Jonas' Haus

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Jonas war ein wenig außer Atem und blieb stehen. Mitten in einer Pfütze. Seine ausgeleierten Turnschuhe sogen sich sofort voll Wasser, aber er bemerkte es nicht. Der Wind warf den Nieselregen hin und her, trieb ihn in das Gesicht des Jungen und vermischte sich dort mit dem Salzwasser auf seinen Wangen.
Jonas ging weiter, langsamer jetzt. Er wußte nicht genau, wo er war, aber er ging weiter. Das Wasser in seinen Schuhen machte eigentümliche Geräusche bei jedem Schritt. Schlurfend setzte er seinen Weg fort und beobachtete die Tropfen, die bei jeder Bewegung von seinen Schuhen spritzten. Er stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß an, der davonsprang und in einer Pfütze landete. Das Wasser zog kleine Kreise.
Jonas setzte seinen Fuß in die Pfütze. Das Wasser blieb still. Eine kleine Welle ging von seinem Schuh aus, aber es gab keine Ringe. Der Junge zog die Nase hoch und ging weiter. Der Regen wurde etwas heftiger. Jonas drehte sich einmal um seine Achse, dann wechselte er die Straßenseite. Kurz darauf ging er wieder hinüber.
Dann sah er das Blatt. Es war ein ziemlich großes Blatt, mit fünf kleineren Blättern daran. Ein Kastanienblatt! Jonas ging etwas schneller. Das Blatt landete mitten auf der Straße. Jonas ging hin und sah es an. Es war schon richtig gelb und naß und glitschig vom Regen. Und es lag ganz allein auf der Straße. Jonas hob es auf.
Er blickte nach oben, denn er wußte, wo ein Blatt war, waren auch andere. Er hatte recht. Riesige Äste beugten sich weit über die Straße. Der Junge verfolgte sie mit dem Blick und erblickte die Stämme, die sich hinter einem Maschendrahtzaun befanden. Er ging über die Straße und presste seine Nase durch das Netz des Zaunes. Er wurde traurig, weil er nicht an den Stamm reichte, selbst wenn er seine Hand durch den Maschendrahtzaun schob. Der Draht schob seinen Ärmel nach oben und zerkratzte seine Haut, aber Jonas reichte nicht bis zum Stamm. Es tat furchtbar weh, als er den Arm zurückzog.
Der Regen prasselte in die Blätter der Kastanien, und dicke Tropfen rollten hinunter und platschten mit einem satten Ton auf den Gehweg und auf Jonas. Ein Tropfen hing an seiner Nase und tropfte von dort aus auf seine Jacke. Der Junge blickte zu Boden. Da waren viele, viele Blätter, viele gelbe, aber auch noch ein paar grüne. Es gab auch braune und solche, die schon richtig schwarz waren. Die lagen weiter unten. Jonas bückte sich und hob das Ende vom Maschendrahtzaun an. Die Enden stachen ein bißchen in seine Hand, aber er konnte sie ein Stück hochbiegen. Dann schob er vorsichtig sein gelbes Kastanienblatt zu den anderen Blättern. Er wußte, dass es dorthin gehörte, ein Blatt gehört zu den anderen Blättern.
Sein Blick wanderte weiter, während er noch vor dem Zaun hockte. Da lag ein Schuh. Es kam Jonas etwas komisch vor, dass zwischen diesen Blättern ein Schuh lag. Und der Junge wußte auch, dass zu einem Schuh immer ein zweiter Schuh gehörte. Da lag aber nur ein Schuh. Er lag weit hinter den Kastanien, so dass er ihn nie erreichen konnte, aber zumindest konnte Jonas sehen, dass es nur ein Schuh war. Es war ein alter Schuh, der schon lange im Regen gelegen hatte. Bestimmt war darin schon soviel Wasser, das eine Maus ihn als Badewanne benutzen konnte. Jonas lächelte ein bißchen, als er sich das vorstellte.
Erst danach bemerkte er, dass er die ganze Zeit vor einem Haus stand. Das war ziemlich komisch, er hatte das Blatt bemerkt und den Schuh, obwohl beide im Vergleich zu dem Haus richtig klein waren. Natürlich war auch das Haus ziemlich alt, der Regen prasselte einfach durch das Dach hindurch und lief in einem kleinen Rinnsal unter der Tür wieder hervor. Ein so altes Haus war fast so etwas wie ein versunkenes Piratenschiff. Jonas sagte sich, er habe einen Schatz gefunden. Endlich hatte er etwas wirklich tolles gefunden. Natürlich, er hatte schon das Blatt gefunden und den Schuh, aber ein so altes Haus war doch etwas besonderes. Es mußte wirklich schon ziemlich alt sein, das Haus, so wie es da stand. Es war aus Lehm gemacht, der langsam abbröckelte, weil er so nass und schwer war.
Das Haus stand ganz allein da, ganz einsam und allein. Jonas fühlte sich ganz klein, während er es betrachtete. Früher hatten hier bestimmt viele Familien gewohnt, und Tiere natürlich auch. Aber irgendwann hatten sie das Haus alleingelassen. Jonas konnte sie vor sich sehen, wie sie vor dem Haus standen, als es noch ganz schwarze Balken hatte und ein richtiges Dach. Der Anstrich war ganz weiß und wirkte fröhlich. Jonas konnte die Menschen sehen, in eigentümlichen alten Kleidern, die tanzten und fröhlich waren.
Dann sah er wieder das Haus, so wie es jetzt war. Es mußte traurig sein, dass es so allein war, dass die fröhliche weiße Farbe zu einem häßlichen verwaschenem Gelb geworden war. Es mußte traurig darüber sein, dass es im Regen zerfiel, und dass sich keiner darum kümmerte. Jonas wurde auch traurig. Die Blätter waren wenigstens alle zusammen, und auch das Blatt von der Straße war wieder bei den anderen Blättern. Und der Schuh, der hatte bestimmt auch einen zweiten Schuh, der in dem Haus lag. Nur das Haus hatte niemanden. Niemanden der das Dach richtete, die Wände ausbesserte und die Balken neu anstrich.
Aber jetzt war wenigstens Jonas da. Jonas sagte leise, dass er das Haus nicht vergessen würde. Er dachte, es wäre jetzt sein Haus, und er müsse es besuchen und sich darum kümmern. Er hatte gar nicht gemerkt, dass der Regen inzwischen aufgehört hatte.
Plötzlich hörte Jonas Stimmen von der Straße, und er sah eine Horde Kinder, die auf ihn zugerannt kamen. Ganz schnell waren sie bei ihm, und plötzlich hatten sie ihn umringt. Sie bückten sich alle und hoben Kastanien auf, die auf dem Boden lagen, sie nahmen alle großen, braunen Kastanien und stopften sie in Plastiktüten. Dann sammelten sie Blätter auf, große, gelbe Blätter. Und Jonas drängten sie immer mehr weg vom Zaun. Dann, als sie fertig waren, bestaunten sie das Haus, und ein Junge rief, es wäre sein Haus, er habe es zuerst gesehen. Die Kinder begannen zu streiten.
Salziges Wasser lief über Jonas‘ Gesicht und er dachte, es habe wieder angefangen zu regnen. Ganz leise flüsterte er: „Aber das war doch mein Haus.“
 

soleil

Mitglied
Hallo Ann-Kathrin,

ich habe gerade mit großem Vergnügen deine Geschichte gelesen. Sie ist stimmugsvoll und ließ Jonas' Haus vor meinem geistigen Auge in all' den verregneten, gelben, braunen und schwarzen Farben entstehen.

Einige Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:
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Schlurfend setzte er seinen Weg fort[red][strike],[/strike][/red] und beobachtete die Tropfen, die bei jeder Bewegung von seinen Schuhen spritzten.
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Jonas ging hin und sah es an. Es war schon richtig gelb und naß und glitschig vom Regen[blue]. Und[/blue] es lag ganz allein auf der Straße. Jonas hob es auf. [blue] -> Das ist ein Vorschlag, weil ich finde, dass durch die kurzen Sätze, die Situation noch prägnanter klingt.[/blue]
...
Er wurde traurig, weil [red]er[/red] nicht an den Stamm reichte, selbst wenn er seine Hand durch den Maschendrahtzaun schob.
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Der Regen prasselte in die Blätter der Kastanien, und dicke Tropfen rollten hinunter und platschten mit einem satten Ton auf den Gehweg und auf Jonas. Ein Tropfen hing an seiner Nase und tropfte von dort aus auf seine Jacke. Der Junge blickte zu Boden. Da waren viele, viele Blätter, viele gelbe, aber auch noch ein paar grüne. Es gab auch braune und [blue]welche -> solche[/blue], die schon richtig schwarz waren[blue]. D[/blue]ie lagen weiter unten.
...
Bestimmt war darin schon soviel Wasser, das[red]s[/red] eine Maus ihn als Badewanne benutzen konnte. Jonas lächelte ein bißchen, als er sich das vorstellte.
Erst danach bemerkte er, dass er die ganze Zeit vor einem Haus stand. Das war ziemlich komisch, [blue]denn[/blue] er hatte das Blatt bemerkt und den Schuh, obwohl beide im Vergleich zu dem Haus richtig klein waren[red].[/red] Natürlich war auch das Haus ziemlich alt, der Regen prasselte einfach durch das Dach hindurch und lief in einem kleinen Rinnsal unter der Tür wieder hervor. Ein so altes Haus war [red][strike]doch[/strike][/red] fast so etwas wie ein versunkenes Piratenschiff.
...
Dann sah er wieder das Haus, so wie es jetzt war. Es mußte traurig sein, dass es so allein war, das[red]s[/red] die fröhliche weiße Farbe zu einem häßlichen verwaschenem Gelb geworden war. Es mußte traurig darüber sein, dass es im Regen zerfiel, und dass sich keiner darum kümmerte.
[blue]viele "dass" im vorherigen Absatz, aber irgendwie hat es auch was: Melancholie? [/blue]
Jonas wurde auch traurig. Die Blätter waren wenigstens alle zusammen[red][strike],[/strike][/red] und auch das Blatt von der Straße war wieder bei den anderen Blättern. Und der Schuh, der hatte bestimmt auch einen zweiten Schuh, der in dem Haus lag. Nur das Haus hatte niemanden. Niemanden der das Dach richtete, die Wände ausbesserte und die Balken neu [red]a[/red]nstrich.
Aber jetzt war wenigstens Jonas da. Jonas sagte leise, dass er das Haus nicht vergessen würde. Er dachte, es wäre jetzt sein Haus[red][strike],[/strike][/red] und er müsse es besuchen und sich darum kümmern.
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Ganz schnell waren sie bei ihm, und plötzlich hatten sie ihn umringt. Sie bückten sich alle und hoben Kastanien auf, die auf dem Boden lagen[blue]. S[/blue]ie nahmen alle großen, braunen Kastanien und stopften sie in Plastiktüten. Dann sammelten sie Blätter auf, große, gelbe Blätter. Und Jonas drängten sie immer mehr weg vom Zaun. Dann, als sie fertig waren, bestaunten sie das Haus[red][strike],[/strike][/red] und ein Junge rief, es wäre sein Haus, er habe es zuerst gesehen.

Ich hoffe, meine blauen Anmerkungen stören dich nicht.

Viele Grüße
Soleil
 
Hallo Soleil!

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort, ich habe daraufhin einiges verbessert.
Nein, deine Anmerkungen stören mich nicht. Ganz im Gegenteil, ich fand sie sehr hilfreich.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
sehr

anrührend, die geschichte. man möchte jonas direkt sofort in den arm nehmen. aber vielleicht schreibst du noch mehr über ihn? wäre sicher interessant. ganz lieb grüßt
 



 
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