Jedes Jahr wieder...

4,70 Stern(e) 3 Bewertungen

Dina

Mitglied
Es dämmert bereits, als ich die Kisten und Kartons neben die kleine Tanne auf den Boden stelle. Ich mache kein Licht, wozu auch?
Den Baum schmücke ich immer allein. Ich maße mir nicht an, es besonders schön zu können, und ich habe auch keine Angst, die Kinder könnten etwas zerbrechen. Es sind die wenigen Minuten der Ruhe, in der Hektik vor den Festtagen. Zeit, in der ich die Einsamkeit genieße. Minuten, in denen Ihr wieder bei mir seid.
Mein ganzes übriges Leben verbringe ich damit, die Erinnerungen an Euch in meinem Herzen einzuschließen, die Gedanken an Euch zu verbannen, den Schmerz und die Trauer nicht zuzulassen. Doch sobald ich die Lichterkette an den Baum hänge, der Tannenduft das Zimmer erfüllt und ich im Schein der vielen kleinen Lichter die Kugeln aus der Verpackung nehme, reißt die Mauer ein.
Es ist, als ob ich in der Dämmerung des Abends, zwischen den vielen kleinen Kerzen, plötzlich Eure Gesichter sehe. Jeden einzelnen von Euch erblicke ich in diesen Momenten in diesem Spiel aus Licht und Schatten. Eure Augen, die mich wissend anschauen und in denen sich Eure Seelen spiegeln. Euer Lächeln, das mir sagen will, es ist alles gut und das all jene Herzen erreicht, denen Ihr begegnet seid. Eure Hände, die jeden Sturz auffingen und mir jetzt zeigen wollen, daß Ihr auch weiterhin immer über mich wacht.

Du, meine Freundin, die wie eine Schwester für mich war. Niemand wird je begreifen, wie eng die Bindung zwischen uns war. Noch heute fehlen mir unsere Gespräche, Dein Lachen, Deine Gesten und Gewohnheiten. Du warst so stark und voller Liebe, hast immer an das Gute im Menschen geglaubt und für deinen Glauben gekämpft.
Viel zu jung, gerade erst Mutter geworden und mit so vielen Plänen, die du nicht mehr verwirklichen konntest.

Du, mein Freund, der auch mein Geliebter war. Nie hast Du vergessen zu sagen, was Du fühltest. Angst, Gefühle auszudrücken, kanntest Du nicht. Jeden Tag hast Du genutzt, niemals etwas bereut. Deinen Freunden und Deiner Familie warst Du immer nah, helfend, liebevoll und beschützend.
Viel zu jung, das Leben geliebt, viele Träume nicht gelebt und deine Ziele nie erreicht. Du hattest keine Gelegenheit, deine Kinder durchs Leben zu begleiten, sie zu führen, zu schützen und zu lieben.

Du, diese wundervolle Frau, die meine Mutter ersetzte. Mein ganzes Leben hast Du mir all Deine Liebe geschenkt, warst immer für mich da, hast mich geführt, behütet und mir den Freiraum gelassen, den ich zum Erwachsenwerden brauchte.
Du hast dein Leben gelebt, deine Träume erfüllt und wurdest geliebt bis zum letzten Augenblick.

Ihr alle habt mich ein kurzes Stück meines Lebens begleitet, habt aus mir den Menschen geformt, der ich heute bin. Mit Eurem Herzen, dem Mut, der Stärke und dem Stolz, Eigenschaften die Ihr allen Menschen vermitteln konntet. Und vor allem mit Eurer Liebe.
Ihr habt mich gelehrt zuzuhören, für Andere da zu sein, und die Hand zur Versöhnung zu reichen. Ihr brachtet mir bei, Träume zu leben, mutig zu sein und Verfehlungen zuzugeben. Durch Euch lernte ich Vertrauen zu haben, verzeihen zu können und Liebe zu geben.
Auch wenn es Euch enttäuscht, so muß ich doch gestehen, daß ich verlernt habe Nähe zuzulassen. Vielleicht, weil Ihr mir nicht gezeigt habt, wie man losläßt

Ihr habt das Leben so sehr geliebt. Unmöglich zu erahnen, wieviel von dieser Liebe und Eurer Kraft in denen, die Euch kennen durften, weiter lebt. Wieviel konnte ich Euch nicht sagen? Es hätte mich verletzlich gemacht. Mit jeder Faser meines Herzens wünsche ich mir nur noch einen Augenblick, einen Augenblick für jeden von Euch, in dem ich alles das sagen kann, was ich versäumt habe.
Die letzten Stunden, Minuten, und Sekunden die ich mit jedem einzelnen von Euch verbringen durfte, waren zur Weihnachtszeit. Zusammen haben wir gehofft, gebangt, gelitten und geweint. Wir schworen uns, daß Gemeinsamkeit stark macht und wir alles schaffen können. Seite an Seite haben wir gekämpft und doch den Kampf verloren.
Jeder hat bei seinem Abschied einen Teil von sich zurückgelassen, doch jeder hat auch einen Teil von mir mit sich genommen.
Ihr alle habt Eure endlose Reise angetreten, habt diese Welt verlassen, die Euch so viel Leid beschert hat. Ich kann an Eurem Lächeln sehen, daß es eine gute Reise ist. Ihr seid dem Elend und Schmerz entkommen, seid jetzt dort wo Euch nichts mehr zu quälen vermag. Am anderen Ufer, unerreichbar weit fort. Ihr wart zu gut für diese Welt und ich vermisse Euch.

Ich hänge jetzt die letzte Kugel an. Unten im Hausflur erklingen Stimmen, kleine Füße trampeln über die Treppenstufen. Ich lächle Euch noch einmal wehmütig zu, bevor das Licht im Zimmer aufflammt und Eure Gesichter verschwinden läßt. Zurück an jenen Platz in meinem Herzen, den keine Gedanke erreicht, der die Erinnerungen vergräbt und der kein Gefühl hinaus läßt.
Bis zum nächsten Rendezvous in der Weihnachtszeit, wenn wir uns wiedersehen.
 

Dina

Mitglied
Hallo Uwe,
ich danke Dir für deinen lobenden Kommentar.
Er ermuntert weiter zu schreiben.

Ganz lieber Gruß
D.
 

Haselblatt

Mitglied
Tiefe

Liebe Dina,

ein Text, fast zu schön um wahr zu sein.
Ich höre und lese nur selten so gewählte Sprache, die dennoch frei ist von synthetischen Verzierungen.
Ich nehme nur selten so tiefe, in Worte gekleidete Gefühle wahr. Geradlinig, unzweifelhaft, autentisch.
Ich spüre eine literarische Verwandtschaft mit Susanna Tamaro, ja, ich spüre, wie dein Herz dich trägt.
Allergrößte Hochachtung!

(Ich hab natürlich gleich in der Mitgliederdatenbank nachgesehen, was du biografisch von dir preis gibst; leider gar nichts).

LG
 

Dina

Mitglied
Hallo Haselblatt,
ich danke Dir sehr herzlich für deinen so wunderbaren Kommentar.
Ich muß allerdings zu meiner Schande gestehen, daß mir "Susanne Tamaro" bisher gar nichts sagt (schäm).
Aber wenn sie mit so viel Gefühl beschrieben wird, sollte ich mich schnellstens mit ihren Texten bekannt machen. Danke für den Tipp.

Ich habe mich Ende November hier angemeldet und meinen ersten Text hier hinein gesetzt. Danach passierte erst einmal nichts. Irgendwann im Januar ist der Text dann erschienen. Ich werde mich umgehend darum kümmern, daß ein wenig mehr von mir "preisgegeben" wird.

Ganz lieber Gruß
D.
 

Haselblatt

Mitglied
Susanna T.

Hallo liebe Dina,

Kein Grund, dich zu schämen, man kann nicht alles gelesen haben.
Falls es dich ernsthaft interessiert:
Susanna Tamaro
"Geh wohin dein Herz dich trägt"
erhältlich als TB im Diogenes-Verlag (vielleicht auch anderswo)
Es gehört zum Schönsten, was von Frauen über Frauen geschrieben wurde.
Die Weichheit und Tiefe, mit der dein Beitrag erzählt ist, hat mich einfach so stark an dieses Buch erinnert. Aber ich wollte damit natürlich keinesfalls eine stilistische Anleihe oder Beeinflusstheit zum Ausdruck bringen!!

LG
 



 
Oben Unten