Josephine wusste

3,30 Stern(e) 3 Bewertungen
Er war in seinem Zimmer als sie telefonierte, bekam die Zähne nicht auseinander und blickte zum Fenster hinaus. Bei nacht entwickelte er beinahe so etwas wie Sympathie für die Stadt. Der gelbe Lichterzug kurz vor dem Horizont und die kühle Luft, der tiefblaue Himmel und die Sterne. All das ließ ihn in der Tat Gefallen am Anblick dieser Stadt finden.
Als er dennoch genug davon hatte, vom Anblick dieser Stadt, wandte er sich dem Fenster wieder ab und kehrte zurück in die Mitte des Raumes, wo er sich auf sein Bett setzte. Die kalte Luft stand starr und trocken im Raum, ohne ganz von ihm Besitz ergreifen zu wollen. Und obwohl er mit bloßem Oberkörper am Fenster gestanden hatte, fror er nicht. Zwar war seine Haut kalt und er zog sich nun auch wieder ein Hemd über, doch wirklich zu frieren war nicht möglich, da den ganzen Tag über bei sommerlichen Temperaturen die Sonne geschienen hatte.
Während er sein Hemd zuknöpfte, blickte er wortlos geradeaus. Vielleicht nicht wirklich exakt geradeaus, aber zumindest doch vor sich her. Er sah einfach in die Leere des Raumes. Und er atmete, weil es eine Notwendigkeit war die sich nicht unterbrechen ließ.

Im Flur, nur noch durch einen grell erscheinenden Lichtschimmer mit ihm verbunden, der durch die halb geöffnete Tür in den dunklen Raum fiel, stand eine junge Frau. Für ihr Alter - kaum über die mittleren zwanzig Jahre hinaus - sah sie sehr reif, man hätte meinen können erwachsen aus. Ihr Blick jedenfalls war zweifelsohne der einer Frau, umgeben von jugendlichem Aussehen. Sie trug längeres schwarzes Haar, das sich alle Mühe gab, auf ihre Schulter zu fallen. Doch diese Länge hatte es noch nicht ganz erreicht.
Auch sie blieb stumm, blickte auf das Telefon, dessen Hörer sie noch vor einem Moment in der Hand gehalten hatte, ein Gespräch führend, mit einem Freund der hier angerufen hatte, um sich mit ihr zu verabreden. Nun strich sie langsam und nachdenklich mit der rechten Hand über den Rand ihres Ohres, das von dem langen Telefonat etwas gerötet war und schmerzte. Wie eine ausklingende Spieluhrmelodie pendelte sie so einen Moment lang in ihrem eigenen Kosmos aus angeschlagenen Gefühlen und unvermittelten Gedanken. Ohne es selbst recht zu bemerken, begann sie derweil mit der anderen Hand ihren dunklen Pullover leicht nach oben zu schieben, so dass diese linke Hand - der Arm im rechten Winkel - jetzt auf ihrem nackten Bauch zu liegen kam. Als es ihr schließlich auffiel, hatten ihre Finger schon damit begonnen, sich zu bewegen. Sanft berührten sie ihre eigene warme Haut. Und allem dessen sich die junge Frau dabei sicher sein konnte, war das was sie mit den empfindsamen Spitzen ihrer Finger fühlte. Vergeblich bemühte sie sich darum, sich auf das Gefühl ihres Bauches zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht, die eigene Hand wie eine fremde erscheinen zu lassen. Zwar spürte sie ihre Hand, doch richtig fühlen konnte sie sie nicht. Dann verstummte sie ganz, zog ihre Hand zurück und verschwand in die Küche.

Der junge Mann im anderen Zimmer derweil, hatte seine Hände auf das halbwegs kühle Laken unter sich sinken lassen. Fast war ihm, als würde er darin noch immer ihre Haut spüren können, so als würden sich Laken und Matratze noch genau an ihre Beine erinnern, ihre Arme, ihren Rücken, ihren Kopf und ihre Hände, ja vielleicht sogar an ihre Füße und auch an die gleichen Teile seines Körpers. Doch mehr als erahnen ließ sich diese Erinnerung nicht. Sie war so unfassbar, in ihrer Distanz so einzigartig verletzend. An jeder Stelle roch das Laken anders. Tief zogen sich die Gerüche durch den weißen Stoff. Und mit dem Moment in dem man es anhob, seine dünne Beschaffenheit von der Matratze löste, schien dieser Geruch für einen Moment empor zu steigen, ehe er sofort wieder verschwand und das angehobene Laken nach nichts mehr roch, jedes Merkmal seiner Substanz verloren hatte.
Vorsichtig strich er es glatt und blickte zum Ende des Bettes, wo ein dünnes, schwarzes Brett an der Wand befestigt war. Viel lag und stand darauf nicht. Eine Kerze, ein Päckchen Streichhölzer, ein winzig kleiner Wecker und ein braun eingebundenes Buch. Die kühle Leinenbettwäsche berührte dieses Brett zaghaft, als wolle es ihm bedeuten, dass es dazu gehöre, kein Feind war. Schweigend nahm das Brett an und rührte sich keinen Zentimeter von seiner Wand.
Noch stundenlang hätte der junge Mann so dort sitzen können. Doch stattdessen stand er auf, da er wusste es wäre Zeit dafür, und ging zu dem nur wenige Meter entfernten Kleiderschrank hinüber. Langsam öffnete er dessen Türen, in dem Versuch ein Knarren oder Quietschen des Holzes zu vermeiden. Und tatsächlich gelang es ihm, den Schrank vollkommen lautlos zu öffnen. Bis ganz an den Anschlag klappte er die Türen und kniete sich dann zwischen sie, während sie jeweils einen halben Zentimeter quietschend zurück sanken. Alles mögliche daraus schließend, nahm der junge Mann von diesem Geräusch Notiz und griff dann nach einem Pappkarton, welcher im Boden des Schrankes stand. Er hob ihn auf seinen Schoß und öffnete langsam den rauen Deckel, ehe er sich von einem hell klickenden Geräusch kurz unterbrechen ließ.

Die junge Frau hatte in der Küche nebenan das Licht ausgeschaltet, kehrte mit einem Glas Wasser zurück in den Flur und schließlich von dort aus in ihr Zimmer, welches sie sich völlig unbedeutend eingerichtet hatte. Denn im Eigentlichen war es das Wohnzimmer dieser Wohnung.
Das Bettzeug dort hatte sie mit schwarzer Satinwäsche bezogen, in welche man unangenehm hinein glitt wenn man sich nachts zum Schlafen legen wollte. Sie stellte den CD-Spieler an, entschied sich jedoch wieder um und wechselte schließlich zum Plattenspieler und legte dort die Revolver-LP der Beatles auf. Dann kehrte sie zurück zum Bett, setzte sich darauf und nahm einen Schluck Wasser. Ihre Augen, die gedankenverloren in das Glas blickten, waren noch immer geschminkt. Und ihr Blick vertrübte sich ein klein wenig, als sie sich mit der Hand durchs Haar griff, merklich ein- und ausatmete.
Und selbst wenn sie, bei der Erinnerung an das vor kurzem geführte Telephonat, vorfreudig lächeln konnte, so ließ sich doch die Lüge in ihrem Gesicht, die traurige Lüge in ihren Augen, die dieses Lächeln tief überschattete, nicht leugnen. Sie war da und -

Der junge Mann hatte damit begonnen, einige Sachen aus dem Pappkarton heraus zu nehmen, sie anzusehen und meist legte er sie gleich darauf wieder zurück. Es waren Fotos und andere kleine Erinnerungsstücke. Fotos und Erinnerungsstücke von ihr und ihm. Und beinahe hätte er voller Hohn lachen müssen, als er daran dachte, dass diese Fotos aus ganz anderen Gründen gemacht worden waren, als zum Zwecke einer solchen Art von Erinnerung, wie sie ihn nun offenbar erfüllten. Doch er lachte nicht, sondern vielmehr kippte sein Gesichtsausdruck sofort in einen tieftraurigen Blick herüber. Aber auch diesen behielt er nicht lange bei. Und mit einem zerbrechlichen Gesichtsausdruck, einem schwebenden Blick kurz vor dem Gipfel und knapp neben dem Abgrund, sah er auf den restlichen Inhalt des Kartons. Haltlos war das Betrachten der Fotos für ihn. Er sah sie sich an, ohne es wirklich zu wollen und ohne zum anderen einen richtigen Widerwillen dagegen entwickeln zu können.
Vielleicht langweilte er sich ja auch einfach nur. Denn all seine wichtigsten Sachen waren in einer Tasche verpackt und das Unwichtige stand nur inmitten der Leere herum und wirkte so noch tausendmal unwichtiger als sonst. Er verreiste immer mit einer Tasche, da Koffer so etwas unhandliches und nicht zuletzt auch endgültiges an sich hatten, wie er fand.
Die Langeweile jedoch, welche man seinen Handlungen hätte zuschreiben können, verspürte er nicht. Er fühlte sich nicht so übertrieben leer und nutzlos, so unwissend in jedem Schritt, dass er ihn mehrmals hätte wiederholen müssen, um dessen Sinn zu begreifen. Es war etwas ganz und gar anderes als Langeweile, das ihn erfüllte. Etwas viel tieferes war in ihm und die Erfüllung die es ausmachte, war nicht unbedingt gleich Erfüllung im Sinne einer glücklichen Erleichterung. Wie ein Stein hing dieses fremdartige Gefühl um seinen Hals, so unabänderlich in seiner Klarheit, dass man es nur mit einem weinenden Schulterzucken hinnehmen konnte. Den Lauf der Welt.

Langsam verschloss der junge Mann den Karton und stellte ihn zurück in den Schrank, ehe er die Hände einen Augenblick lang schweigend im Schoß verschloss. Die Reise welche vor ihm stand, war nicht übermäßig lang. Doch sie war es auch nicht, die ihn im Moment beschäftigte. Was ihm viel eher zu denken gab, war seine bevorstehende Rückkehr. Die Rückkehr in diese Wohnung, die er erst vor so kurzem bezogen hatte. Alles würde aussehen wie er es verlassen hatte. Und beim ersten Händewaschen im Bad, würde er ein frisches Handtuch vorfinden, während die Länge seiner Reise doch zum anderen nicht ausreichte, um die Anschaffung einer neuen Seife, neuer Haarwäsche oder eines neu versuchten Badeöls zu rechtfertigen. All die leicht verklebten Flaschen wären die selben und im Kühlschrank läge frischer Käse, aber der gleiche wie vor seiner Reise. Vielleicht gäbe es irgendetwas anderes neues auszuprobieren. Doch im Großen und Ganzen war Josephines Wesen nicht morbid genug, um beinahe jede Handlung zu einem Ereignis werden zu lassen, zu einem Sprung ins Tal oder zum rettenden Zug auf den Berg. Im Grunde war es eben dieses Zusammenspiel von Berg und Tal, das ihrem Wesen fehlte. Viel eher war es ein Leben zwischen Hügeln und kleineren Erdlöchern, welches vermutlich auch beim Treffen mit ihrer Verabredung Erwiderung finden würde. Dieser Freund war jemand der seinen Plänen unabhängig von der Welt anging, unbehelligt von Rückschlägen und Abweisungen. Jemand der alles einzig und allein nach sich selbst ausrichtete, verwirklichte was ihn begeisterte, bis es ihn langweilte. Und doch verbarg sein Wesen mehr Einfalt als Perfektion in sich, mehr Stil als Geschmack und mehr Ahnung als Wissen.
Der junge Mann wusste, dass ihr einiges fehlen würde wenn er erst einmal fort sei. Doch konnte er sich auch die Anrufe vorstellen, bei denen er vor Sehnsucht zitternd auf dem Bett lag, während sie - ein Kleid tragend - Ohrringe auswählen würde und bereits beim ersten Läuten des Telefons, dank der geforderten Konzentration auf andere Dinge, durchaus auch auf vieles verzichten konnte. Und bei seiner Rückkehr von dieser Reise, würde man sich nicht länger vermissen, würde anfangen die gemeinsame Wohnung miteinander zu teilen, würde endlich wieder gemeinsam einschlafen - wer weiß wonach - und am nächsten Morgen schließlich doch jeder für sich erwachen.

Als der junge Mann auf die Uhr sah, war es knapp Zehn durch und noch ehe er einen Gedanken daran aufwerfen konnte, klingelte es an der Tür. Langsam stand er vor dem Schrank auf, schloss dessen Türen geräuschlos und doch ohne sich große Mühe darum zu geben und hob vom Boden seine Tasche auf. Nach wenigen Schritten stellte er sie wieder ab und ging zum Fenster, um es zu schließen. Nachdem das geschehen war, ging er zur Tür, nahm unterwegs die Tasche wieder auf und warf nun noch einmal einen Blick zurück ins Zimmer. Doch wie ein Spiegel, warf die Leere des Raumes diesen Blick zurück in ihn selbst. Und als er sich dem und dessen Bedeutung im Klaren war, drehte er sich um und ging ohne die Tür zu schließen. Stumm blickte ihm die dunkle Leere des Raumes hinterher, so als wolle sie fragen ob er sich von dieser Handlung denn allen ernstes noch etwas verspreche. So trieb sie ihn nach links, den Flur hinunter, wo neben der offenen Wohnungstür bereits Josephine wartend stand.
Ihr Glas hatte sie im Wohnzimmer gelassen, wo auch die Platte noch immer lief. Und selbst ihre Augen hatten noch immer den selben, auf eine gewisse Art unsichtbaren Ausdruck einer Traurigkeit. Als der junge Mann sie ansah, wollte er nicht gehen. Und mit der Überlegung, wie es denn damit hätte weiter gehen sollen, trat er bis direkt an die Tür.
„Soll ich die Tasche denn vielleicht schon nach unten ins Auto bringen?“ fragte der Taxifahrer, welcher wartend vor der Tür stand und den der junge Mann selbst jetzt noch immer nicht ansah. Er gab ihm die Tasche und auf die Frage hin, ob er noch mehr Gepäck habe, schüttelte er nur den Kopf und der Fahrer verschwand mit der Tasche im Dunkeln des Treppenhauses.
Es war noch immer diese außergewöhnliche Freundschaft, die die Beiden allein in ihrer Blicken und Gedanken alles wichtige sagen ließ, ohne sich selbst dabei irgendwie unsicher oder gar lächerlich vorzukommen. Und als sie sich küssten, sie sein zartes, halb zwischen Gipfel und Abgrund schwebendes Gesicht berührte, fühlte er es genau und schloss die Augen, wobei er mehr Tiefe als Dunkelheit empfand. Und während sie einander noch immer langsam küssten, griff sie nach seiner Hand und schob sie vorsichtig unter ihren Pullover. Er berührte ihren Bauch und sie begann zu weinen, während sich ihre Lippen langsam voneinander trennten. Behutsam griff er nach ihrem Haar und zog es ihr aus dem Gesicht. Ihre dunklen Augen blickten ihn an und er betrachtete schweigend dieses wunderschöne, zarte Gesicht, das auch ebenso hart sein konnte und dem diese Lüge noch immer nicht abzuleugnen war. Jetzt erstrecht nicht. Doch der junge Mann wollte und konnte sie deshalb nicht bemerken.

Als er selbst im Dunkel des Treppenhauses verschwand, war ihr Blick noch immer ebenso unsicher und doch hart. Denn diese Lüge in ihrem Gesicht hatte auch gar nicht ihm gegolten. Ihm, der immer alles viel zu genau wusste und dem daraus doch kein Vorwurf zu machen war, wenn er in seiner Naivität das wesentlich Grausame immer wieder übersah. Die Lüge in ihrem Gesicht, das Unsagbare in ihren Augen, galt doch im Eigentlichen nur ihr selbst und überschattete so jedes noch so schöne Lächeln. Sie war da, diese Lüge. Vielleicht eine Heuchelei ihres Herzens gegenüber ihrer Seele. Sie war da und Josephine wusste, was sie bedeutete.
Sie schloss die Tür und kehrte wortlos ins Wohnzimmer zurück, setzte sich auf ihre Satinbettwäsche. Dann zog sie ihren schwarzen Pullover ganz aus, ließ ihn auf den Boden fallen und legte sich zurück auf das Bett. Und obgleich es ihre warme, weiche Haut war, die diesen glänzenden, kühlen Stoff nun berührte, fühlte sie sich nicht viel besser als ein rauwandiger Pappkarton in dem hölzernen Boden eines Kleiderschranks.
 

Zarathustra

Mitglied
Hallo David,
ich hatte einige Probleme mit deiner Geschichte.

Ich fand sie lange (zu lange?) und hatte Schwierigkeiten, den Faden nicht zu verlieren.
Dein Satzbau ist oft kompliziert und deine Wortwahl z.T. schwerfällig.

Z. B.:
Sie war kaum über die mittleren zwanzig Jahre hinaus ...
Warum schreibst du nicht, ... sie war knapp über Mitte zwanzig...

Dann hast du aber auch gute und sehr gute Ausdrücke in deiner Erzählung:

z. B. Sie war so unfassbar, in ihrer Distanz, so einzigaritg verletzend.
oder:
.. das Unwichtige stand nur inmitten der Leere herum und wirkte so noch tausendmal unwichtiger als sonst. ...

Dass du den Schluss offen lässt finde ich gut.

Summa summarum meine ich:
Du hast die Situation in der die beiden Personen stecken und die unterschiedliche Perspektive der beiden gut beschrieben, aber es ist dir nicht immer gelungen ihr Handeln, ihre Gedanken in flüssigem Stil zu beschreiben.

Aber ich meine, du hast es wirklich drauf zu schreiben.
 



 
Oben Unten