Juden Heggisch

Seshmosis

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Juden Heggisch

Damals, Anfang der 60er Jahre, gab es in meiner Stadt für einen Zwölfjährigen viele verbotene Plätze. Nicht dass dies ein Hindernis gewesen wäre, diese Plätze aufzusuchen, ganz im Gegenteil, sie wurden dadurch nur noch attraktiver.
Einer der geheimnisumwittertsten Orte im damaligen Fürth war für uns Kinder der „Juden Heggisch“ am Gänsberg nahe der Rednitz. Hier trafen zwei Worte aufeinander, mit denen wir nichts anfangen konnten: Juden und Heggisch.
Von Juden wusste ich nicht mehr als ein Raunen und Munkeln. Die Erwachsenen wirkten seltsam ruhig, verstört und auch schamhaft, wenn das Wort „Juden“ fiel. Und weder in der Volksschule noch in den ersten Gymnasiumsjahren fanden sie in diesen Jahren eine Erwähnung. Einzig im Religionsunterricht fand man ihre Spuren – als ein Volk fern in Raum und Zeit, das einmal zehn Gebote bekommen hatte, nicht auf seine Propheten hörte, hin und wieder von Gott mit Sintflut, Exil und Tempelzerstörung bestraft wurde und schließlich Christus ans Kreuz nagelte. Und irgendwann vor nicht allzu langer Zeit mussten ihnen die Deutschen, also meine Eltern, Verwandten und Nachbarn, etwas schrecklich Böses angetan haben. Deshalb reagierten sie so merkwürdig einsilbig, wenn die Sprache auf dieses Thema kam.

In meinem Kopf formte sich aus Aufgeschnapptem und meiner Fantasie ein bizarres Bild: die Juden hatten irgendwann Jordan, Jerusalem und Wüste verlassen und waren nach Fürth gekommen. Hier waren sie reich geworden, zumindest reicher als die Leute in der Altstadt, wie ich den Andeutungen meiner Eltern entnahm, und es gab einen riesigen Streit. Vielleicht wegen der Kreuzigung, höchstwahrscheinlich aber wegen Geld, und dann hatte man den Juden etwas angetan, was wohl nicht gerecht gewesen war, denn sonst würden die Erwachsenen ja nicht so seltsam reagieren. Da hatten also die Erwachsenen auch einmal etwas angestellt. Ich vermutete, dass man sie zum Teil fortgejagt hatte, denn sie waren ja nicht mehr da, zum Teil eingesperrt, denn direkt gegenüber dem Juden Heggisch stand das ehemalige Fürther Gefängnis. So erschien es mir in meiner kindlich-jugendlichen Fantasie zumindest schlüssig.

Bei dem Wort „Heggisch“ dachte ich an Hecken, aber das konnte nicht stimmen. Zum einen nannte man andere Orte, die von Hecken umgeben waren nicht ebenfalls „Heggisch“, zum anderen war der Juden Heggisch keineswegs von Hecken umgeben, sondern von hohen Mauern. An keiner einzigen Stelle konnte man hineinsehen. Es gab lediglich ein großes, hohes, zweiflügeliges Holztor, das stets verschlossen war. Heute weiß ich, dass das Wort „Heggisch“ eine Fürther Verballhornung des jiddischen Worts “hek-djesch“ ist, das Hospital bedeutet. Früher stand das jüdische Krankenhaus in dieser Gegend und so wurde der Name „Juden Heggisch“ auf das ganze Areal übertragen.

Ein geheimnisvoller, unzugänglicher und vor allem verbotener Ort – was kann es für einen Zwölfjährigen reizvolleres geben?
Jeden Sommer kam ich auf meinem Weg von der Gustavstraße zum Flussbad an dieser langen Mauer mit dem großen Tor vorbei. Und auf dem Rückweg wieder.
Zuerst war es nur eine Mauer, an der man vorbeiging wie an den Häusern. Völlig unwichtig auf dem Weg zum Badespaß, da war der Kopf voll Vorfreude. Auf dem Rückweg war es anders. Zuhause wartete nur das Abendessen und vielleicht eine Sendung im Radio. Nicht genug, um von den Gedanken Besitz zu ergreifen.
So wuchs von Tag zu Tag mein Wunsch, einmal über diese Mauer zu steigen, um zu sehen, was sich dahinter verbarg. Immer wenn ich am Juden Heggisch vorbeikam, überlegte ich, wie ich es wohl schaffen könnte, diese hohe Mauer zu überwinden. Eines Tages, fast am Ende der Sommerferien, half mir der Zufall in Form eines nicht vorschriftsmäßig geparkten Pritschen-Lkws. Ich nutzte die Gunst der Stunde, erklomm über einen Reifen die Bordwand und dann das Führerhaus, von wo aus ich einen guten Einblick bekam.
Der Triumph über den Aufstieg war nur kurz und wurde augenblicklich von großer Überraschung abgelöst.
Denn was ich sah, hatte ich nicht erwartet: Gräber über Gräber - der geheimnisvolle Ort „Juden Heggisch“ war ein Friedhof!
Dieses Areal strahlte etwas Fremdartiges aus, war so ganz anders als seine Umgebung. Das ganze Gelände war verwildert und machte einen unwirklichen Eindruck. Dicht bei dicht standen die Grabsteine, viel dichter als auf „unserem“ Friedhof an der Erlanger Straße, den ich von einigen Beerdigungen und vielen Grabbesuchen gut kannte. Hier gab es keine gepflegten Wege und keine Brunnen, keine Kränze oder Blumen schmückten die Gräber, die sich aus meiner Perspektive fast überlagerten und sich bergab zur gegenüberliegenden Mauer an der Uferstraße drängten. Etwas ungeheuer Dunkles ging von diesem Ort aus und es lag nicht daran, dass er für mich verboten war.
Schnell stieg ich wieder vom Lkw ab, tief beeindruckt vom Gesehenen.

In meinem Kopf jagten sich die Gedanken und Assoziationen. Dort das Gefängnis, hier ein Friedhof – man hatte den Juden etwas angetan, und hier war eine Tabuzone, über die keiner, den ich kannte, offen sprach. Was hatten sie den Juden angetan? Getötet und dann hinter der unzugänglichen Mauer begraben? Sprachen sie deshalb so seltsam gehemmt über die Juden?
Aufgewühlt und mit brennenden Fragen kam ich nach Hause.
Meine Mutter war zuerst verwirrt, doch dann versuchte sie geduldig meine Fragen zu beantworten. So erfuhr ich, dass das ehemalige Gefängnis und der uralte jüdische Friedhof nichts miteinander zu tun hatten. Mutter erzählte mir, dass die Juden viel Gutes für unsere Stadt bewirkt hätten, aber dass es jetzt kaum mehr welche hier gäbe.
Weiter erfuhr ich, dass die Nazis, die mit dem Hakenkreuz, den Juden viel Leid angetan und viele von ihnen umgebracht hatten, aber nicht in Fürth.
In ihren Ausführungen klang es für mich, als ob die Nazis irgendwelche durchziehenden Wandalen gewesen wären, die aus dem Nichts kamen, um nach ihren Gräueltaten wieder im Nichts zu verschwinden. So sah es aus meiner Perspektive aus, als ob die einen Fremden, die Juden, von den anderen Fremden, den Nazis, verfolgt und umgebracht worden waren und sich die Fürther dabei in die Rolle der verstörten, hilflosen und verängstigten Zuschauer fügen mussten.
Ein Jahr später las ich das Tagebuch der Anne Frank.
 

maerchenhexe

Mitglied
Hallo Seshmosis

habe deinen Text "Juden Heggisch" jetzt das dritte Mal gelesen und er berührt mich immer mehr, möglicherweise weil es in unserer Kleinstadt einen sogenannten Judenbusch gab, für dessen Existenz ich niemals ausreichende Erklärungen erhielt.

lg

maerchenhexe
 



 
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