Jenno

wiccasaint

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Ihn zu beschreiben ist mir fast unmöglich, denn es gibt für diesen Menschen einfach nicht genug Worte. Er löste in mir dieses Gefühl aus, daß nichts zu fassen war. Es war so ein Gefühl, das mir völlig fremd und widersprüchlich vorkam, verrucht und unnahbar, gleichzeitig aber auch faszinierend und anziehend, wie aus einer Erinnerung, von der man nicht weiß, ob sie einem Traum oder der Realität entspringt. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein Gebilde meiner ausgewachsenen Phantasie.
Sein Name war Jenno und er war der Freund meiner Stiefschwester. Er war etwa 17 Jahre alt, und ich kannte ihn nicht wirklich. Wenn er zu Besuch kam versteckte ich mich immer in meinem Kabuff, und wenn er in ihrem Zimmer verschwand oder alle zusammen im Wohnzimmer saßen und Kaffee tranken, steckte ich scheu und unbemerkt den Kopf aus meinem Zimmer, in der Hoffnung, einen Blick auf ihn erhaschen zu können.
Ich kann mir nicht erklären, woher Jenno wußte, daß es mich gab, denn ich ließ mich niemals blicken, wenn er zu Besuch war, und er schien sich auch nie für mich zu interessieren. Ich war zwar existent, irgendwo, verkrochen wie ein ängstliches Mäuschen in ihrem Loch, akzeptierbar aber nicht von Bedeutung. Doch das war mir egal, es störte mich nicht. Denn ob nun beachtet oder nicht, wichtig oder unwichtig, er blieb der, der er für mich war. Es ging nicht darum, wie er mich sah, sondern darum, wie ich ihn sah. Und ich lebte allein von meiner Vorstellung von ihm.
Mir waren nur meine Phantasien wichtig. Jenseits der Realität, an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, war ich mit ihm zusammen.
Doch eines Tages veränderte sich alles. Ich begann zu bemerken, daß sich alle ganz merkwürdig verhielten, besonders meine Stiefschwester. Niemand sagte mir etwas, und ich fragte auch nicht. Mir war es egal, ich dachte mir, wenn es etwas Wichtiges sei, dann würden sie es mir schon erzählen. Jenno kam nur noch selten, und wenn er da war, dann unterhielten sich alle nicht mehr normal. Die Stimmung war gedrückt, ich saß in meinem Zimmer und konnte die Spannung spüren. Ich machte mir Sorgen, und diese Sorge, woher sie auch kommen mochte, brachte mein Herz so sehr zum pochen, daß ich das Gefühl hatte, es würde mir die Rippen brechen.
Dann einmal, klopfte es an meiner Zimmertür. Es war Jenno, wunderschön und androgyn wie er war stand er da und fragte mich, ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich war schockiert. Ich war entsetzt. Ich war panisch. Ich hatte das Gefühl, ich müßte jeden Moment auf meinen Teppich kotzen, doch ich sagte ja. Natürlich sagte ich ja. Jenno kam herein, schloß die Tür hinter sich ab und setzte sich zu mir. Nichts passierte. Wir redeten nicht. Wir saßen nur da, und ich fühlte mich so unglaublich wohl wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Jenno kam von da an fast jeden Tag zu mir. Er sah weder meine Stiefschwester noch den Rest der Familie, er kam immer nur zu mir. Manchmal starrte er gedankenverloren aus dem Fenster und sagte dann so seltsame Dinge wie:
„Hämoglobin ist so wichtig für einem gesunden Herzschlag.“
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte und sagte auch nichts dazu, aber das hatte er wohl auch nicht erwartet. Manchmal verbrachte ich stundenlang damit, Jenno anzusehen. Einmal betrachte ich eine Ewigkeit seine Hände, sie sahen sanft und feminin aus, und dabei fragte ich mich die ganze Zeit, was er wohl schon alles mit ihnen gemacht hatte. Ich fand den Gedanken aufregend, es kribbelte wie tausend Ameisen, wenn ich daran dachte, und ohne die Antwort zu kennen erregte es mich.
Jenno schwebte immer irgendwo in seinen Gedanken, und oft wunderte ich mich, warum er mehr Zeit mit mir als mit meiner Stiefschwester verbrachte, aber ich wollte es auch gar nicht wissen. Aber es war so, je öfter wir uns trafen, desto mehr wurde es zu einer Gewohnheit, auf die ich unmöglich jemals wieder verzichten können würde.
Dann kam dieser Tag, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Jenno saß wieder bei mir, doch plötzlich sah er mich mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit und unendlicher Traurigkeit an, seine Augen waren so dunkel, daß ich dachte, ich würde ins Nichts blicken, und sagte zu mir mit einem Ton, den nur Jenno besaß:
„Ich werde sterben.“
Dann hatte er wieder weggesehen und mich mit dem, was er gesagt hatte, alleine gelassen. Es war nicht wirklich viel, was er gesagt hatte, aber dieser eine Satz hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und viele nebensächliche Dinge daraus verband.
In diesem Moment hatte ich mir gewünscht, ich dürfte auch sterben. Aber ich starb nicht. Als wir uns an diesem Abend trennten sagte keiner von uns ein Wort, aber er hatte mir einen dankbaren Blick geschenkt.
Nun verstand ich. Alle hatten von seiner Krankheit gewußt, und ich hatte mich nicht dafür interessiert.
Ich kann mich an den Namen seiner Krankheit nicht erinnern, ich habe es bewußt aus meinem Gedächtnis verdrängt, aber ich erfuhr, daß es etwas mit seinem Herzen war. Die Symptome waren so unauffällig, eines Tages, ohne Vorwarnung, würde es einfach aufhören zu schlagen.
Jenno besuchte mich auch weiterhin, und ich sagte nichts wegen seiner Krankheit zu ihm. Doch mir wurde bewußt, daß die Zeit davon lief, in mir wuchs das Bedürfnis, irgend etwas zu unternehmen, bevor es zu spät war. Ich wollte ihm sagen, wie sehr mich sein Tot zerstören würde, wie viele Gefühle er in mir auslöste, und daß ich ihn so schmerzhaft vermissen würde, doch ich konnte es einfach nicht. Ich hatte das Gefühl, ich hätte nicht das Recht dazu.
„Ich habe gewußt, daß du mich wolltest.“ hatte er eines
Tages zu mir gesagt und mich nachdenklich angesehen. Mich warf dieser Satz völlig aus der Bahn. Damit hatte ich nicht gerechnet. Trotzdem wollte ich die Haltung bewahren.
„Ich wollte dich.“ hatte ich so ehrlich gesagt, daß ich mich absolut entblößt fühlte.
„Willst du mich immer noch?“
Ich hatte gespürt, wie sich Wasser in meinen Augen sammelte, als ich sagte:
„Nur was du willst ist jetzt wichtig.“
„Was ich will?“ wiederholte er. Ich nickte nur schwach. Dann schlang er von hinten seine Arme um mich. Ich war verwirrt und hatte keine Ahnung, was er da tat, doch dann spürte ich, wie er mich an sich zog. Ich ließ mich einfach fallen, verängstigt, durcheinander. Er nahm mich in seine Arme, seine Nähe war so betäubend, daß ich nicht mehr geradeaus denken konnte. Dann, ohne Vorwarnung, hatte er vorsichtig seine Hand in meine Hose geschoben. Und dann hatte er mich berührt. Es war ein Gefühl, als würde ich sterben und gleichzeitig neu geboren werden. Ich schloß meine Augen.
„Ich will dich immer noch.“ hatte ich gesagt, und dann hatte ich angefangen zu weinen.
Zwei Tage später war er dann gestorben. Der anziehende Geruch seines Körpers hing noch an mir wie eine bittersüße Erinnerung, doch er war nicht mehr da.
Wir hatten einen Anruf bekommen. Meine Stiefschwester war ans Telefon gegangen und war augenblicklich in Tränen ausgebrochen. Er war auf der Fahrt zu mir gewesen, als sein Herz plötzlich aufgehört hatte zu schlagen. Ich war der letzte Mensch gewesen, an den er gedacht hatte, und ich schämte mich dafür. Ich zeigte niemanden meine Trauer, die so tief ging, daß ich dachte, ich würde es nicht überstehen. Denn obwohl sein baldiger Tot unausweichlich und vorhersehbar gewesen war, hatte ich einfach nicht damit gerechnet, daß es wirklich passieren würde. Nicht jetzt. Später, aber noch nicht jetzt. Und betroffen stellte ich fest, daß mir immer wieder der Moment durch den Kopf ging, als er mich berührt hatte. Und so wurde für mich dieser Augenblick zu unserem Letzten.
Ich fühlte mich zerbrochen. Ich weinte viel. Ich weinte nur, war nicht fähig, etwas anderes zu tun. Jenno hatte einen Brief für mich hinterlassen. Meine Stiefschwester hatte ihn mir voller Eifersucht und Wut gegeben und konnte ihren Haß auf mich nie wieder besiegen. Ihr Schmerz war echt. Meiner war es auch. Ich brauchte etwas Zeit, bis ich den Brief lesen konnte, schließlich tat ich es aber doch.

Ich weiß alles. Glaub nicht, Du hättest mir noch etwas sagen müssen, ich weiß alles. Ich durchschaue Dich wie eine Wolke, ich höre Deine Rufe, ich solle nicht sterben. Du flehst darum, daß ich nicht sterbe, und doch hast Du nie ein Wort gesagt. Ich war es satt, zu reden. Ich konnte es nicht mehr ertragen, von allen Anderen beschützt zu werden. Ich werde sterben, Worte ändern daran nichts.
Ich weiß alles. Ich weiß, wie Du mich gesehen hast Und ich weiß auch, welche Gefühle ich in Dir ausgelöst habe. Also befürchte nicht, daß gewisse Dinge unausgesprochen bleiben, denn das sind sie nicht. Als ich Dich berührt habe war es wirklich das, was ich wollte. Denn Du hast danach geschrien, und falls Du es nicht gehört hast, ich habe es auch. Ich bin nun tot, und deshalb will ich Dir sagen, daß Du aufhören kannst. Hör auf, zu rufen, ich solle nicht sterbe. Es ist zwar vorbei, aber es blieb nicht ungehört.
Jenno

Und so hatte ich erfahren, daß ich, der wichtigste Mensch in seinem Leben geworden war. Ich hatte etwas geschafft, was sehr kostbar war, denn ich hatte, wenn auch nur für kurze Zeit, Jenno das Leben gerettet. Und auch, wenn der Schmerz seines Verlustes niemals vergehen wird, so hält mich einzig dieser Gedanke am Leben. Und so rettete Jenno auch mich.
 

Rainer

Mitglied
hallo wiccasaint,

deine geschichte hat mich sehr beeindruckt, auch wenn ich sie als zu kurz empfinde. aber sie hinterläßt bei mir sehr ambivalente gefühle, deswegen möchte ich jetzt noch nicht bewerten. ich habe folgende kritikpunkte:
global - ich glaube zwar zu wissen was du ausdrücken willst, aber bitte entschuldige, die umsetzung ist an manchen stellen ein bißchen teenyhaft.
der abschiedsbrief: zu gestelzt in diesem kurzen auschnitt des lebens deiner prot/deines prot. vielleicht würde er mir weniger komisch vorkommen, wenn ich mehr über jenno erfahren könnte.
die stiefschwester: leider teilst du fast nichts über das verhältnis zwischen den eltern und den kindern mit. psychologisch nachvollziehbar wäre der text in meinen augen nur, wenn dein prot ein angenommenes kind wäre.

ein kleiner schnitzer ist mir aufgefallen: der Tod hinten mit d, richtig dagegen der "zustand" tot. oder ist das die neue rechtschreibung - dann entschuldige bitte mein unwissen.

ich finde die geschichte trotzdem sehr gut, vor allem ist mir aufgefallen, daß die vermeintliche geschlechtslosigkeit deiner prot/deines prot dem ganzen noch eine gewisse spannung verleiht. und hier nehme ich meinen teeny-vorwurf total zurück: genau dieser punkt macht deinen text großartig, er schildert gefühle unabhängig von der sexuellen ausrichtung.
wenn du noch arbeit hineinsteckst, kannst du hier etwas besonderes entstehen lassen - bitte weiterschreiben.

grüße

rainer
 

wiccasaint

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hi rainer,

erstmal danke für Deine Kritik. Ich finde, gute, sowie schlechte Kritik tut immer wieder gut.
Zu zwei Deiner Kritikpunkte möchte ich gerne etwas sagen: Zum Einen war diese Geschichte ursprünglich für ein Literaturwettbewerb einer Jugendzeitschrift gedacht, was vielleicht das Teenyhafte der Geschichte erklärt (das Thema war Herzklopfen). Zum Anderen war die Geschichte in der Rohfassung doppelt so lang, doch wegen der vorgeschiebenen Länge mußte ich einiges heraus kürzen. Daher habe ich mich dann nur auf das Wesentliche beschränkt. Einige Leute aus meinem Bekanntenkreis, die beide Fassungen gelesen haben, waren der Meinung, die Geschichte hätte dadurch an Dichte gewonnen, doch die Geschmäcker sind verschieden, wie sich hier zeigt. Und das ist auch gut so. Also noch mal vielen Dank für Deine Meinung, ich werde mir darüber Gedanken machen. Und ich schreibe weiter...

Liebe Grüße, wiccasaint
 



 
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