Jugend und Provinz

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Goya

Mitglied
An der Ampel

Ich weiß noch genau, wie ich sie das letzte Mal sah, buchstäblich bevor wir uns im Getümmel der Leute verloren. Antonia Dietrich, mit gleichmäßig gebräunter Haut und nun gleichfalls aufgehellten, durch das Solarium auch strähnigen, blonden Haaren, wankte, ohnehin ein wenig linkisch, betrunken über eine Wiese, welche für dieses Wochenende mit Bambuszäunen, Palmen, ein wenig Sand, sowie Alkohol und viel ländlicher Einbildung zum Ort einer „Dschungel Party“ geworden war, während hier normalerweise Holsteiner Kühe weideten. Antonia hatte gerade ihr Abitur in der Kleinstadt, ja man darf sagen Vorstadt, oder vielmehr Satellitenstadt, Kleinstzentrum, nein, in der Provinz gemacht. Ihr Jahrgang erging sich in den kurzen Wochen bis zum Sommerbeginn, der Sommer hatte dieses Jahr nicht auf seinen offiziellen Anfang gewartet, in einer endlosen, leichtfertigen, sorglosen Zwischenzeit ohne Verpflichtungen, voller Festlichkeiten vom förmlichen Abschlussball bis zum sinnlosen Besäufnis auf nach damaligem Jargon so genannten „Feten“ wie dieser. Ein Ausdruck, dem man das Dorf selbst im Laut anhören konnte: Feten. Die üblichen Bands der Umgebung traten auf, die \"Monroes\", welche schon einmal einen Talentwettbewerb in Kiel gewonnen hatten, die \"Rock-a-Billy Mafia\", vielleicht sogar die etwas innovativen \"Pixielated\" oder die \"Cucumber Men\", ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich war ich selbst auch viel zu betrunken. Dennoch erinnere ich mich daran, wie Antonia, die Diplomatentochter, welche knapp vier Jahre zuvor, am Ende der Sommerferien wie eine Erscheinung in unserer Klasse aufgetaucht war, perfektes Englisch sprach, wie unsere Klassenlehrerin betonte, mit deren eigenem Oxford es jedoch, wie einem später, während langer Zeit im Ausland klar wurde, selbst nicht weit her gewesen war, die aber, Antonia, etwas Kosmopolitisches, etwas Weltläufiges und Feines in die zehnte Klasse unserer Kleinstadt brachte, das ich bis dahin nicht kannte, wie also Antonia auf mich zuwankte, mich am Ärmel packte, sich vielmehr daran festhielt und Konfession machen wollte. Sie sei, sie habe, egal was andere sagten, immer gut von mir gedacht. Nun, ich verstand daran so einiges nicht, so dass ich später, auch nach längerer Ausnüchterung, noch häufiger diesem Moment sozusagen nachsinnen musste.

Mir war zunächst gar nicht bewusst, dass auch Antonia schlecht von mir geredet hatte, wie sie mir ja implizit zu verstehen gab. Im Grunde genommen, war ich sogar überrascht, dass sie überhaupt von mir geredet hatte, ja, dass in ihren Kreisen von mir geredet wurde. Man muss sich vorstellen, wie es sie nach Pinneberg, oder vielmehr Seester, einem Hundertseelenflecken bei Pinneberg, verschlagen hatte. Ihr Vater, allgemein als Diplomat bezeichnet, bekleidete tatsächlich ein Amt bei der NATO. Sie war an zahlreichen Orten aufgewachsen, zuletzt in Norwegen, und davor, so meine ich mich erinnern zu können, in England, immer jedoch an internationalen Schulen, zusammen mit den Eleven anderer Familien aus internationalen, und, wie sie einem zu verstehen gab, vornehmen Kreisen. Für die letzten Jahre ihrer schulischen Erziehung war ihr Vater nun nach Deutschland versetzt worden. Die Dietrichs, nach einem von Antonia mit Augenzwinkern hin und wieder erneuerten Gerücht, mit der großen Marlene Dietrich verwandt, von der ich selbst nicht mehr kannte, als eines ihrer rau gehauchten Lieder und ihren Ruf, Männer um den Verstand zu bringen, was sich im wesentlichen auf ihre Rolle in der Verfilmung des Romans von Heinrich Mann bezog, von dem ich wiederum weniger wusste als von Marlene Dietrich, kurzum, die, wie ihren Namen, eine gewisse Aura der großen Welt umgab, welche sich bei uns nicht finden ließ (ich weiß von keiner Berühmtheit in unserer Stadt. Außer vielleicht einem Tennisspieler, der noch zu meinen Schulzeiten Abiturient war und einige Zeit danach durch seinen schnellen Aufschlag und seine direkte, unattraktive Spielweise einmal Wimbledon gewonnen hat und dann in die Bedeutungslosigkeit versank), diese Dietrichs aber zogen schon nach wenigen Jahren weiter, ohne Wurzeln geschlagen zu haben in unserer schwarzen Marsch-Erde, die so wichtig für die Milchbauern der Gegend ist, während die Geestbauern, auf Silagefutter angewiesen, lieber gleich bloß Kälbermast oder Sportpferdehaltung betrieben. Ich erinnere mich daran, dass Antonia die letzten Monate in Seester bereits nicht mehr bei den Eltern verbrachte, sondern, so glaube ich, bei ihrem Freund, Sven Priegnitz, einem Rechtsanwaltssohn aus den ersten Kreisen der Stadt. Sehr erwachsen, schon in der Schule von zu Hause auszuziehen. Eigentlich nicht wirklich vorstellbar. Das leben der Dietrich, ein Roman. Jene sogenannten ersten Kreise aber, soweit es sie eben gab in unserer Provinz, versammelten sich in den örtlichen Institutionen, dem Lions-Club, dem Lawn-Tennis-Club und dem Yacht-Club. Gezwungenermaßen musste auch Antonia sich damit zufrieden geben. Hauptsächlich durch Fleiß und vor allem Anpassung waren die Bürger dieser Clubs zu einigem Geld gekommen, ohne aber so recht etwas damit anfangen zu können, außer es in etwas direkter Weise zur Schau zu tragen, sich also im sogenannten Speckgürtel Hamburgs einzunisten. Ob es ihr schwergefallen war, sich einzufinden? Oder ob sie wusste, dass ihr in der Provinz alles gleich zu Füßen liegen würde?

Als Antonia auf unserer Bildfläche, der nordelbischen Tiefebene mit ihren tristen, hässlichen Kleinstädten, und der Hanse- und Handelsstadt Hamburg als selbsternanntes Tor zur Welt, erschien, wirkte sie tatsächlich als reine Erscheinung nicht bloß auf mich. Aus den Sommerferien, ausgefüllt durch viel Hitze und Langeweile, zurückgekehrt, der Wind schon schneidend kalt, fand die erste Stunde in irgendeinem Physikraum statt, jedenfalls zeigte das der neue Raumplan an, um den sich den ganzen ersten Schultag eine beständige Traube von Pennälern drängte. Ich fand zum angezeigten Raum, trat einen Schritt hinein, und wieder heraus, denn ich sah sie vorn mit dem Lehrer sprechen, mit Rehaugen so hübsch wie die von Audrey Hepburn beim Frühstücken auf der Fifth Avenue, einem unglaublich eleganten Rock in Herbsttönen, einem engen Burlington-Pullover mit Rautenmuster, kastanienfarbenen, leicht naturgewellten Haaren, und einer Herzlichkeit, die mich im nachhinein erstaunt, denn ihr musste sich zuvor beim Gedanken an ihre neue Heimat die Kehle zugeschnürt haben. Sie sah mich überrascht an, der ich mit einem hellbraunen Lederranzen unter dem Arm und in engen Jeans, die meine Beine unvorteilhaft dünn erschienen ließen, in der Tür stand, und ich schloss sofort, dass ich mich im Zimmer geirrt haben musste, ein Oberstufenkurs vielleicht, wahrscheinlich eine andere Welt lag hinter dieser Tür. Natürlich war es mir augenblicklich peinlich, von der Unbekannten bemerkt worden zu sein, wie mir eigentlich ständig alles peinlich war. Andere wären bei ihrem Anblick, und vor allem Angeblickt-Werden, einfach sofort auf sie zugegangen und hätten Bekanntschaft geschlossen. Andere, die nicht die Ungeschicklichkeit, die Verklemmung der Provinz in den Knochen gehabt hätten. In dem Moment rief mich irgendeine altbekannte Stimme in die Klasse hinein, nun wurde ich erst recht bemerkt, die Peinlichkeit vergrößerte sich. Antonia stand vorn, um sich beim Lehrer als neue Schülerin vor- und damit natürlich auch gleich gutzustellen. Sie tat es professionell, wo sie herkam tat man es eben so. Bei Beginn der Stunde stellte also der Lehrer wiederum sie der Klasse vor, und sie sagte auch ein paar nette Worte der Begrüßung. Einige meiner Freunde begafften sie mit einem so unverhohlen offenen Blick, dass es mir vorkam wie im Zoo, und natürlich war mir auch das peinlich. Antonia war also eine Schönheit, aber damit nicht genug, die wenigen Worte des Lehrers reichten aus, um den besagten Duft der weiten Welt bis in die letzten Winkel des Physikraums zu verbreiten. Zudem munkelte man bereits in der nächsten Pause, Antonia habe sich erbeten, mit den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern zusammengesetzt zu werden, wie es sich eben gehören würde für eine gute Eleve einer so angesehenen internationalen Schule wie der ihrigen. Sie seien im Stoff wohl schon um ein Jahr vorausgewesen, hatte sie angeblich gesagt, und es klang wohl etwas darin wie die gutmütige Befürchtung, diese Lücke könne an einer Provinzschule sowieso nie geschlossen werden. Noch auf der Treppe zum alten Trakt unserer Anstalt schlug mir also irgendwer hart auf die Schultern und behauptete, ich als guter Schüler, der bisher immer eben und ohne große Anstrengung sein Niveau halten konnte, müsse mich wohl jetzt warm anziehen und wieder einmal von einer Frau überholen lassen. Und was für einer! Antonia schloss schneller Freunde als das Licht und glänzte mit Anekdoten, lustigen norwegischen Floskeln, ja überhaupt konnte sie ein paar Brocken von jeder erdenklichen Sprache auf dem Globus. Auch daran musste ich denken, später, auf der betrunkenen Wiese, die lallende Antonia an meiner Seite hängend. Sie war, ich verstehe, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger genau warum, längst keine Schönheit mehr. Wie gesagt, die inzwischen dauergetönte Haut, die ihr als Mädchen noch wie die sprichwörtlich vornehme Blässe fein und hell im Gesicht stand, war stumpf geworden, beinahe fleckig. Ihr Haar hatte nach einem Blondierungsversuch nun ein unbestimmt hellbraunes Ocker angenommen, keine Spur mehr von der leicht rötlichen, dichten Kastanienfarbe. Ich bildete mir ein, eben dieser Eindruck müsse selbst eine Einbildung sein, und sie, Antonia, sei auch früher eben nicht so frisch und nobel gewesen, wie es meine Erinnerung behauptete. Aber später, beim Betrachten eines Klassenfotos, gleich neben den Bildern des Abiturjahrgangs gelegt, bestätigte sich jede Einzelheit meiner Erinnerung. Eine bildschöne Tochter aus gutem Hause lächelt dort noch immer fort, während sie seither in der Welt verschwunden zu sein scheint.

Bereits nach wenigen Stunden war sie zu sämtlichen Partys des nächsten Wochenendes eingeladen. Man muss sich das so vorstellen, dass die vornehmlich artigen Pennäler unserer zehnten Klasse, U IIa oder ausgesprochen \"Untersekunda a\" hauptsächlich unter sich verkehrten, vielleicht schüchtern ein paar Gesichter der Parallelklassen grüßend, im Wissen um die baldige Zusammenlegung zu einem Jahrgang. Aber niemand hatte ihnen je beigebracht, wie man auf Englisch so treffend sagt, Freunde zu machen. Die wenigen, die man hatte, waren ihnen gerade genug. Nicht so Antonia. Auf unseren gemeinsamen Schulgängen, von denen noch die Rede sein wird, sprach ich sie einmal direkt darauf an, dass sie wohl viele Freunde in den anderen Klassen hätte, worauf sie mit leicht nachdenklichem Blick auf den grauen Schnee, unsere Schulgänge währten einen dunklen Winter lang, entgegnete, eher an den anderen Schulen. Gemeint waren die \"coole\" Gesamtschule, sowie das angeblich \"kulturelle\" zweite Gymnasium, während wir als Leistungsanstalt galten. Antonia kannte tatsächlich bald die ganze Stadt, was ihre Anwesenheit in unserem Schulzimmer zu einer Art von Präsenz machte. Natürlich lag das auch an ihrer direkten, dabei aber unschuldigen Art, Leute in jedem Sinne des Wortes anzusprechen, noch immer mit einem leicht skandinavischen Akzent, außer im Englischen, der jedoch langsam blasser wurde und irgendwann verschwand. Ich konnte meine Gefühle ihr gegenüber, diese Liebe auf den ersten Blitzschlag, die ich mit aber auch wirklich allen anderen in meiner Umgebung teilte, die darum keinen Rest der privaten, schmerzhaften Bewunderung der schier Unerreichbaren hatte, und doch mit jenem ihr eigentümlichen, ziehenden, wehmütigen Schmerz im Bauch einherging, nicht verstehen. Ich kannte damals noch nichts anderes als dieses Verliebtsein, und hielt sogleich dieses Gefühl für die Sache selbst, ohne jede Ahnung von den Verwickelungen, Nuancen, Fallen und Irrwegen, die noch auf mich warteten. Antonia musste das alles bereits damals in- und auswendig gekannt haben, ja, es langweilte sie schon. Da war Sven Priegnitz, ihr Freund, allein der Name. Zwar schmal und nicht hoch von Wuchs, war er von einer auffallend interessanten Erscheinung, sehr fein, mit aristokratisch frisierten dunklen Haaren zu einem Jeans-Outfit, welches immer gerade dezent genug verwaschen, oder an den leicht über die Hacken hängenden Hosenbein-Enden angerissenen war, um lässig zu wirken. Dazu rote Turnschuhe aus den Fünfzigern, Chucks, nicht die Spur von jenem makellos Kalten, Peinlichen der achtziger Jahre. Sven, der deutlich erwachsener aussah, als wir waren, entstammte den Levi\'s-Werbungen, die mit Oldies von Sam Cooke, Jukeboxen und alten Cola-Automaten die Provinz, das heißt das Nicht-Amerika, beeindruckten. Ohne es zu bemerken, ahnte man, dass Sven bereits dem Trend von morgen entsprach, dass die Achtziger schon damals vorbei waren. Antonia kopierte den Jeans-Look, sie lief sich sogar absichtlich die Hacken der Hosen-Enden ab, in niedrigen Cowboystiefel-Chaussures.

In denen stand sie auch eines Morgens an der Ampel, der Herbst hatte den Schulweg bereits zu einer regnerischen, dunklen Bahn werden lassen, ich selbst trug meine hell türkisfarbene Daunenjacke mit dem Markenlabel am Arm, sie mochte wohl wegen ihrer Farbe heruntergesetzt gewesen sein, aber eine echte Markenjacke, peinlich, und sprach mich an. Ich stieg vom Rad, wir gingen dann das Kopfsteinpflaster zum Hafen hinunter, ich wusste nicht, worüber ich reden sollte, aber, wohl zu unser beider Überraschung, fanden wir bald Themen, wie das Leben in unserer Stadt, unsere Pläne für später, schließlich sogar Kunst, den Weg zur alten Kirche hinauf, an der Stadtbücherei und der Feuerwehrwache vorbei, die in die Allee zu unserer Schule, einem furchteinflößenden, alten Backsteinbau mit hohen Stockwerken, führte. Einige Tage darauf, zur gleichen Zeit, traf ich sie wieder, diesmal kurz hinter der Kirche. Schließlich achtete ich darauf, nicht wie üblich allzu spät von zu Hause aufzubrechen, einmal hetzte ich mich geradezu zur Schule, ohne Antonia Dietrich noch zu erwischen, dabei war sie erst nach mir an der Ampel gewesen. Nach der ersten Stunde fragte sie mich, warum ich nicht auf sie gewartet hätte. Das tat ich fortan, und unsere Konversationen wurden Institution. Sie kam mit dem Bus aus dem elterlichen Dorf, welcher nicht bis zur Stadtmitte fuhr, aber, wie ich irgendwann erfuhr, verbrachte sie wohl auch oft die Nacht bei ihrem Freund. Sobald wir den Klassenraum erreichten, trennten sich unsere Wege, und Antonia, die stets grüßend gegrüßt werdend über den Schulhof ging, auch von der Raucherecke der Oberstufe herüber, bewegte sich in einer anderen Welt. Zwar wartete sie zunehmend auch auf mich an der Ampel, aber in der Schule kannten wir uns dann wieder kaum. Die ersten zwei Stunden waren mittwochs immer Kunst. Antonia nahm ihre Sachen, wie ich, oft mit nach Hause, da sie zu ambitioniert waren, um während der zwei kurzen Stunden fertiggestellt zu werden. Sie konnte sehr gut zeichnen, meine Sachen gefielen ihr auch. In ihren Figuren und Bildern wollte ich mehr von ihr erkennen, als ihre bloße Oberfläche, die ja allen bekannt war. Man darf sich unsere Umgebung, ja, geradezu die ganze Zeit damals als eine unendliche Oberfläche vorstellen. Es gab nichts in unserer Welt, dem kein Markenlabel aufgenäht, kein Preisschild angeheftet war. Sven Priegnitz sammelte Swatch-Uhren, er hatte hunderte, darunter Sondereditionen mit dicken Kugelgläsern. Was er wohl heute damit macht? Ich habe ihn viel später, bei einem seltenen Besuch in Pinneberg zufällig in einer Kneipe sitzen gesehen, er ist also am Ort geblieben. Ich hatte nach langem Warten auch eine Swatch bekommen, die ich stolz in der Schule herumzeigte. Ein weiches Plastik-Armband, dunkelblau, das Zifferblatt in ebenfalls dunkelblauem Marmor-Look. In dieser Welt waren die Bilder aus dem Kunstunterricht wie Notausstiegsfenster. Ich bewunderte Antonia, die ständig zeichnete, jedes ihrer Schulhefte war ein Kunstwerk. Sie nahm das Zeichnen ernst, ergatterte sich ein Praktikum in einer Werbeagentur, bereitete eine Mappe vor, um sich an Kunsthochschulen zu bewerben. Ich wollte das auch tun, konnte mir aber so schlecht vorstellen, in die Stadt zu ziehen, mit den anderen Kunststudenten mithalten zu können, beim Feiern, beim Leben. Antonia hatte das alles schon längst gesehen, gelebt. Ich vergaß bei so viel Bewunderung, dass sie mit mir nur aus einem habituellen Muster verkehrte, als hätten sie ihre Eltern früh genug ermutigt, mit den besseren Schülern im Kontakt zu bleiben, und jetzt war es ihr zur zweiten Natur geworden, sich mit den Strebern nicht ganz schlecht zu stellen. Und das hatte begonnen, sie zu langweilen.

Irgendwann traf ich sie nicht mehr an der Ampel. Nach einem Monat sprach ich sie darauf an. Sie sagte, sie würde jetzt meistens einen anderen Bus nehmen, außerdem sei sie nicht mehr so viel bei ihren Eltern. Noch ein Jahr lang schaute ich mich jeden Morgen an der Ampel nach ihr um. Das Zeichnen wurde mir immer wichtiger, ich machte bald nichts anderes mehr. Dann begann die Oberstufe und die so genannten Klassenverbände wurden aufgelöst. Für Leute wie mich hieß das, ständig mit Unbekannten zusammen zu sitzen, um in den Pausen rastlos nach den eigenen Leuten zu suchen. Dabei gab es die eigentlich nicht. Vielmehr fanden sich innerhalb weniger Wochen Gruppen zusammen, in einer kurzen Zeit, in der alle zu allen freundlich waren, um in diese Gruppen aufgenommen zu werden, dann waren die Plätze verteilt, und erst bei Gelegenheiten wie der Wiesenfeier war es möglich, dass jemand wie Antonia sich an meinen Arm hängen konnte. In dieser kurzen Zeit des Anfangs passierte mir ein Missgeschick. Katja, eine sehr beliebte blonde Schönheit unseres Jahrgangs, die in Chemie vor mir saß, drehte sich nach dem Ende der Stunde relativ überraschend zu mir um und fragte mich etwas über den Stoff, den wir durchgenommen hatten. Die Frage war so dumm, so absolut überflüssig, dass ich dachte, sie wollte anfangen, sich etwas über mich lustig zu machen, und ich gab eine kurze, ironische Antwort. In der Tat handelte es sich aber um die einmalige Einladung, sie kennen zu lernen, die ich offensichtlich ausgeschlagen hatte. Sie drehte sich geradezu erbost um, ihre Freundin Melanie warf mir einen beleidigten Blick zu, und ich war fortan aus ihren Kreisen ausgeschlossen. Dieses lächerliche Ereignis ist, was mir nach Antonias seltsamer Bemerkung auf der Wiese einfiel. Ein ähnlich kurzer, seltsamer Moment. Hatte ich je wirklich die Chance, sie kennen zu lernen, die Antonias und guten Freundinnen Katjas, die Klatschbase Melanie und Sven Priegnitz? Wenn ich ein bisschen schneller geschaltet, mich ein bisschen besser hätte ausdrücken können?

Neulich habe ich in Osaka den Entwurf eines Bibliotheksgebäudes gesehen. Das Thema, welches man als digitale Kalligrafie bezeichnen könnte, und das alle Anspielungen auf europäische Bibliotheksarchitektur unterließ, gefiel mir. Unter den Architektinnen eines beteiligten Hamburger Büros sah ich den Namen Antonia Dietrich. Da fiel es mir plötzlich ein, ein kalter, sonniger Frühlingsmorgen, Antonia mit einer riesigen Mappe unter dem Arm, ich mit ein paar Skizzen in einer Papprolle, auf dem Weg zur Kunsthochschule, an einem Hamburger Fleet entlang. Es gab dort eine Sprechstunde, in der ein Professor sich die Mappen von angehenden Bewerberinnen und Bewerbern besah, sie kurz kritisierte und ein paar Tipps und Anregungen ins Gespräch warf. Antonia hatte mich überredet, dort vorstellig zu werden, sie wollte nicht allein gehen. Aus ihrer riesigen Mappe gefiel dem Professor nicht ein Stück. Zu comicartig, nicht genug farbige Arbeiten, immer dasselbe sei es. Uninspiriert. Die paar Sachen, die ich ihm hinhielt, sah er sich gründlicher an und nickte. Nicht schlecht, gar nicht übel. Antonia konnte ihre Enttäuschung auf dem Rückweg nicht verbergen. Aber wann war das gewesen? Wie alt waren wir da? Ich war nach dem Abitur kurz an der Kunsthochschule in Berlin, hatte dann aber bald hingeworfen. Seitdem reise ich umher, das hat sich so ergeben, ein Job hier zog einen anderen dort nach sich, Gelegenheitsarbeiten. Ich schaffe es nicht, irgendwo länger zu bleiben, obwohl ich es eigentlich gern würde. Ich sollte mich einmal hinsetzen und versuchen, Antonia aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
 

Goya

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An der Ampel

Ich weiß noch genau, wie ich sie das letzte Mal sah, buchstäblich bevor wir uns im Getümmel der Leute verloren. Antonia Dietrich, mit gleichmäßig gebräunter Haut und nun gleichfalls aufgehellten, durch das Solarium auch strähnigen, blonden Haaren, wankte, ohnehin ein wenig linkisch, betrunken über eine Wiese, welche für dieses Wochenende mit Bambuszäunen, Palmen, ein wenig Sand, sowie Alkohol und viel ländlicher Einbildung zum Ort einer 'Dschungel Party' geworden war, während hier normalerweise Holsteiner Kühe weideten. Antonia hatte gerade ihr Abitur in der Kleinstadt, ja man darf sagen Vorstadt, oder vielmehr Satellitenstadt, Kleinstzentrum, nein, in der Provinz gemacht. Ihr Jahrgang erging sich in den kurzen Wochen bis zum Sommerbeginn, der Sommer hatte dieses Jahr nicht auf seinen offiziellen Anfang gewartet, in einer endlosen, leichtfertigen, sorglosen Zwischenzeit ohne Verpflichtungen, voller Festlichkeiten vom förmlichen Abschlussball bis zum sinnlosen Besäufnis auf nach damaligem Jargon so genannten „Feten“ wie dieser. Ein Ausdruck, dem man das Dorf selbst im Laut anhören konnte: Feten. Die üblichen Bands der Umgebung traten auf, die "Monroes", welche schon einmal einen Talentwettbewerb in Kiel gewonnen hatten, die "Rock-a-Billy Mafia", vielleicht sogar die etwas innovativen "Pixielated" oder die "Cucumber Men", ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich war ich selbst auch viel zu betrunken. Dennoch erinnere ich mich daran, wie Antonia, die Diplomatentochter, welche knapp vier Jahre zuvor, am Ende der Sommerferien wie eine Erscheinung in unserer Klasse aufgetaucht war, perfektes Englisch sprach, wie unsere Klassenlehrerin betonte, mit deren eigenem Oxford es jedoch, wie einem später, während langer Zeit im Ausland klar wurde, selbst nicht weit her gewesen war, die aber, Antonia, etwas Kosmopolitisches, etwas Weltläufiges und Feines in die zehnte Klasse unserer Kleinstadt brachte, das ich bis dahin nicht kannte, wie also Antonia auf mich zuwankte, mich am Ärmel packte, sich vielmehr daran festhielt und Konfession machen wollte. Sie sei, sie habe, egal was andere sagten, immer gut von mir gedacht. Nun, ich verstand daran so einiges nicht, so dass ich später, auch nach längerer Ausnüchterung, noch häufiger diesem Moment sozusagen nachsinnen musste.

Mir war zunächst gar nicht bewusst, dass auch Antonia schlecht von mir geredet hatte, wie sie mir ja implizit zu verstehen gab. Im Grunde genommen, war ich sogar überrascht, dass sie überhaupt von mir geredet hatte, ja, dass in ihren Kreisen von mir geredet wurde. Man muss sich vorstellen, wie es sie nach Pinneberg, oder vielmehr Seester, einem Hundertseelenflecken bei Pinneberg, verschlagen hatte. Ihr Vater, allgemein als Diplomat bezeichnet, bekleidete tatsächlich ein Amt bei der NATO. Sie war an zahlreichen Orten aufgewachsen, zuletzt in Norwegen, und davor, so meine ich mich erinnern zu können, in England, immer jedoch an internationalen Schulen, zusammen mit den Eleven anderer Familien aus internationalen, und, wie sie einem zu verstehen gab, vornehmen Kreisen. Für die letzten Jahre ihrer schulischen Erziehung war ihr Vater nun nach Deutschland versetzt worden. Die Dietrichs, nach einem von Antonia mit Augenzwinkern hin und wieder erneuerten Gerücht, mit der großen Marlene Dietrich verwandt, von der ich selbst nicht mehr kannte, als eines ihrer rau gehauchten Lieder und ihren Ruf, Männer um den Verstand zu bringen, was sich im wesentlichen auf ihre Rolle in der Verfilmung des Romans von Heinrich Mann bezog, von dem ich wiederum weniger wusste als von Marlene Dietrich, kurzum, die, wie ihren Namen, eine gewisse Aura der großen Welt umgab, welche sich bei uns nicht finden ließ (ich weiß von keiner Berühmtheit in unserer Stadt. Außer vielleicht einem Tennisspieler, der noch zu meinen Schulzeiten Abiturient war und einige Zeit danach durch seinen schnellen Aufschlag und seine direkte, unattraktive Spielweise einmal Wimbledon gewonnen hat und dann in die Bedeutungslosigkeit versank), diese Dietrichs aber zogen schon nach wenigen Jahren weiter, ohne Wurzeln geschlagen zu haben in unserer schwarzen Marsch-Erde, die so wichtig für die Milchbauern der Gegend ist, während die Geestbauern, auf Silagefutter angewiesen, lieber gleich bloß Kälbermast oder Sportpferdehaltung betrieben. Ich erinnere mich daran, dass Antonia die letzten Monate in Seester bereits nicht mehr bei den Eltern verbrachte, sondern, so glaube ich, bei ihrem Freund, Sven Priegnitz, einem Rechtsanwaltssohn aus den ersten Kreisen der Stadt. Sehr erwachsen, schon in der Schule von zu Hause auszuziehen. Eigentlich nicht wirklich vorstellbar. Das leben der Dietrich, ein Roman. Jene sogenannten ersten Kreise aber, soweit es sie eben gab in unserer Provinz, versammelten sich in den örtlichen Institutionen, dem Lions-Club, dem Lawn-Tennis-Club und dem Yacht-Club. Gezwungenermaßen musste auch Antonia sich damit zufrieden geben. Hauptsächlich durch Fleiß und vor allem Anpassung waren die Bürger dieser Clubs zu einigem Geld gekommen, ohne aber so recht etwas damit anfangen zu können, außer es in etwas direkter Weise zur Schau zu tragen, sich also im sogenannten Speckgürtel Hamburgs einzunisten. Ob es ihr schwergefallen war, sich einzufinden? Oder ob sie wusste, dass ihr in der Provinz alles gleich zu Füßen liegen würde?

Als Antonia auf unserer Bildfläche, der nordelbischen Tiefebene mit ihren tristen, hässlichen Kleinstädten, und der Hanse- und Handelsstadt Hamburg als selbsternanntes Tor zur Welt, erschien, wirkte sie tatsächlich als reine Erscheinung nicht bloß auf mich. Aus den Sommerferien, ausgefüllt durch viel Hitze und Langeweile, zurückgekehrt, der Wind schon schneidend kalt, fand die erste Stunde in irgendeinem Physikraum statt, jedenfalls zeigte das der neue Raumplan an, um den sich den ganzen ersten Schultag eine beständige Traube von Pennälern drängte. Ich fand zum angezeigten Raum, trat einen Schritt hinein, und wieder heraus, denn ich sah sie vorn mit dem Lehrer sprechen, mit Rehaugen so hübsch wie die von Audrey Hepburn beim Frühstücken auf der Fifth Avenue, einem unglaublich eleganten Rock in Herbsttönen, einem engen Burlington-Pullover mit Rautenmuster, kastanienfarbenen, leicht naturgewellten Haaren, und einer Herzlichkeit, die mich im nachhinein erstaunt, denn ihr musste sich zuvor beim Gedanken an ihre neue Heimat die Kehle zugeschnürt haben. Sie sah mich überrascht an, der ich mit einem hellbraunen Lederranzen unter dem Arm und in engen Jeans, die meine Beine unvorteilhaft dünn erschienen ließen, in der Tür stand, und ich schloss sofort, dass ich mich im Zimmer geirrt haben musste, ein Oberstufenkurs vielleicht, wahrscheinlich eine andere Welt lag hinter dieser Tür. Natürlich war es mir augenblicklich peinlich, von der Unbekannten bemerkt worden zu sein, wie mir eigentlich ständig alles peinlich war. Andere wären bei ihrem Anblick, und vor allem Angeblickt-Werden, einfach sofort auf sie zugegangen und hätten Bekanntschaft geschlossen. Andere, die nicht die Ungeschicklichkeit, die Verklemmung der Provinz in den Knochen gehabt hätten. In dem Moment rief mich irgendeine altbekannte Stimme in die Klasse hinein, nun wurde ich erst recht bemerkt, die Peinlichkeit vergrößerte sich. Antonia stand vorn, um sich beim Lehrer als neue Schülerin vor- und damit natürlich auch gleich gutzustellen. Sie tat es professionell, wo sie herkam tat man es eben so. Bei Beginn der Stunde stellte also der Lehrer wiederum sie der Klasse vor, und sie sagte auch ein paar nette Worte der Begrüßung. Einige meiner Freunde begafften sie mit einem so unverhohlen offenen Blick, dass es mir vorkam wie im Zoo, und natürlich war mir auch das peinlich. Antonia war also eine Schönheit, aber damit nicht genug, die wenigen Worte des Lehrers reichten aus, um den besagten Duft der weiten Welt bis in die letzten Winkel des Physikraums zu verbreiten. Zudem munkelte man bereits in der nächsten Pause, Antonia habe sich erbeten, mit den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern zusammengesetzt zu werden, wie es sich eben gehören würde für eine gute Eleve einer so angesehenen internationalen Schule wie der ihrigen. Sie seien im Stoff wohl schon um ein Jahr vorausgewesen, hatte sie angeblich gesagt, und es klang wohl etwas darin wie die gutmütige Befürchtung, diese Lücke könne an einer Provinzschule sowieso nie geschlossen werden. Noch auf der Treppe zum alten Trakt unserer Anstalt schlug mir also irgendwer hart auf die Schultern und behauptete, ich als guter Schüler, der bisher immer eben und ohne große Anstrengung sein Niveau halten konnte, müsse mich wohl jetzt warm anziehen und wieder einmal von einer Frau überholen lassen. Und was für einer! Antonia schloss schneller Freunde als das Licht und glänzte mit Anekdoten, lustigen norwegischen Floskeln, ja überhaupt konnte sie ein paar Brocken von jeder erdenklichen Sprache auf dem Globus. Auch daran musste ich denken, später, auf der betrunkenen Wiese, die lallende Antonia an meiner Seite hängend. Sie war, ich verstehe, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger genau warum, längst keine Schönheit mehr. Wie gesagt, die inzwischen dauergetönte Haut, die ihr als Mädchen noch wie die sprichwörtlich vornehme Blässe fein und hell im Gesicht stand, war stumpf geworden, beinahe fleckig. Ihr Haar hatte nach einem Blondierungsversuch nun ein unbestimmt hellbraunes Ocker angenommen, keine Spur mehr von der leicht rötlichen, dichten Kastanienfarbe. Ich bildete mir ein, eben dieser Eindruck müsse selbst eine Einbildung sein, und sie, Antonia, sei auch früher eben nicht so frisch und nobel gewesen, wie es meine Erinnerung behauptete. Aber später, beim Betrachten eines Klassenfotos, gleich neben den Bildern des Abiturjahrgangs gelegt, bestätigte sich jede Einzelheit meiner Erinnerung. Eine bildschöne Tochter aus gutem Hause lächelt dort noch immer fort, während sie seither in der Welt verschwunden zu sein scheint.

Bereits nach wenigen Stunden war sie zu sämtlichen Partys des nächsten Wochenendes eingeladen. Man muss sich das so vorstellen, dass die vornehmlich artigen Pennäler unserer zehnten Klasse, U IIa oder ausgesprochen "Untersekunda a" hauptsächlich unter sich verkehrten, vielleicht schüchtern ein paar Gesichter der Parallelklassen grüßend, im Wissen um die baldige Zusammenlegung zu einem Jahrgang. Aber niemand hatte ihnen je beigebracht, wie man auf Englisch so treffend sagt, Freunde zu machen. Die wenigen, die man hatte, waren ihnen gerade genug. Nicht so Antonia. Auf unseren gemeinsamen Schulgängen, von denen noch die Rede sein wird, sprach ich sie einmal direkt darauf an, dass sie wohl viele Freunde in den anderen Klassen hätte, worauf sie mit leicht nachdenklichem Blick auf den grauen Schnee, unsere Schulgänge währten einen dunklen Winter lang, entgegnete, eher an den anderen Schulen. Gemeint waren die "coole" Gesamtschule, sowie das angeblich "kulturelle" zweite Gymnasium, während wir als Leistungsanstalt galten. Antonia kannte tatsächlich bald die ganze Stadt, was ihre Anwesenheit in unserem Schulzimmer zu einer Art von Präsenz machte. Natürlich lag das auch an ihrer direkten, dabei aber unschuldigen Art, Leute in jedem Sinne des Wortes anzusprechen, noch immer mit einem leicht skandinavischen Akzent, außer im Englischen, der jedoch langsam blasser wurde und irgendwann verschwand. Ich konnte meine Gefühle ihr gegenüber, diese Liebe auf den ersten Blitzschlag, die ich mit aber auch wirklich allen anderen in meiner Umgebung teilte, die darum keinen Rest der privaten, schmerzhaften Bewunderung der schier Unerreichbaren hatte, und doch mit jenem ihr eigentümlichen, ziehenden, wehmütigen Schmerz im Bauch einherging, nicht verstehen. Ich kannte damals noch nichts anderes als dieses Verliebtsein, und hielt sogleich dieses Gefühl für die Sache selbst, ohne jede Ahnung von den Verwickelungen, Nuancen, Fallen und Irrwegen, die noch auf mich warteten. Antonia musste das alles bereits damals in- und auswendig gekannt haben, ja, es langweilte sie schon. Da war Sven Priegnitz, ihr Freund, allein der Name. Zwar schmal und nicht hoch von Wuchs, war er von einer auffallend interessanten Erscheinung, sehr fein, mit aristokratisch frisierten dunklen Haaren zu einem Jeans-Outfit, welches immer gerade dezent genug verwaschen, oder an den leicht über die Hacken hängenden Hosenbein-Enden angerissenen war, um lässig zu wirken. Dazu rote Turnschuhe aus den Fünfzigern, Chucks, nicht die Spur von jenem makellos Kalten, Peinlichen der achtziger Jahre. Sven, der deutlich erwachsener aussah, als wir waren, entstammte den Levi's-Werbungen, die mit Oldies von Sam Cooke, Jukeboxen und alten Cola-Automaten die Provinz, das heißt das Nicht-Amerika, beeindruckten. Ohne es zu bemerken, ahnte man, dass Sven bereits dem Trend von morgen entsprach, dass die Achtziger schon damals vorbei waren. Antonia kopierte den Jeans-Look, sie lief sich sogar absichtlich die Hacken der Hosen-Enden ab, in niedrigen Cowboystiefel-Chaussures.

In denen stand sie auch eines Morgens an der Ampel, der Herbst hatte den Schulweg bereits zu einer regnerischen, dunklen Bahn werden lassen, ich selbst trug meine hell türkisfarbene Daunenjacke mit dem Markenlabel am Arm, sie mochte wohl wegen ihrer Farbe heruntergesetzt gewesen sein, aber eine echte Markenjacke, peinlich, und sprach mich an. Ich stieg vom Rad, wir gingen dann das Kopfsteinpflaster zum Hafen hinunter, ich wusste nicht, worüber ich reden sollte, aber, wohl zu unser beider Überraschung, fanden wir bald Themen, wie das Leben in unserer Stadt, unsere Pläne für später, schließlich sogar Kunst, den Weg zur alten Kirche hinauf, an der Stadtbücherei und der Feuerwehrwache vorbei, die in die Allee zu unserer Schule, einem furchteinflößenden, alten Backsteinbau mit hohen Stockwerken, führte. Einige Tage darauf, zur gleichen Zeit, traf ich sie wieder, diesmal kurz hinter der Kirche. Schließlich achtete ich darauf, nicht wie üblich allzu spät von zu Hause aufzubrechen, einmal hetzte ich mich geradezu zur Schule, ohne Antonia Dietrich noch zu erwischen, dabei war sie erst nach mir an der Ampel gewesen. Nach der ersten Stunde fragte sie mich, warum ich nicht auf sie gewartet hätte. Das tat ich fortan, und unsere Konversationen wurden Institution. Sie kam mit dem Bus aus dem elterlichen Dorf, welcher nicht bis zur Stadtmitte fuhr, aber, wie ich irgendwann erfuhr, verbrachte sie wohl auch oft die Nacht bei ihrem Freund. Sobald wir den Klassenraum erreichten, trennten sich unsere Wege, und Antonia, die stets grüßend gegrüßt werdend über den Schulhof ging, auch von der Raucherecke der Oberstufe herüber, bewegte sich in einer anderen Welt. Zwar wartete sie zunehmend auch auf mich an der Ampel, aber in der Schule kannten wir uns dann wieder kaum. Die ersten zwei Stunden waren mittwochs immer Kunst. Antonia nahm ihre Sachen, wie ich, oft mit nach Hause, da sie zu ambitioniert waren, um während der zwei kurzen Stunden fertiggestellt zu werden. Sie konnte sehr gut zeichnen, meine Sachen gefielen ihr auch. In ihren Figuren und Bildern wollte ich mehr von ihr erkennen, als ihre bloße Oberfläche, die ja allen bekannt war. Man darf sich unsere Umgebung, ja, geradezu die ganze Zeit damals als eine unendliche Oberfläche vorstellen. Es gab nichts in unserer Welt, dem kein Markenlabel aufgenäht, kein Preisschild angeheftet war. Sven Priegnitz sammelte Swatch-Uhren, er hatte hunderte, darunter Sondereditionen mit dicken Kugelgläsern. Was er wohl heute damit macht? Ich habe ihn viel später, bei einem seltenen Besuch in Pinneberg zufällig in einer Kneipe sitzen gesehen, er ist also am Ort geblieben. Ich hatte nach langem Warten auch eine Swatch bekommen, die ich stolz in der Schule herumzeigte. Ein weiches Plastik-Armband, dunkelblau, das Zifferblatt in ebenfalls dunkelblauem Marmor-Look. In dieser Welt waren die Bilder aus dem Kunstunterricht wie Notausstiegsfenster. Ich bewunderte Antonia, die ständig zeichnete, jedes ihrer Schulhefte war ein Kunstwerk. Sie nahm das Zeichnen ernst, ergatterte sich ein Praktikum in einer Werbeagentur, bereitete eine Mappe vor, um sich an Kunsthochschulen zu bewerben. Ich wollte das auch tun, konnte mir aber so schlecht vorstellen, in die Stadt zu ziehen, mit den anderen Kunststudenten mithalten zu können, beim Feiern, beim Leben. Antonia hatte das alles schon längst gesehen, gelebt. Ich vergaß bei so viel Bewunderung, dass sie mit mir nur aus einem habituellen Muster verkehrte, als hätten sie ihre Eltern früh genug ermutigt, mit den besseren Schülern im Kontakt zu bleiben, und jetzt war es ihr zur zweiten Natur geworden, sich mit den Strebern nicht ganz schlecht zu stellen. Und das hatte begonnen, sie zu langweilen.

Irgendwann traf ich sie nicht mehr an der Ampel. Nach einem Monat sprach ich sie darauf an. Sie sagte, sie würde jetzt meistens einen anderen Bus nehmen, außerdem sei sie nicht mehr so viel bei ihren Eltern. Noch ein Jahr lang schaute ich mich jeden Morgen an der Ampel nach ihr um. Das Zeichnen wurde mir immer wichtiger, ich machte bald nichts anderes mehr. Dann begann die Oberstufe und die so genannten Klassenverbände wurden aufgelöst. Für Leute wie mich hieß das, ständig mit Unbekannten zusammen zu sitzen, um in den Pausen rastlos nach den eigenen Leuten zu suchen. Dabei gab es die eigentlich nicht. Vielmehr fanden sich innerhalb weniger Wochen Gruppen zusammen, in einer kurzen Zeit, in der alle zu allen freundlich waren, um in diese Gruppen aufgenommen zu werden, dann waren die Plätze verteilt, und erst bei Gelegenheiten wie der Wiesenfeier war es möglich, dass jemand wie Antonia sich an meinen Arm hängen konnte. In dieser kurzen Zeit des Anfangs passierte mir ein Missgeschick. Katja, eine sehr beliebte blonde Schönheit unseres Jahrgangs, die in Chemie vor mir saß, drehte sich nach dem Ende der Stunde relativ überraschend zu mir um und fragte mich etwas über den Stoff, den wir durchgenommen hatten. Die Frage war so dumm, so absolut überflüssig, dass ich dachte, sie wollte anfangen, sich etwas über mich lustig zu machen, und ich gab eine kurze, ironische Antwort. In der Tat handelte es sich aber um die einmalige Einladung, sie kennen zu lernen, die ich offensichtlich ausgeschlagen hatte. Sie drehte sich geradezu erbost um, ihre Freundin Melanie warf mir einen beleidigten Blick zu, und ich war fortan aus ihren Kreisen ausgeschlossen. Dieses lächerliche Ereignis ist, was mir nach Antonias seltsamer Bemerkung auf der Wiese einfiel. Ein ähnlich kurzer, seltsamer Moment. Hatte ich je wirklich die Chance, sie kennen zu lernen, die Antonias und guten Freundinnen Katjas, die Klatschbase Melanie und Sven Priegnitz? Wenn ich ein bisschen schneller geschaltet, mich ein bisschen besser hätte ausdrücken können?

Neulich habe ich in Osaka den Entwurf eines Bibliotheksgebäudes gesehen. Das Thema, welches man als digitale Kalligrafie bezeichnen könnte, und das alle Anspielungen auf europäische Bibliotheksarchitektur unterließ, gefiel mir. Unter den Architektinnen eines beteiligten Hamburger Büros sah ich den Namen Antonia Dietrich. Da fiel es mir plötzlich ein, ein kalter, sonniger Frühlingsmorgen, Antonia mit einer riesigen Mappe unter dem Arm, ich mit ein paar Skizzen in einer Papprolle, auf dem Weg zur Kunsthochschule, an einem Hamburger Fleet entlang. Es gab dort eine Sprechstunde, in der ein Professor sich die Mappen von angehenden Bewerberinnen und Bewerbern besah, sie kurz kritisierte und ein paar Tipps und Anregungen ins Gespräch warf. Antonia hatte mich überredet, dort vorstellig zu werden, sie wollte nicht allein gehen. Aus ihrer riesigen Mappe gefiel dem Professor nicht ein Stück. Zu comicartig, nicht genug farbige Arbeiten, immer dasselbe sei es. Uninspiriert. Die paar Sachen, die ich ihm hinhielt, sah er sich gründlicher an und nickte. Nicht schlecht, gar nicht übel. Antonia konnte ihre Enttäuschung auf dem Rückweg nicht verbergen. Aber wann war das gewesen? Wie alt waren wir da? Ich war nach dem Abitur kurz an der Kunsthochschule in Berlin, hatte dann aber bald hingeworfen. Seitdem reise ich umher, das hat sich so ergeben, ein Job hier zog einen anderen dort nach sich, Gelegenheitsarbeiten. Ich schaffe es nicht, irgendwo länger zu bleiben, obwohl ich es eigentlich gern würde. Ich sollte mich einmal hinsetzen und versuchen, Antonia aus dem Gedächtnis zu zeichnen.
 



 
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