. Irgendetwas suchte ich schon immer, dachte dann, meine Frau hätte es weggeräumt. Kein Grund sich aufzuregen, hatte ich gedacht. Beim Joggen wusste ich letzthin nicht, wo ich war, fand mich dann aber zurecht, ich ging in den Keller, wollte etwas holen und wusste dann nicht mehr was, suchte einen Schlüssel und hatte ihn in der Hand.

Die Ferien sind vorbei, erster Schultag. Ich habe z.Zt. eine vierte Klasse. Ich unterrichte sie schon drei Jahre lang, habe mich an die Kinder gewöhnt, kenne ihre Schwächen und Stärken.
Ihre Eltern lernte ich hauptsächlich bei Elternabenden kennen, zweimal im Jahre sehe ich sie, wenn nichts Außergewöhnliches vorfällt, etwas, das ich nicht alleine regeln kann.
Bei meiner Arbeit versuche ich so wenig wie möglich Eltern zu „belästigen“, erwarte auch von ihnen, dass sie sich nicht wegen jeder Kleinigkeit beschweren, versuche alles mit den Kindern direkt zu regeln. Das kommt gut an.
Ich mache meine Arbeit gerne, bin aber froh, dass ich nicht 28 Stunden unterrichten muss, sondern nur 15. Der Rest des Deputates ist für Verwaltungsarbeiten bestimmt.

Montag, erste Unterrichtsstunde nach sechs Wochen. Die Kinder erzählen von ihren Ferienerlebnissen, viele waren im Ausland mit ihren Eltern. Als ich noch zur Schule ging war das anders, wir hatten kein Geld für Ferien im Ausland.
Ich merke, dass mir einige Namen von Schülern entfallen sind, schaue in der Schüllerliste unauffällig nach, kann die Namen den Schülern zuordnen, erinnere mich wieder. Das ist mir in den letzten Jahren schon öfter passiert, denke ich.
In der Pause begrüße ich alle Lehrerinnen und Lehrer. Ich will ihnen eine neue Kollegin vorstellen. Sie war am Anfang der Ferien bei mir. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen.

Ich freue mich aufs Mittagessen, habe einen Riesenhunger.

„Hast du die Milch mitgebracht?“, fragt mich meine Frau.
„Welche Milch?“
„Na ich hatte dich doch gebeten auf dem Rückweg von der Schule Milch einzukaufen.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Du hörst eben nie zu.“

Ich glaube, er vergisst immer mehr, bin besorgt. Es sind zwar nur Kleinigkeiten, aber sie passieren immer öfter. Er sucht dauernd etwas, seine Brille, seinen Geldbeutel, letzthin lagen seine Autoschlüssel im Kühlschrank!
Er kommt müde und abgespannt aus der Schule, schläft dann am Nachmittag recht lange, ist manchmal sehr gereizt.
Wenn wir miteinander diskutieren, kann er sich manchmal nicht an Namen von Bekannten erinnern.
Er ist ruhiger geworden, nachdenklicher, spricht weniger. Vielleicht sollte er mal zum Arzt gehen.

Heute Nachmittag habe ich Sprechstunde in der Schule. Eine Frau kommt in mein Büro. Sie umarmt mich und küsst mich auf den Mund. Ich versuche meine Verwirrung zu verbergen. Eine äußerst attraktive Frau ist sie, lange schwarze Haare, grüne Augen, tolle Figur, etwas älter als dreißig. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.
Wir setzen uns an den Tisch, es klopft, eine Kollegin kommt herein, sagt, sie würde den PC wieder in Ordnung bringen, wie wir es heute Vormittag besprochen hätten. Ich kann mich zwar an ein Gespräch mit ihr nicht erinnern, bin aber froh, dass sie da ist.

„Ja, ich glaube ich muss mal mit ihnen über meinen Sohn sprechen, sein Zeugnis war ja nicht umwerfend. Ich brauche ihren Rat, was kann man da machen?“

Ich weiß noch immer nicht, wer die Frau ist, weiß nicht, wer ihr Sohn ist, weiß nicht, warum sie mich geküsst hat. Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich muss herausfinden, wer sie ist.

„Ja, ihr Sohn ist in letzter Zeit ziemlich unkonzentriert, das merkt man besonders in Mathematik.“

„In Mathematik? Da hat der doch gut abgeschnitten.“

„Ja, aber bei den Textaufgaben hat er Schwierigkeiten, manchmal scheint er sie nicht zu verstehen. Vielleicht wegen seiner Schwierigkeiten in Deutsch.“

„Das habe ich auch bemerkt, wenn er etwas lesen soll, versteht er die Arbeitsanweisungen nicht richtig. Seine Rechtschreibung ist auch grauenhaft.“

Jetzt komme ich der Sache schon näher, der Junge hat Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung, die haben nur drei Jungen.

„Er müsste mehr lesen, aus Büchern erzählt er nicht so viel. Er hat auch Schwierigkeiten, wenn er dann etwas erzählen soll.“

„Meinen sie, ich sollte mit Adrian Diktate üben?“

Jetzt weiß ich es, der Junge heißt Adrian. Ich schaue in meinen Unterlagen nach, Adrian Wernet, heißt er, sie ist also Claudia Wernet.

„Diktate üben, ich glaube ja, täglich ein kleines Diktat, er sollte es dann selber berichtigen.“

Die Kollegin hat ihre Arbeit am PC beendet, sagt: „Also dann bis Morgen“ und geht.
Kaum ist sie draußen, umarmt mich Frau Wernet wieder:

„Ich habe dich so vermisst. Können wir uns am Donnerstag treffen? Donnerstag 20.00 Uhr wie immer, da wo wir letztes Mal waren?“

Ich weiß nicht wo wir das letzte Mal waren, weiß überhaupt nicht, dass wir zusammen waren, nicke aber.
Frau Wernet geht, winkt, wirft mir noch eine Kusshand zu.

Als ich nach Hause komme, bin ich geschafft. Meine Frau Petra ist nicht da. Gott sei Dank, denke ich, lege mich gleich ins Bett und denke nach.
Ich kann mich nicht erinnern, woher und wie gut ich Claudia kenne, weiß nicht, welche Beziehung wir miteinander haben, ich muss zum Arzt.

Als ich abends nach Hause komme, finde ich meinen Mann zunächst nicht, er ist schon im Schlafzimmer, liegt im Bett, aber er schläft nicht. Er starrt gegen die Decke, sieht abgespannt aus.
Brot hat er natürlich auch nicht eingekauft.
Ich erzähle ihm, dass ich bei Carmen war, am Samstag würde sie mit ihrem Mann zum Abendessen kommen. Vielleicht zusammen mit Beate und Rolf.
Paul ist wenig begeistert, als er das hört, er sei krank, sagt er, müsse zum Arzt. Er könne sich nicht konzentrieren, habe manchmal Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern. Bei den Elterngesprächen heute, habe er deswegen Probleme gehabt.

Es ist Samstagabend Carmen und Jürgen, Beate und Rolf sind gekommen. Paul hat gekocht, wurde dabei immer unzufriedener mit sich, erinnerte sich nicht an Rezepte von Mahlzeiten, die er schon oft zubereitet hatte.
Zuerst stoßen wir mit Sekt an.
Wir sprechen von unserer Arbeit und über Reisen. Paul sagt wenig, geht dann nach draußen. Als er wieder rein kommt sagt er:
„Also lasst uns jetzt endlich mal anstoßen.“

Alle schauen sich an, Paul merkt, dass irgendetwas falsch gelaufen ist und lacht etwas verkrampft. Ich helfe ihm:
„Doppelt genäht hält besser“, sage ich.

Die Stimmung wird beim Essen gelöster. Paul erzählt von seinem Aufenthalt in Kolumbien vor zwanzig Jahren, viele Einzelheiten, es wird viel gelacht.
Als ihn dann Jürgen fragt, ob er schon alles vorbereitet habe für das nächste Wochenende, schaut Paul ihn etwas hilflos an.
„Nächstes Wochenende?“
„Ja, nächstes Wochenende. Wir wollen doch zusammen zum Angeln fahren.“
„Ach ja, klar, alles vorbereitet.“

Ich bin froh, das jetzt alle wieder weg sind, bin irritiert, habe gemerkt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu erinnern.
Auch das Sprechen ist mir schwer gefallen, die andern haben hoffentlich gedacht, dass ich zu viel getrunken habe.
Ich bin müde.

Wir gehen bald ins Bett, Paul schläft sofort ein. In letzter Zeit dauert sein Schlaf nur wenige Stunden, dann geistert er unruhig im Haus herum.
Ich kann nicht gleich einschlafen, in meinem Kopf läuft alles durcheinander. Paul konnte sich nicht erinnern, dass er mit Jürgen zum Angeln fahren wollte, dass wir schon mit Sekt angestoßen hatten. Er erzählte einige Geschichten gleich zweimal, verlor öfter den Faden.
Endlich schlafe ich ein.

Ich bin gegen 2.00 Uhr in der Nacht wieder aufgewacht, stehe leise auf, um Susanne nicht zu wecken. Auf der Terrasse rauche ich eine Zigarette. Alles ist ruhig. Ich schaue die Sterne an, erinnere mich an eine Nacht mit meinem Vater. Ich war damals wohl acht Jahre alt. Wir schauten zusammen die Sterne an und er erzählte mir, dass sie sehr weit weg wären, soweit weg, dass möglicherweise einige gar nicht mehr existierten, der letzte Lichtstrahl von ihnen sei noch nicht bei uns angekommen.
Das ist schon lange her.
Als ich das Feuerzeug wieder in die Hosentasche stecke, spüre ich ein Blatt Papier. In letzter Zeit schreibe ich mir alles auf, was ich unbedingt behalten muss. In der Küche lese ich: Claudia anrufen – Donnerstag nicht.
Claudia? Welche Claudia? Ich setze mich an den Küchentisch, konzentriere mich, dann fällt es mir wieder ein: Mit Claudia sollte ich mich treffen, warum, wann genau und wo weiß ich nicht. Ich kann mich an kein Treffen mit ihr erinnern.
Ich lege mich wieder ins Bett.

Als ich aufwache, ist Susanne schon zur Arbeit gefahren. Sie arbeitet halbtags als Sekretärin bei einer Baufirma.
Ich schaue nach meinen Zetteln, suche die Telefonnummer von Claudia aus dem Schülerverzeichnis heraus.
„Hier bei Wernet. Claudia Wernet.“
„Ich bins, du am Donnerstag kann ich nicht, bin krank geschrieben. Wir müssen das verschieben.“
„So ein Mist, Manni ist von Mittwoch bis Samstag geschäftlich unterwegs, wir hätten viel Zeit für uns gehabt.“
„Ja, schade, aber ich kann wirklich nicht, es gibt genug andere Gelegenheiten.“
„Sag mal Paul, hast du das besorgt?“

Ich weiß nicht, was ich besorgen sollte oder wollte, sage, dass meine Frau gerade käme, ich müsse Schluss machen, würde sie wieder anrufen.

Meine Frau begleitet mich in die Praxis von Dr. Simmel. Wir haben unseren Besuch vereinbart, müssen nicht warten. Dr. Simmel ist seit langer Zeit unser Hausarzt.
„Gut sehen sie aus“, sagt er zu Susanne, „was für Probleme haben sie?“
„Ich habe keine, aber mein Mann hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, er vergisst Sachen, sucht dauernd irgendetwas, glaubt dann, ich hätte die Sachen weggeräumt, reagiert dann öfter ziemlich aggressiv.
Wenn er von der Schule nach Hause kommt, ist er müde, abgespannt. Er hat auch kein Interesse mehr, dass Freunde und Bekannte uns besuchen kommen.
Er hat immer viel gelesen, war an allem interessiert, diskutierte gerne, jetzt nicht mehr.
Manchmal glaube ich, dass er Depressionen hat.

Ich lasse meine Frau reden, schüttele manchmal den Kopf, im Grunde hat sie aber Recht.
Dr. Simmel schaut mich nachdenklich an, nimmt mir Blut ab und macht eine Gehirntomografie. Er sagt, ich solle Morgen noch einmal kommen. Er habe dann mehr Zeit. Ich solle alleine kommen. Er schreibt mich für eine Woche krank.

Ich bin wieder bei Dr. Simmel. Er fragt mich, ob ich denn auch merke, dass mir gewisse Dinge schwer fallen. Ja, sage ich, ich glaube, ich hätte Schwierigkeiten, mit mir und auch mit anderen.
Er sagt, einen Gehirntumor könne er ausschließen, er würde jetzt einen Test mit mir machen, einige Fragen seien zwar etwas komisch, aber sie gehörten zu diesem Test.
Er fragt mich nach dem heutigen Wochentag und wo wir uns gerade befänden.
Ich muss Wörter wiederholen, Wörter rückwärts buchstabieren, einfache Rechenaufgaben im Kopf lösen.
Dann will er wissen, ob ich mich noch an einige Wörter erinnere, die ich gerade wiederholt habe.
Ich kann mich nicht erinnern.
Ich muss Pflanzen und Musikinstrumente aufzählen, ein Blatt Papier falten, beliebige Sätze sagen und eine Figur nachzeichnen.
Zuletzt fragt er mich noch, ob ich gemerkt hätte, dass mein Geruchssinn nachgelassen habe, ob ich Schwierigkeiten beim Autofahren bemerkt hätte, nachts gut schlafen könne.
„Nachts wache ich immer wieder auf, habe dann Schwierigkeiten wieder einzuschlafen“, sage ich.
Er schaut sich die Ergebnisse auf seinem Testbogen noch einmal an, sagt dann zögernd, dass ich möglicherweise die Alzheimer – Krankheit hätte. Ich könne längere Zeit nicht mehr in der Schule arbeiten, bräuchte viel Ruhe und Bewegung an der frischen Luft, keinerlei Stress.

Ich komme von der Arbeit nach Hause, halte im Hof und steige aus. Die Haustür ist offen, Paul kann ich nicht finden. Ich gehe wieder nach draußen, schauen im Garten umher, rufe nach ihm.
Dann sehe ich ihn, er steht vor der Eingangstür des Nachbarhauses, es ist ein Reihenhaus, sieht so ähnlich aus wie unseres.
Er scheint froh zu sein, mich zu sehen, kommt zu mir begrüßt mich. Er hätte sich bei den Nachbarn etwas angeguckt, die Haustür, wir sollten unsere langsam mal erneuern.
Er müsse auch mal wieder seine Mutter anrufen, wir sollten sie einladen, sie sei immer so allein, am Wochenende.
Seine Mutter ist schon lange tot.

Ich habe dann Dr. Simmel um ein Gespräch gebeten.
Er setzt sich neben mich, hält meine Hand fest. Er sagt, dass ich eine starke Frau sei, er würde mir reinen Wein einschenken.
„Ihr Mann hat Alzheimer. Bei dieser Krankheit treten Orientierungsprobleme, Sprachschwierigkeiten und Konzentrationsstörungen auf. Langsam aber unaufhaltsam verlieren die Betroffenen ihr Gedächtnis. Häufig entwickelt sich eine Depression. Das Gehirn beginnt zugrunde zu gehen. Die Betroffenen spüren das durchaus selbst und reagieren mit Unruhe, Angst und Aggression. Im Laufe der Krankheit geschieht etwas, was man als Abschied vom Ich bezeichnen kann, das Verhalten ändert sich völlig, die Patienten erkennen ihre Umgebung und selbst ihren Partner nicht mehr, mit dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht haben. Sich selbst werden sie fremd, erkennen sich nicht im Spiegel. Schließlich werden sie dauernd pflegebedürftig, werden inkontinent, können nicht mehr alleine essen, sie können nichts mehr alleine machen. Ihr Mann wird alles vergessen, kann nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden, wird Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren, die er im Laufe seines Lebens erworben hat. Er wird die Bedeutung von Gegenständen nicht mehr einordnen können, wird nicht mehr wissen, was der Zweck von Messer oder Gabel ist.
Bis heute gibt es kein Mittel gegen diese Krankheit, durch Einweißablagerungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn wird eine Signalübertragung verhindert. Durch Medikamente kann der Krankheitsverlauf aber verzögert werden.“

„Und wie lange dauert das alles?“
„Meistens 7 Jahre, es kann aber auch viel kürzer oder viel länger dauern. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann.“

Ich verlasse die Praxis, setze mich in ein Café und trinke ein Glas Wein. Jetzt ist nichts, wie es einmal war. Es gilt Abschied zu nehmen von Paul, von all unseren Zukunftsplänen. Ich bin verzweifelt. Jeden Tag werde ich ein Stück von ihm verlieren.
Eigentlich hätte ich längst etwas merken müssen, habe es wohl verdrängt.
Ich werde meine Arbeit aufgeben, damit ich immer bei ihm sein kann, ihn so lange zu Hause pflegen, wie das möglich ist.
Ich fahre nach Hause, klingele, habe den Hausschlüssel vergessen. Mir geht es schon wie Paul, denke ich.

Ich laufe allein in der Wohnung umher, die Möbel sind wieder umgestellt worden, alles sieht ganz anders aus. Auch neue Bilder hängen an den Wänden.
Ich gehe ins Bad, will mich rasieren, schaue in den Spiegel.
Habe ich mich so verändert? Bin das tatsächlich ich?
Ich fange an mich mit dem neuen Elektrorasierer zu rasieren. Früher habe ich Rasierklingen benutzt, aber Susanne meint, ich könnte mich schneiden.

Es klingelt an der Haustür. Ich gehe zum Eingang, schaue aus dem Flurfenster. Da steht eine Frau draußen, die ich noch nie gesehen habe, sicherlich will die was verkaufen, denke ich.
Ich öffne die Tür uns sage:
„Wir haben alles, wir kaufen nichts.“

Ich schließe die Tür.
 

mitis

Mitglied
das ist eine sehr schöne geschichte, retep, und auch sehr schön geschrieben, gut nachvollziehbar, man fällt irgendwie in diese krankheit rein. ich bin von anfang bis zum schluss drangeblieben.

eine frage habe ich allerdings:
[blue]Als ich nach Hause komme, bin ich geschafft. Meine Frau Petra ist nicht da. Gott sei Dank, denke ich, lege mich gleich ins Bett und denke nach.[/blue]Ich kann mich nicht erinnern, woher und wie gut ich Claudia kenne, weiß nicht, welche Beziehung wir miteinander haben, ich muss zum Arzt.

[blue]Als ich abends nach Hause komme, finde ich meinen Mann zunächst nicht, er ist schon im Schlafzimmer, liegt im Bett, aber er schläft nicht.[/blue] Er starrt gegen die Decke, sieht abgespannt aus.
Brot hat er natürlich auch nicht eingekauft.
an dieser stelle hast du zwei ähnlich lautende passagen.
du wechselst da die perspektive zwischen mann und frau.
war das absicht? oder hast du irgendwann den text umgeschrieben und es sind hier (irrtümlich) zwei passagen drin geblieben?
ich glaube, dass du im restlichen teil nur die perspektive zwischen Pausl Ich und seinem zweiten Ich wechselst - als ausdruck seiner alzheimer-verwirrung.
der oben zitierte perspektivenwechsel zwischen mann und frau verwirrt mich zusätzlich. Wenn er absicht war, sollte er vielleicht noch einmal irgendwo vorkommen.

lg mitis
 

MarenS

Mitglied
Gut dargestellt die Personen und gut eingefühlt in eine sehr heimtückische Krankheit!

Sehr schön der Wechsel zwischen Pauls Gedanken und den Gedanken seiner Frau!

Intensiv zu lesen.

Ein kleiner Fehler:
Ich komme von der Arbeit nach Hause, halte im Hof und steige aus. Die Haustür ist offen, Paul kann ich nicht finden. Ich gehe wieder nach draußen, schaue[red]n[/red] im Garten umher, rufe nach ihm.

Kleine Anmerkung:
Dass ein Hausarzt ein CT machen kann ist recht unwahrscheinlich, ich bin richtiggehend drüber gestolpert. Der Hausarzt schickt ihn ohne Überweisung (Paul ist Beamter in gehobener Stellung und privat versichert) zum Radiologen, der dann eine CT des Gehirns machen kann.

Alles in allem eine wirklich gute Geschichte, die nicht versucht auf die Tränendrüsen zu drücken.

Grüße von Maren
 

Retep

Mitglied
Hallo mitis, hallo Maren S,

danke, dass Ihr Euch durch den Text durchgearbeitet habt, er ist ja ziemlich lang.

zu Dir mitis:
Habe ich mich so schlecht ausgedrückt, hast du nicht gemerkt, dass der Wechsel der Perspektive immer zwischen Mann und Frau passiert?
Sicher ist es nicht besonders gut, dass ich an der betreffenden Stelle fast den gleichen Wortlaut gewählt habe, das war mir bisher nicht aufgefallen.

zu Dir Maren:
Den R-Fehler werde ich gleich berichtigen,
den Ablauf solcher medizinischen Untersuchung habe ich tatsächlich falsch dargestellt.
Mal sehen, ob ich das ändern kann.

LG

Retep
 

Retep

Mitglied
Hallo Maren,

als ich schaue in schaue[red]n[/red] berichtigen wollte, habe ich gemerkt, dass es doch wohl schaue heißen muss.

Retep
 

Retep

Mitglied
Jeden Tag ein Stück von dir


Das fing langsam an. Ich nahm das zunächst gar nicht wahr. Das ist normal, ich werde eben älter, bin jetzt sechzig, dachte ich.
Namen hatte ich noch nie gut behalten können. Irgendetwas suchte ich schon immer, dachte dann, meine Frau hätte es weggeräumt. Kein Grund sich aufzuregen, hatte ich gedacht. Beim Joggen wusste ich letzthin nicht, wo ich war, fand mich dann aber zurecht, ich ging in den Keller, wollte etwas holen und wusste dann nicht mehr was, suchte einen Schlüssel und hatte ihn in der Hand.

Die Ferien sind vorbei, erster Schultag. Ich habe z.Zt. eine vierte Klasse. Ich unterrichte sie schon drei Jahre lang, habe mich an die Kinder gewöhnt, kenne ihre Schwächen und Stärken.
Ihre Eltern lernte ich hauptsächlich bei Elternabenden kennen, zweimal im Jahre sehe ich sie, wenn nichts Außergewöhnliches vorfällt, etwas, das ich nicht alleine regeln kann.
Bei meiner Arbeit versuche ich so wenig wie möglich Eltern zu „belästigen“, erwarte auch von ihnen, dass sie sich nicht wegen jeder Kleinigkeit beschweren, versuche alles mit den Kindern direkt zu regeln. Das kommt gut an.
Ich mache meine Arbeit gerne, bin aber froh, dass ich nicht 28 Stunden unterrichten muss, sondern nur 15. Der Rest des Deputates ist für Verwaltungsarbeiten bestimmt.

Montag, erste Unterrichtsstunde nach sechs Wochen. Die Kinder erzählen von ihren Ferienerlebnissen, viele waren im Ausland mit ihren Eltern. Als ich noch zur Schule ging war das anders, wir hatten kein Geld für Ferien im Ausland.
Ich merke, dass mir einige Namen von Schülern entfallen sind, schaue in der Schüllerliste unauffällig nach, kann die Namen den Schülern zuordnen, erinnere mich wieder. Das ist mir in den letzten Jahren schon öfter passiert, denke ich.
In der Pause begrüße ich alle Lehrerinnen und Lehrer. Ich will ihnen eine neue Kollegin vorstellen. Sie war am Anfang der Ferien bei mir. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen.

Ich freue mich aufs Mittagessen, habe einen Riesenhunger.

„Hast du die Milch mitgebracht?“, fragt mich meine Frau.
„Welche Milch?“
„Na ich hatte dich doch gebeten auf dem Rückweg von der Schule Milch einzukaufen.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Du hörst eben nie zu.“

Ich glaube, er vergisst immer mehr, bin besorgt. Es sind zwar nur Kleinigkeiten, aber sie passieren immer öfter. Er sucht dauernd etwas, seine Brille, seinen Geldbeutel, letzthin lagen seine Autoschlüssel im Kühlschrank!
Er kommt müde und abgespannt aus der Schule, schläft dann am Nachmittag recht lange, ist manchmal sehr gereizt.
Wenn wir miteinander diskutieren, kann er sich manchmal nicht an Namen von Bekannten erinnern.
Er ist ruhiger geworden, nachdenklicher, spricht weniger. Vielleicht sollte er mal zum Arzt gehen.

Heute Nachmittag habe ich Sprechstunde in der Schule. Eine Frau kommt in mein Büro. Sie umarmt mich und küsst mich auf den Mund. Ich versuche meine Verwirrung zu verbergen. Eine äußerst attraktive Frau ist sie, lange schwarze Haare, grüne Augen, tolle Figur, etwas älter als dreißig. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.
Wir setzen uns an den Tisch, es klopft, eine Kollegin kommt herein, sagt, sie würde den PC wieder in Ordnung bringen, wie wir es heute Vormittag besprochen hätten. Ich kann mich zwar an ein Gespräch mit ihr nicht erinnern, bin aber froh, dass sie da ist.

„Ja, ich glaube ich muss mal mit ihnen über meinen Sohn sprechen, sein Zeugnis war ja nicht umwerfend. Ich brauche ihren Rat, was kann man da machen?“

Ich weiß noch immer nicht, wer die Frau ist, weiß nicht, wer ihr Sohn ist, weiß nicht, warum sie mich geküsst hat. Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich muss herausfinden, wer sie ist.

„Ja, ihr Sohn ist in letzter Zeit ziemlich unkonzentriert, das merkt man besonders in Mathematik.“

„In Mathematik? Da hat der doch gut abgeschnitten.“

„Ja, aber bei den Textaufgaben hat er Schwierigkeiten, manchmal scheint er sie nicht zu verstehen. Vielleicht wegen seiner Schwierigkeiten in Deutsch.“

„Das habe ich auch bemerkt, wenn er etwas lesen soll, versteht er die Arbeitsanweisungen nicht richtig. Seine Rechtschreibung ist auch grauenhaft.“

Jetzt komme ich der Sache schon näher, der Junge hat Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung, die haben nur drei Jungen.

„Er müsste mehr lesen, aus Büchern erzählt er nicht so viel. Er hat auch Schwierigkeiten, wenn er dann etwas erzählen soll.“

„Meinen sie, ich sollte mit Adrian Diktate üben?“

Jetzt weiß ich es, der Junge heißt Adrian. Ich schaue in meinen Unterlagen nach, Adrian Wernet, heißt er, sie ist also Claudia Wernet.

„Diktate üben, ich glaube ja, täglich ein kleines Diktat, er sollte es dann selber berichtigen.“

Die Kollegin hat ihre Arbeit am PC beendet, sagt: „Also dann bis Morgen“ und geht.
Kaum ist sie draußen, umarmt mich Frau Wernet wieder:

„Ich habe dich so vermisst. Können wir uns am Donnerstag treffen? Donnerstag 20.00 Uhr wie immer, da wo wir letztes Mal waren?“

Ich weiß nicht wo wir das letzte Mal waren, weiß überhaupt nicht, dass wir zusammen waren, nicke aber.
Frau Wernet geht, winkt, wirft mir noch eine Kusshand zu.

Als ich nach Hause komme, bin ich geschafft. Meine Frau Petra ist nicht da. Gott sei Dank, denke ich, lege mich gleich ins Bett und denke nach.
Ich kann mich nicht erinnern, woher und wie gut ich Claudia kenne, weiß nicht, welche Beziehung wir miteinander haben, ich muss zum Arzt.

Als ich abends nach Hause komme, finde ich meinen Mann zunächst nicht, er ist schon im Schlafzimmer, liegt im Bett, aber er schläft nicht. Er starrt gegen die Decke, sieht abgespannt aus.
Brot hat er natürlich auch nicht eingekauft.
Ich erzähle ihm, dass ich bei Carmen war, am Samstag würde sie mit ihrem Mann zum Abendessen kommen. Vielleicht zusammen mit Beate und Rolf.
Paul ist wenig begeistert, als er das hört, er sei krank, sagt er, müsse zum Arzt. Er könne sich nicht konzentrieren, habe manchmal Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern. Bei den Elterngesprächen heute, habe er deswegen Probleme gehabt.

Es ist Samstagabend Carmen und Jürgen, Beate und Rolf sind gekommen. Paul hat gekocht, wurde dabei immer unzufriedener mit sich, erinnerte sich nicht an Rezepte von Mahlzeiten, die er schon oft zubereitet hatte.
Zuerst stoßen wir mit Sekt an.
Wir sprechen von unserer Arbeit und über Reisen. Paul sagt wenig, geht dann nach draußen. Als er wieder rein kommt sagt er:
„Also lasst uns jetzt endlich mal anstoßen.“

Alle schauen sich an, Paul merkt, dass irgendetwas falsch gelaufen ist und lacht etwas verkrampft. Ich helfe ihm:
„Doppelt genäht hält besser“, sage ich.

Die Stimmung wird beim Essen gelöster. Paul erzählt von seinem Aufenthalt in Kolumbien vor zwanzig Jahren, viele Einzelheiten, es wird viel gelacht.
Als ihn dann Jürgen fragt, ob er schon alles vorbereitet habe für das nächste Wochenende, schaut Paul ihn etwas hilflos an.
„Nächstes Wochenende?“
„Ja, nächstes Wochenende. Wir wollen doch zusammen zum Angeln fahren.“
„Ach ja, klar, alles vorbereitet.“

Ich bin froh, das jetzt alle wieder weg sind, bin irritiert, habe gemerkt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu erinnern.
Auch das Sprechen ist mir schwer gefallen, die andern haben hoffentlich gedacht, dass ich zu viel getrunken habe.
Ich bin müde.

Wir gehen bald ins Bett, Paul schläft sofort ein. In letzter Zeit dauert sein Schlaf nur wenige Stunden, dann geistert er unruhig im Haus herum.
Ich kann nicht gleich einschlafen, in meinem Kopf läuft alles durcheinander. Paul konnte sich nicht erinnern, dass er mit Jürgen zum Angeln fahren wollte, dass wir schon mit Sekt angestoßen hatten. Er erzählte einige Geschichten gleich zweimal, verlor öfter den Faden.
Endlich schlafe ich ein.

Ich bin gegen 2.00 Uhr in der Nacht wieder aufgewacht, stehe leise auf, um Susanne nicht zu wecken. Auf der Terrasse rauche ich eine Zigarette. Alles ist ruhig. Ich schaue die Sterne an, erinnere mich an eine Nacht mit meinem Vater. Ich war damals wohl acht Jahre alt. Wir schauten zusammen die Sterne an und er erzählte mir, dass sie sehr weit weg wären, soweit weg, dass möglicherweise einige gar nicht mehr existierten, der letzte Lichtstrahl von ihnen sei noch nicht bei uns angekommen.
Das ist schon lange her.
Als ich das Feuerzeug wieder in die Hosentasche stecke, spüre ich ein Blatt Papier. In letzter Zeit schreibe ich mir alles auf, was ich unbedingt behalten muss. In der Küche lese ich: Claudia anrufen – Donnerstag nicht.
Claudia? Welche Claudia? Ich setze mich an den Küchentisch, konzentriere mich, dann fällt es mir wieder ein: Mit Claudia sollte ich mich treffen, warum, wann genau und wo weiß ich nicht. Ich kann mich an kein Treffen mit ihr erinnern.
Ich lege mich wieder ins Bett.

Als ich aufwache, ist Susanne schon zur Arbeit gefahren. Sie arbeitet halbtags als Sekretärin bei einer Baufirma.
Ich schaue nach meinen Zetteln, suche die Telefonnummer von Claudia aus dem Schülerverzeichnis heraus.
„Hier bei Wernet. Claudia Wernet.“
„Ich bins, du am Donnerstag kann ich nicht, bin krank geschrieben. Wir müssen das verschieben.“
„So ein Mist, Manni ist von Mittwoch bis Samstag geschäftlich unterwegs, wir hätten viel Zeit für uns gehabt.“
„Ja, schade, aber ich kann wirklich nicht, es gibt genug andere Gelegenheiten.“
„Sag mal Paul, hast du das besorgt?“

Ich weiß nicht, was ich besorgen sollte oder wollte, sage, dass meine Frau gerade käme, ich müsse Schluss machen, würde sie wieder anrufen.

Meine Frau begleitet mich in die Praxis von Dr. Simmel. Wir haben unseren Besuch vereinbart, müssen nicht warten. Dr. Simmel ist seit langer Zeit unser Hausarzt.
„Gut sehen sie aus“, sagt er zu Susanne, „was für Probleme haben sie?“
„Ich habe keine, aber mein Mann hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, er vergisst Sachen, sucht dauernd irgendetwas, glaubt dann, ich hätte die Sachen weggeräumt, reagiert dann öfter ziemlich aggressiv.
Wenn er von der Schule nach Hause kommt, ist er müde, abgespannt. Er hat auch kein Interesse mehr, dass Freunde und Bekannte uns besuchen kommen.
Er hat immer viel gelesen, war an allem interessiert, diskutierte gerne, jetzt nicht mehr.
Manchmal glaube ich, dass er Depressionen hat.

Ich lasse meine Frau reden, schüttele manchmal den Kopf, im Grunde hat sie aber Recht.
Dr. Simmel schaut mich nachdenklich an, nimmt mir Blut ab und schickt mich dann zu einem Radiologen. Er sagt noch, ich solle Morgen noch einmal kommen. Er habe dann mehr Zeit. Ich solle alleine kommen. Er schreibt mich für eine Woche krank.

Ich bin wieder bei Dr. Simmel. Er fragt mich, ob ich denn auch merke, dass mir gewisse Dinge schwer fallen. Ja, sage ich, ich glaube, ich hätte Schwierigkeiten, mit mir und auch mit anderen.
Er sagt, einen Gehirntumor könne er auf grund des Ergebnisses der Gehirnthomografie ausschließen.Er würde jetzt einen Test mit mir machen, einige Fragen seien zwar etwas komisch, aber sie gehörten zu diesem Test.
Er fragt mich nach dem heutigen Wochentag und wo wir uns gerade befänden.
Ich muss Wörter wiederholen, Wörter rückwärts buchstabieren, einfache Rechenaufgaben im Kopf lösen.
Dann will er wissen, ob ich mich noch an einige Wörter erinnere, die ich gerade wiederholt habe.
Ich kann mich nicht erinnern.
Ich muss Pflanzen und Musikinstrumente aufzählen, ein Blatt Papier falten, beliebige Sätze sagen und eine Figur nachzeichnen.
Zuletzt fragt er mich noch, ob ich gemerkt hätte, dass mein Geruchssinn nachgelassen habe, ob ich Schwierigkeiten beim Autofahren bemerkt hätte, nachts gut schlafen könne.
„Nachts wache ich immer wieder auf, habe dann Schwierigkeiten wieder einzuschlafen“, sage ich.
Er schaut sich die Ergebnisse auf seinem Testbogen noch einmal an, sagt dann zögernd, dass ich möglicherweise die Alzheimer – Krankheit hätte. Ich könne längere Zeit nicht mehr in der Schule arbeiten, bräuchte viel Ruhe und Bewegung an der frischen Luft, keinerlei Stress.

Ich komme von der Arbeit nach Hause, halte im Hof und steige aus. Die Haustür ist offen, Paul kann ich nicht finden. Ich gehe wieder nach draußen, schauen im Garten umher, rufe nach ihm.
Dann sehe ich ihn, er steht vor der Eingangstür des Nachbarhauses, es ist ein Reihenhaus, sieht so ähnlich aus wie unseres.
Er scheint froh zu sein, mich zu sehen, kommt zu mir begrüßt mich. Er hätte sich bei den Nachbarn etwas angeguckt, die Haustür, wir sollten unsere langsam mal erneuern.
Er müsse auch mal wieder seine Mutter anrufen, wir sollten sie einladen, sie sei immer so allein, am Wochenende.
Seine Mutter ist schon lange tot.

Ich habe dann Dr. Simmel um ein Gespräch gebeten.
Er setzt sich neben mich, hält meine Hand fest. Er sagt, dass ich eine starke Frau sei, er würde mir reinen Wein einschenken.
„Ihr Mann hat Alzheimer. Bei dieser Krankheit treten Orientierungsprobleme, Sprachschwierigkeiten und Konzentrationsstörungen auf. Langsam aber unaufhaltsam verlieren die Betroffenen ihr Gedächtnis. Häufig entwickelt sich eine Depression. Das Gehirn beginnt zugrunde zu gehen. Die Betroffenen spüren das durchaus selbst und reagieren mit Unruhe, Angst und Aggression. Im Laufe der Krankheit geschieht etwas, was man als Abschied vom Ich bezeichnen kann, das Verhalten ändert sich völlig, die Patienten erkennen ihre Umgebung und selbst ihren Partner nicht mehr, mit dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht haben. Sich selbst werden sie fremd, erkennen sich nicht im Spiegel. Schließlich werden sie dauernd pflegebedürftig, werden inkontinent, können nicht mehr alleine essen, sie können nichts mehr alleine machen. Ihr Mann wird alles vergessen, kann nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden, wird Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren, die er im Laufe seines Lebens erworben hat. Er wird die Bedeutung von Gegenständen nicht mehr einordnen können, wird nicht mehr wissen, was der Zweck von Messer oder Gabel ist.
Bis heute gibt es kein Mittel gegen diese Krankheit, durch Einweißablagerungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn wird eine Signalübertragung verhindert. Durch Medikamente kann der Krankheitsverlauf aber verzögert werden.“

„Und wie lange dauert das alles?“
„Meistens 7 Jahre, es kann aber auch viel kürzer oder viel länger dauern. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann.“

Ich verlasse die Praxis, setze mich in ein Café und trinke ein Glas Wein. Jetzt ist nichts, wie es einmal war. Es gilt Abschied zu nehmen von Paul, von all unseren Zukunftsplänen. Ich bin verzweifelt. Jeden Tag werde ich ein Stück von ihm verlieren.
Eigentlich hätte ich längst etwas merken müssen, habe es wohl verdrängt.
Ich werde meine Arbeit aufgeben, damit ich immer bei ihm sein kann, ihn so lange zu Hause pflegen, wie das möglich ist.
Ich fahre nach Hause, klingele, habe den Hausschlüssel vergessen. Mir geht es schon wie Paul, denke ich.

Ich laufe allein in der Wohnung umher, die Möbel sind wieder umgestellt worden, alles sieht ganz anders aus. Auch neue Bilder hängen an den Wänden.
Ich gehe ins Bad, will mich rasieren, schaue in den Spiegel.
Habe ich mich so verändert? Bin das tatsächlich ich?
Ich fange an mich mit dem neuen Elektrorasierer zu rasieren. Früher habe ich Rasierklingen benutzt, aber Susanne meint, ich könnte mich schneiden.

Es klingelt an der Haustür. Ich gehe zum Eingang, schaue aus dem Flurfenster. Da steht eine Frau draußen, die ich noch nie gesehen habe, sicherlich will die was verkaufen, denke ich.
Ich öffne die Tür uns sage:
„Wir haben alles, wir kaufen nichts.“

Ich schließe die Tür.
 

mitis

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ich habe den text mehrmals gelesen und dachte ehrlich immer, dass paul und sein alter ego miteinander/übereinander reden.
nach deinem hinweis habe ich es noch einmal gelesen, und der perspektivenwechsel mann-frau war jetzt sehr klar.
es kann also an dem text nicht liegen, nur daran, dass ich gerade vor dem ersten lesen ein buch über persönlichkeitsspaltungen in der arbeit hatte - und gedanklich von dort wohl einiges in deinen text mitgenommen habe.

im nachhinein finde ich die von mir vorhin kritisierte "doppelte" passage übrigens gar nicht schlecht.
ich würde nur vielleicht zweimal exakt dieselbe formulierung verwenden, einmal aus seiner, einmal aus ihrer perspektive. dann wird klarer, dass du sie bewusst einsetzt.

was meinst du?

jedenfalls ein sehr guter, einfühlsamer text. die perspektiven fließen sowieso irgendwann ineinander und auseinander bei dieser krankheit.

lg mitis
 

Retep

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Jeden Tag ein Stück von dir


Das fing langsam an. Ich nahm das zunächst gar nicht wahr. Das ist normal, ich werde eben älter, bin jetzt sechzig, dachte ich.
Namen hatte ich noch nie gut behalten können. Irgendetwas suchte ich schon immer, dachte dann, meine Frau hätte es weggeräumt. Kein Grund sich aufzuregen, hatte ich gedacht. Beim Joggen wusste ich letzthin nicht, wo ich war, fand mich dann aber zurecht, ich ging in den Keller, wollte etwas holen und wusste dann nicht mehr was, suchte einen Schlüssel und hatte ihn in der Hand.

Die Ferien sind vorbei, erster Schultag. Ich habe z.Zt. eine vierte Klasse. Ich unterrichte sie schon drei Jahre lang, habe mich an die Kinder gewöhnt, kenne ihre Schwächen und Stärken.
Ihre Eltern lernte ich hauptsächlich bei Elternabenden kennen, zweimal im Jahre sehe ich sie, wenn nichts Außergewöhnliches vorfällt, etwas, das ich nicht alleine regeln kann.
Bei meiner Arbeit versuche ich so wenig wie möglich Eltern zu „belästigen“, erwarte auch von ihnen, dass sie sich nicht wegen jeder Kleinigkeit beschweren, versuche alles mit den Kindern direkt zu regeln. Das kommt gut an.
Ich mache meine Arbeit gerne, bin aber froh, dass ich nicht 28 Stunden unterrichten muss, sondern nur 15. Der Rest des Deputates ist für Verwaltungsarbeiten bestimmt.

Montag, erste Unterrichtsstunde nach sechs Wochen. Die Kinder erzählen von ihren Ferienerlebnissen, viele waren im Ausland mit ihren Eltern. Als ich noch zur Schule ging war das anders, wir hatten kein Geld für Ferien im Ausland.
Ich merke, dass mir einige Namen von Schülern entfallen sind, schaue in der Schüllerliste unauffällig nach, kann die Namen den Schülern zuordnen, erinnere mich wieder. Das ist mir in den letzten Jahren schon öfter passiert, denke ich.
In der Pause begrüße ich alle Lehrerinnen und Lehrer. Ich will ihnen eine neue Kollegin vorstellen. Sie war am Anfang der Ferien bei mir. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen.

Ich freue mich aufs Mittagessen, habe einen Riesenhunger.

„Hast du die Milch mitgebracht?“, fragt mich meine Frau.
„Welche Milch?“
„Na ich hatte dich doch gebeten auf dem Rückweg von der Schule Milch einzukaufen.“
„Davon weiß ich nichts.“
„Du hörst eben nie zu.“

Ich glaube, er vergisst immer mehr, bin besorgt. Es sind zwar nur Kleinigkeiten, aber sie passieren immer öfter. Er sucht dauernd etwas, seine Brille, seinen Geldbeutel, letzthin lagen seine Autoschlüssel im Kühlschrank!
Er kommt müde und abgespannt aus der Schule, schläft dann am Nachmittag recht lange, ist manchmal sehr gereizt.
Wenn wir miteinander diskutieren, kann er sich manchmal nicht an Namen von Bekannten erinnern.
Er ist ruhiger geworden, nachdenklicher, spricht weniger. Vielleicht sollte er mal zum Arzt gehen.

Heute Nachmittag habe ich Sprechstunde in der Schule. Eine Frau kommt in mein Büro. Sie umarmt mich und küsst mich auf den Mund. Ich versuche meine Verwirrung zu verbergen. Eine äußerst attraktive Frau ist sie, lange schwarze Haare, grüne Augen, tolle Figur, etwas älter als dreißig. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor.
Wir setzen uns an den Tisch, es klopft, eine Kollegin kommt herein, sagt, sie würde den PC wieder in Ordnung bringen, wie wir es heute Vormittag besprochen hätten. Ich kann mich zwar an ein Gespräch mit ihr nicht erinnern, bin aber froh, dass sie da ist.

„Ja, ich glaube ich muss mal mit ihnen über meinen Sohn sprechen, sein Zeugnis war ja nicht umwerfend. Ich brauche ihren Rat, was kann man da machen?“

Ich weiß noch immer nicht, wer die Frau ist, weiß nicht, wer ihr Sohn ist, weiß nicht, warum sie mich geküsst hat. Ich versuche mich zu konzentrieren. Ich muss herausfinden, wer sie ist.

„Ja, ihr Sohn ist in letzter Zeit ziemlich unkonzentriert, das merkt man besonders in Mathematik.“

„In Mathematik? Da hat der doch gut abgeschnitten.“

„Ja, aber bei den Textaufgaben hat er Schwierigkeiten, manchmal scheint er sie nicht zu verstehen. Vielleicht wegen seiner Schwierigkeiten in Deutsch.“

„Das habe ich auch bemerkt, wenn er etwas lesen soll, versteht er die Arbeitsanweisungen nicht richtig. Seine Rechtschreibung ist auch grauenhaft.“

Jetzt komme ich der Sache schon näher, der Junge hat Schwierigkeiten bei der Rechtschreibung, die haben nur drei Jungen.

„Er müsste mehr lesen, aus Büchern erzählt er nicht so viel. Er hat auch Schwierigkeiten, wenn er dann etwas erzählen soll.“

„Meinen sie, ich sollte mit Adrian Diktate üben?“

Jetzt weiß ich es, der Junge heißt Adrian. Ich schaue in meinen Unterlagen nach, Adrian Wernet, heißt er, sie ist also Claudia Wernet.

„Diktate üben, ich glaube ja, täglich ein kleines Diktat, er sollte es dann selber berichtigen.“

Die Kollegin hat ihre Arbeit am PC beendet, sagt: „Also dann bis Morgen“ und geht.
Kaum ist sie draußen, umarmt mich Frau Wernet wieder:

„Ich habe dich so vermisst. Können wir uns am Donnerstag treffen? Donnerstag 20.00 Uhr wie immer, da wo wir letztes Mal waren?“

Ich weiß nicht wo wir das letzte Mal waren, weiß überhaupt nicht, dass wir zusammen waren, nicke aber.
Frau Wernet geht, winkt, wirft mir noch eine Kusshand zu.

Als ich abends nach Hause komme, bin ich geschafft. Meine Frau Petra ist nicht da. Gott sei Dank, denke ich, lege mich gleich ins Bett und denke nach.
Ich kann mich nicht erinnern, woher und wie gut ich Claudia kenne, weiß nicht, welche Beziehung wir miteinander haben, ich muss zum Arzt.

Als ich abends nach Hause komme, finde ich meinen Mann zunächst nicht, er ist schon im Schlafzimmer, liegt im Bett, aber er schläft nicht. Er starrt gegen die Decke, sieht abgespannt aus.
Brot hat er natürlich auch nicht eingekauft.
Ich erzähle ihm, dass ich bei Carmen war, am Samstag würde sie mit ihrem Mann zum Abendessen kommen. Vielleicht zusammen mit Beate und Rolf.
Paul ist wenig begeistert, als er das hört, er sei krank, sagt er, müsse zum Arzt. Er könne sich nicht konzentrieren, habe manchmal Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern. Bei den Elterngesprächen heute, habe er deswegen Probleme gehabt.

Es ist Samstagabend Carmen und Jürgen, Beate und Rolf sind gekommen. Paul hat gekocht, wurde dabei immer unzufriedener mit sich, erinnerte sich nicht an Rezepte von Mahlzeiten, die er schon oft zubereitet hatte.
Zuerst stoßen wir mit Sekt an.
Wir sprechen von unserer Arbeit und über Reisen. Paul sagt wenig, geht dann nach draußen. Als er wieder rein kommt sagt er:
„Also lasst uns jetzt endlich mal anstoßen.“

Alle schauen sich an, Paul merkt, dass irgendetwas falsch gelaufen ist und lacht etwas verkrampft. Ich helfe ihm:
„Doppelt genäht hält besser“, sage ich.

Die Stimmung wird beim Essen gelöster. Paul erzählt von seinem Aufenthalt in Kolumbien vor zwanzig Jahren, viele Einzelheiten, es wird viel gelacht.
Als ihn dann Jürgen fragt, ob er schon alles vorbereitet habe für das nächste Wochenende, schaut Paul ihn etwas hilflos an.
„Nächstes Wochenende?“
„Ja, nächstes Wochenende. Wir wollen doch zusammen zum Angeln fahren.“
„Ach ja, klar, alles vorbereitet.“

Ich bin froh, das jetzt alle wieder weg sind, bin irritiert, habe gemerkt, dass ich Schwierigkeiten hatte, mich zu erinnern.
Auch das Sprechen ist mir schwer gefallen, die andern haben hoffentlich gedacht, dass ich zu viel getrunken habe.
Ich bin müde.

Wir gehen bald ins Bett, Paul schläft sofort ein. In letzter Zeit dauert sein Schlaf nur wenige Stunden, dann geistert er unruhig im Haus herum.
Ich kann nicht gleich einschlafen, in meinem Kopf läuft alles durcheinander. Paul konnte sich nicht erinnern, dass er mit Jürgen zum Angeln fahren wollte, dass wir schon mit Sekt angestoßen hatten. Er erzählte einige Geschichten gleich zweimal, verlor öfter den Faden.
Endlich schlafe ich ein.

Ich bin gegen 2.00 Uhr in der Nacht wieder aufgewacht, stehe leise auf, um Susanne nicht zu wecken. Auf der Terrasse rauche ich eine Zigarette. Alles ist ruhig. Ich schaue die Sterne an, erinnere mich an eine Nacht mit meinem Vater. Ich war damals wohl acht Jahre alt. Wir schauten zusammen die Sterne an und er erzählte mir, dass sie sehr weit weg wären, soweit weg, dass möglicherweise einige gar nicht mehr existierten, der letzte Lichtstrahl von ihnen sei noch nicht bei uns angekommen.
Das ist schon lange her.
Als ich das Feuerzeug wieder in die Hosentasche stecke, spüre ich ein Blatt Papier. In letzter Zeit schreibe ich mir alles auf, was ich unbedingt behalten muss. In der Küche lese ich: Claudia anrufen – Donnerstag nicht.
Claudia? Welche Claudia? Ich setze mich an den Küchentisch, konzentriere mich, dann fällt es mir wieder ein: Mit Claudia sollte ich mich treffen, warum, wann genau und wo weiß ich nicht. Ich kann mich an kein Treffen mit ihr erinnern.
Ich lege mich wieder ins Bett.

Als ich aufwache, ist Susanne schon zur Arbeit gefahren. Sie arbeitet halbtags als Sekretärin bei einer Baufirma.
Ich schaue nach meinen Zetteln, suche die Telefonnummer von Claudia aus dem Schülerverzeichnis heraus.
„Hier bei Wernet. Claudia Wernet.“
„Ich bins, du am Donnerstag kann ich nicht, bin krank geschrieben. Wir müssen das verschieben.“
„So ein Mist, Manni ist von Mittwoch bis Samstag geschäftlich unterwegs, wir hätten viel Zeit für uns gehabt.“
„Ja, schade, aber ich kann wirklich nicht, es gibt genug andere Gelegenheiten.“
„Sag mal Paul, hast du das besorgt?“

Ich weiß nicht, was ich besorgen sollte oder wollte, sage, dass meine Frau gerade käme, ich müsse Schluss machen, würde sie wieder anrufen.

Meine Frau begleitet mich in die Praxis von Dr. Simmel. Wir haben unseren Besuch vereinbart, müssen nicht warten. Dr. Simmel ist seit langer Zeit unser Hausarzt.
„Gut sehen sie aus“, sagt er zu Susanne, „was für Probleme haben sie?“
„Ich habe keine, aber mein Mann hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, er vergisst Sachen, sucht dauernd irgendetwas, glaubt dann, ich hätte die Sachen weggeräumt, reagiert dann öfter ziemlich aggressiv.
Wenn er von der Schule nach Hause kommt, ist er müde, abgespannt. Er hat auch kein Interesse mehr, dass Freunde und Bekannte uns besuchen kommen.
Er hat immer viel gelesen, war an allem interessiert, diskutierte gerne, jetzt nicht mehr.
Manchmal glaube ich, dass er Depressionen hat.

Ich lasse meine Frau reden, schüttele manchmal den Kopf, im Grunde hat sie aber Recht.
Dr. Simmel schaut mich nachdenklich an, nimmt mir Blut ab und schickt mich dann zu einem Radiologen. Er sagt noch, ich solle Morgen noch einmal kommen. Er habe dann mehr Zeit. Ich solle alleine kommen. Er schreibt mich für eine Woche krank.

Ich bin wieder bei Dr. Simmel. Er fragt mich, ob ich denn auch merke, dass mir gewisse Dinge schwer fallen. Ja, sage ich, ich glaube, ich hätte Schwierigkeiten, mit mir und auch mit anderen.
Er sagt, einen Gehirntumor könne er auf grund des Ergebnisses der Gehirnthomografie ausschließen.Er würde jetzt einen Test mit mir machen, einige Fragen seien zwar etwas komisch, aber sie gehörten zu diesem Test.
Er fragt mich nach dem heutigen Wochentag und wo wir uns gerade befänden.
Ich muss Wörter wiederholen, Wörter rückwärts buchstabieren, einfache Rechenaufgaben im Kopf lösen.
Dann will er wissen, ob ich mich noch an einige Wörter erinnere, die ich gerade wiederholt habe.
Ich kann mich nicht erinnern.
Ich muss Pflanzen und Musikinstrumente aufzählen, ein Blatt Papier falten, beliebige Sätze sagen und eine Figur nachzeichnen.
Zuletzt fragt er mich noch, ob ich gemerkt hätte, dass mein Geruchssinn nachgelassen habe, ob ich Schwierigkeiten beim Autofahren bemerkt hätte, nachts gut schlafen könne.
„Nachts wache ich immer wieder auf, habe dann Schwierigkeiten wieder einzuschlafen“, sage ich.
Er schaut sich die Ergebnisse auf seinem Testbogen noch einmal an, sagt dann zögernd, dass ich möglicherweise die Alzheimer – Krankheit hätte. Ich könne längere Zeit nicht mehr in der Schule arbeiten, bräuchte viel Ruhe und Bewegung an der frischen Luft, keinerlei Stress.

Ich komme von der Arbeit nach Hause, halte im Hof und steige aus. Die Haustür ist offen, Paul kann ich nicht finden. Ich gehe wieder nach draußen, schauen im Garten umher, rufe nach ihm.
Dann sehe ich ihn, er steht vor der Eingangstür des Nachbarhauses, es ist ein Reihenhaus, sieht so ähnlich aus wie unseres.
Er scheint froh zu sein, mich zu sehen, kommt zu mir begrüßt mich. Er hätte sich bei den Nachbarn etwas angeguckt, die Haustür, wir sollten unsere langsam mal erneuern.
Er müsse auch mal wieder seine Mutter anrufen, wir sollten sie einladen, sie sei immer so allein, am Wochenende.
Seine Mutter ist schon lange tot.

Ich habe dann Dr. Simmel um ein Gespräch gebeten.
Er setzt sich neben mich, hält meine Hand fest. Er sagt, dass ich eine starke Frau sei, er würde mir reinen Wein einschenken.
„Ihr Mann hat Alzheimer. Bei dieser Krankheit treten Orientierungsprobleme, Sprachschwierigkeiten und Konzentrationsstörungen auf. Langsam aber unaufhaltsam verlieren die Betroffenen ihr Gedächtnis. Häufig entwickelt sich eine Depression. Das Gehirn beginnt zugrunde zu gehen. Die Betroffenen spüren das durchaus selbst und reagieren mit Unruhe, Angst und Aggression. Im Laufe der Krankheit geschieht etwas, was man als Abschied vom Ich bezeichnen kann, das Verhalten ändert sich völlig, die Patienten erkennen ihre Umgebung und selbst ihren Partner nicht mehr, mit dem sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht haben. Sich selbst werden sie fremd, erkennen sich nicht im Spiegel. Schließlich werden sie dauernd pflegebedürftig, werden inkontinent, können nicht mehr alleine essen, sie können nichts mehr alleine machen. Ihr Mann wird alles vergessen, kann nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden, wird Fähigkeiten und Fertigkeiten verlieren, die er im Laufe seines Lebens erworben hat. Er wird die Bedeutung von Gegenständen nicht mehr einordnen können, wird nicht mehr wissen, was der Zweck von Messer oder Gabel ist.
Bis heute gibt es kein Mittel gegen diese Krankheit, durch Einweißablagerungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn wird eine Signalübertragung verhindert. Durch Medikamente kann der Krankheitsverlauf aber verzögert werden.“

„Und wie lange dauert das alles?“
„Meistens 7 Jahre, es kann aber auch viel kürzer oder viel länger dauern. Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nichts anderes sagen kann.“

Ich verlasse die Praxis, setze mich in ein Café und trinke ein Glas Wein. Jetzt ist nichts, wie es einmal war. Es gilt Abschied zu nehmen von Paul, von all unseren Zukunftsplänen. Ich bin verzweifelt. Jeden Tag werde ich ein Stück von ihm verlieren.
Eigentlich hätte ich längst etwas merken müssen, habe es wohl verdrängt.
Ich werde meine Arbeit aufgeben, damit ich immer bei ihm sein kann, ihn so lange zu Hause pflegen, wie das möglich ist.
Ich fahre nach Hause, klingele, habe den Hausschlüssel vergessen. Mir geht es schon wie Paul, denke ich.

Ich laufe allein in der Wohnung umher, die Möbel sind wieder umgestellt worden, alles sieht ganz anders aus. Auch neue Bilder hängen an den Wänden.
Ich gehe ins Bad, will mich rasieren, schaue in den Spiegel.
Habe ich mich so verändert? Bin das tatsächlich ich?
Ich fange an mich mit dem neuen Elektrorasierer zu rasieren. Früher habe ich Rasierklingen benutzt, aber Susanne meint, ich könnte mich schneiden.

Es klingelt an der Haustür. Ich gehe zum Eingang, schaue aus dem Flurfenster. Da steht eine Frau draußen, die ich noch nie gesehen habe, sicherlich will die was verkaufen, denke ich.
Ich öffne die Tür uns sage:
„Wir haben alles, wir kaufen nichts.“

Ich schließe die Tür.
 
N

nobody

Gast
Gut geschrieben, gut zu lesen - meine ich. Auch die Dramaturgie okay, der Schluss auch - die „Pointe“ zwar voraussehbar, aber es geht ja nicht um einen Knalleffekt, sondern um den Verlauf der Krankheit und ihre Wirkung auf die Betroffenen, und das kommt schon gut rüber. Was also ist es, was mich unbefriedigt lässt an der Geschichte? Vielleicht die gehäufte Schilderung von Fehlleistungen des Prot., vielleicht diese Episode mit der Frau eines Schülers, Claudia, die mir etwas konstruiert vorkommt, vielleicht auch die allzu lange Erklärung der Auswirkungen der Krankheit durch Dr. Simmel? Da fehlt wirklich nichts, als wär’s aus dem medizinischen Lehrbuch, und das soll sich Susanne alles genau gemerkt haben?

Zwei Monologe aus zwei Erzählperspektiven, abwechselnd, das fand ich eine gute Idee. Aber denken die Prot. das, was hier vor mir auf dem Bildschirm steht? Nein, so denkt man nicht. Schreiben sie? Tagebuch? Erinnerungen? Dann kann ich aber die mehrmaligen Perspektivenwechsel innerhalb des Textes nicht nachvollziehen. Sprechen sie? Etwa zu mir, dem Leser? Abwechselnd, zuerst der Mann, dann die Frau, usw. Das schon eher. Oder doch nicht. Dann würde man nicht in der Gegenwartsform erzählen.

Das sind so die Fragen, die mir beim Lesen durch den Kopf gehen. Vielleicht kannst du damit was anfangen?

Gruß Franz
 

Retep

Mitglied
Lieber Franz,

an dem, was du da schreibst, ist was dran. Zumindestens teilweise habe ich inzwischen die gleichen Bedenken.

Danke für den ausführlichen Kommentar, bei der nächsten Fassung werde ich einiges davon berücksichtigen.

Gruß Retep
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

gute geschichte, aber viel zu lang. spätestens auf der hälfte ist klar, dass der gute mann krank ist.
die doppelte sichtweise finde ich gut, aber du könntest den text um die hälfte einkürzen.
lg
 

Retep

Mitglied
Hallo flammarion,

danke für deinen Rat. Alle Geschichten, die ich hier einstelle, sind Erstfassungen, ich bin dankbar für jede Kritik und Hilfe, sie zu verbessern, hoffe auf einen Lerneffekt.
Bei einer Neubearbeitung, werde ich mir deinen Vorschlag überlegen, sicherlich könnte man manches kürzen.
Ob die Geschichte allerdings viel zu lang ist, bin ich mir noch nicht sicher.
Dass man schon frühzeitig weiß, dass der Mann krank ist, ist klar. Ich wollte aber zeigen, wie sich sein Zustand allmählich ändert. Aber vielleicht müsste man das anders machen.

Gruß
Retep
 

mitis

Mitglied
verwirrung

ich würde auf keinen fall kürzen
alzheimer ist nun mal schleichend
vielleicht ist es auch gut, dass die perspektiven so verwirrend wechseln (@nobody) und dass man sich als leser nicht mehr auskennt, weil man so vielleicht ein gefühl für die kranke person bekommt und wie das sein muss.
man wird damit konfrontiert, dass man selbst (ich auch) immer irgendwie nach "klarheit" verlangt - und dass klarheit letztlich auch relativ ist.
lg mitis
 
Hallo Retep,

danke für diese schöne Erzählung, wer Menschen mit dieser Krankheit kennt, wird sie deiner Geschichte wieder erkennen.Auch wenn mich dein Text in traurige Erinnerungen gestürzt hat, bin ich froh sie gelesen zu haben.
In meinen Augen muss sie weder verändert noch korrigiert werden, so ist es genau richtig.

Lieben Gruß
Diana
 

Retep

Mitglied
Hallo Diana,

danke für die"Blumen".

Da muss jetzt nichts mehr verändert werden, das glaube ich auch. Die Geschichte habe ich "aus dem Bauch" geschrieben und sie hat mich auch getroffen.

Gruß

Retep
 

Doska

Mitglied
Klasse geschrieben. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Sehr unheimlich, geht einem sehr nahe. Man kann sich gut in die Lage deiner beiden Protas hinein versetzen und dabei nur hoffen, das diese schreckliche Krankheit eines Tages endlich bekämpft wird.
 

Retep

Mitglied
Hallo doska,

freut mich, dass dir der Text gefallen hat, das macht mir Mut anderes zu schreiben.

Einen wunderschönen Sonntag wünsche ich dir.

Gruß

Retep
 



 
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